Sonntag, November 28, 2010

Süsse Erdbeeren und bittere Nachrichten

Seit ein paar Tagen gibt es wieder Erdbeeren auf dem Markt: gross, tiefrot, süss und mit einem intensiven, herrlichen Geschmack. Voller Freude habe ich die ersten köstlichen Beeren gekauft und gegessen. Sie sind ein himmlischer Genuss.

Doch das Land, in dem diese süssen Früchte schon im November gedeihen, bringt vor allem bittere Nachrichten hervor.
Seit Monaten intensivieren sich die Schikanen gegen Kopten. Der letzte Vorfall, der den Weg in die Presse gefunden hat: unter dem Vorwand, sie hätten keine Bewilligung, wurden Kopten an den Arbeiten zum Aus- bzw. Umbau einer Kirche in Kairo gehindert. Sie protestierten. Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften: zwei Tote, zahlreiche Verletzte und über 150 Gefangene. Die Proteste dauern an, die Präsenz der Sicherheitskräfte ebenfalls.
Kopten wehrten sich im Vorfeld der heute stattfindenden Parlamentswahlen, wie bis anhin für die herrschende NDP zu wählen. Bei früheren Wahlen wurden den Kopten Versprechungen gemacht, die nie eingehalten wurden. Papst Shenuda hat nun aus Protest für die Opposition gewählt.
Schon seit Wochen gibt es im ganzen Land Zusammenstösse zwischen Befürwortern der allherrschenden NDP und Oppositionellen aller Richtungen. Fernsehstationen wurden geschlossen, Chefredakteure von Oppositionszeitungen ausgetauscht, Mitglieder der grössten Opposition – den verbotenen Muslimbrüdern – und anderer Gruppierungen behindert oder festgenommen. Blogger wurden unter fadenscheinigen Anschuldigungen von zuhause abgeholt und hinter Gitter versorgt, kritisch berichtende Internetseiten abgeklemmt. Demonstrationen werden mit brutaler Hand auseinandergetrieben und oft gibt es Tote und Hunderte von Gefangenen.
In den vergangenen Tagen hat sich die Situation zugespitzt. Ein Reporter von Al Jazeera wurde gehindert, über die Situation in Suez zu berichten und sitzt im Gefängnis, Wahllokale wurden verriegelt, um die Einwohner von der Stimmabgabe abzuhalten. Oppositionelle wurden von Sicherheitskräften gehindert zu wählen und Wahlurnen wurden zerstört oder manipuliert und ausländische Wahlbeobachter nicht zugelassen. Die Bürger haben eine Vereinigung von unabhängigen Wahlbeobachtern eingerichtet, die nun über massive Wahlmanipulationen und Übergriffen von Sicherheitskräften berichten.
Gestern fand in ganz Unterägypten ein „Tag des Zorns“ statt. Aktivisten haben aufgerufen, um sieben Uhr abends während 30 Minuten schwarz gekleidet am Strassenrand zu stehen, zu hupen, zu pfeifen oder aus den Fenstern mit irgendeinem Gegenstand Lärm zu machen. Ein Zeichen des Zorns gegen die Nicht-Einhaltung der Menschenrechte und Missstände in diesem grossen Land am Nil.

Von all dem bekomme ich in Hurghada nicht viel mit. Vielleicht steht etwas mehr Polizei herum, gibt es etwas mehr Polizeikontrollen, als sonst. Aber das fällt bei der grossen Präsenz von Sicherheitskräften nicht wirklich auf. Doch wenn ich meine roten Erdbeeren esse, schmecke ich auch eine gewisse Bitterkeit darin.

Mittwoch, November 17, 2010

Mit der Dahabeya "Albatros" auf dem Nil

Eine Nilkreuzfahrt ist der Traum vieler Reisenden. Ruhe, Sonne, die Annehmlichkeiten eines Hotelservices und der Besuch von archäologischen Stätten, Tempeln in Begleitung eines Guides, aber auch der Einblick in die archaische Landschaft und Lebensweise der Oberägypter locken jährlich Millionen von Besuchern auf den Nil.

Als wir in Luxor die Wohnblockgrossen Kreuzfahrtschiffe in Dreierreihe am Quai sehen, sind wir froh, dass wir uns nicht für so eine Reise entschieden haben. Nein, uns erwartet eine wunderschöne, stilvolle Dahabeya. Das sind die ursprünglichen Reiseschiffe aus edlem Holz, mit riesigen Leinen-Segeln und ohne Motor. Dahab heisst Gold auf Arabisch. Es wird erzählt, dass die erste Dahabeya mit Gold verkleidet war und wohlhabende Ausländer damit Fahrten auf dem Nil unternahmen. Momentan verkehren um die vierzig Dahabeyas mit unterschiedlichem Komfortstandard auf dem Nil.


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In Esna gehen wir über einen Holzsteg an Bord. Unsere staubigen Schuhe werden in einen Korb gelegt, ein Willkommenstrunk von Steward Tarek gereicht. Das Oberdeck lädt zum Verweilen ein: mehrere Sitzgruppen, bequeme Liegen, Tische und Stühle sind arrangiert.
Die Kabinen sind sehr geschmackvoll eingerichtet, alles ist vorhanden, was für einen angenehmen Aufenthalt benötigt wird. Im dunkelrot gehaltenen Salon kann man sich vor der Hitze fliehen, in Büchern schmökern oder einen Film ansehen.

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Die erste Nacht ist unruhig und laut, obwohl oder besser, weil wir in Esna angetäut sind. Es ist Aid El Adha, Opferfest, und die muslimische Bevölkerung ist bis weit in die Nacht hinein am Feiern. Nach dem Frühstück spazieren wir zu Fuss dem Nil entlang und durch eine schmale Gasse zum Tempel von Esna, der mitten in der Stadt steht. Neun Meter tiefer unter uns steht er wie in einem riesigen Sandkasten – Jahrhunderte war er im Sand vergraben und Esnas Häuser darauf gebaut geworden. Nun führen Treppen hinab zum Tempel, errichtet von den Ptolemäern und Römern zu Ehren von Knuhm.
Allzu gerne würde ich in die Seitengassen von Esna gehen, mich treiben lassen durch dieses Gewirr von Gassen, bunt getünchten Häusern und zerfallenen Mauern, wo Menschen hineinverschwinden, Kinder lärmend hervorstieben und sich Unsichtbares verbirgt. Hin und wieder sind Paläste aus der Kolonialzeit zu erkennen, schöne Fassaden, reich geschmückte Fensterrahmen, einstige Schönheiten, dem Lauf der Zeit überlassen und verfallen.
Kurz vor Mittag kehren wir zur Dahabeya zurück und während wir uns erfrischen, segelt die Dahabeya gemächlich südwärts. Das ruhige Gleiten auf dem berühmten Strom, die Hitze und die wechselnde Landschaft machen uns schläfrig, weshalb wir uns nach dem Mittagessen ausruhen.

Später legen wir mitten im Nirgendwo an und gehen erneut an Land. Ein staubiger Sandweg dem Nilufer entlang führt uns zu Feldern, wo wir einen Überblick über die Landwirtschaft am Nil erhalten. Klee, Zuckerrohr, Kartoffeln, Bananen, Erdnüsse und vieles andere mehr wird hier angebaut. Die Fellachen begrüssen uns freundlich und halten in ihrer Arbeit inne. Sie sind gekleidet wie eh und je: Kaftan und Turban, die meisten barfuss. Nicht nur die Landschaft, sondern auch die Menschen scheinen aus einer anderen Epoche zu stammen: Ägypten, wie es vor 100 Jahren war, aber auch vor 1000 oder 2000 Jahren. Frauen und Kinder sind keine zu entdecken, aber Esel und eine altertümliche Wassermühle. Tief beeindruckt ducken wir uns unter den Bananenbäumen hindurch, kauen an Zuckerrohrstücken und kehren in der Dämmerung quer über die Felder und Wassergräben zur Dahabeya zurück.

Jedes Mal wenn wir nach einem Ausflug zurück aufs Boot kommen, erwarten uns helfende Hände, die uns über den Steg führen, und Tarek, der uns einen erfrischenden Fruchtsaft anbietet.
Es ist wie im Kino: die fruchtbare Uferlandschaft des Nils zieht an uns vorbei, Palmen heben sich von den gelbrötlichen Bergen im Hintergrund ab, hin und wieder streifen wir ein Dorf, eine Siedlung am Ufer, sehen an einem Berghang eine Ansammlung von Häusern, blicken auf Nilinseln, wo zahlreiche Vögel nisten. Andere Kreuzfahrtschiffe ziehen an uns vorbei, weitere Dahabeyas kommen uns entgegen oder begleiten uns.

Für die Nacht wird unsere Dahabeya  wieder im Nirgendwo am Nilufer befestigt. Später zelebrieren wir das Abendessen auf dem Deck und lassen den Tag mit leisen Gesprächen und stillen Blicken in die Nacht ausklingen.

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Anderntags müssen wir uns nach dem Frühstück beeilen. Früh gehen wir bei einem Dorf an Land. Buben bieten einen Ritt auf dem Esel an, Mädchen lächeln uns erwartungsvoll an: für ein paar Münzen lassen sie sich fotografieren. Männer und Frauen begrüssen uns, die männliche Jugend mustert uns kommentierend und Zigaretten rauchend – wie überall auf der Welt, einzig mit dem Unterschied von Sprache, Kleidung und Hautfarbe. Auf dem Dorfplatz spielen Kinder Fussball, andere wiederum begleiten uns auf unserem staubigen Weg. Das Dorf wird von einem hohen, mehrere Tausend Jahre alten Schutzwall gesäumt. Dahinter breitet sich eine grasbewachsene Ebene aus, wo einst Gräber oder Tempel waren. Wir steigen zu den Nekropolen von El Kab hinauf. Nicht nur die Inschriften und Malereien dort sind erstaunlich, sondern auch die Aussicht über die Ebene: deutlich ist erkennbar, wie schmal der grüne Gürtel entlang des Nils ist. Daneben weitet sich die heisse, trockene Sahara aus.

Wir gehen zurück ins Dorf. Erstaunt sehen wir einfache, aber saubere, liebevoll dekorierte Häuser, mit einladenden Bänken unter einem Schatten spendenden Baum. Was mir jedoch weniger gefällt, ist die Entwicklung, die der Tourismus hier nimmt. Es tut mir weh zu sehen, wie die Kinder um Geld oder Süssigkeiten betteln, die Frauen ein enttäuschtes Gesicht ziehen, weil wir keinen dieser kitschig bemalten, geflochtenen Körbe kaufen mögen. Ich frage mich, was diese einfachen Menschen für einen Eindruck von uns Touristen haben mögen und meine Antwort darauf gefällt mir nicht. Immer und überall nimmt der Tourismus eine ähnliche, verderbliche Entwicklung und niemand versucht, dies mit begleitenden Massnahmen zu verhindern oder abzufedern. Überhaupt erinnere ich mich beim Anblick dieser Landschaft, der Dörfer und der Menschen an andere Länder in der Karibik und in Südamerika. Die Bilder gleichen sich… erschreckend… für mich zumindest.

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Unsere Dahabeya bringt uns weiter stromaufwärts nach Edfu. Meistens werden wir von unserem Begleitschiff – einem Lastkahn – gezogen, da es windstill ist. Nach dem üppigen Mittagessen - diesmal als Buffet - besteigen wir eine Calèche, die uns quer durch die Stadt zum Edfu Tempel bringt. Der Gaul ist knochig und wir bemitleiden ihn, die Kutsche holpert gefährlich. Doch ich wähne mich im Lande Allahs – er wird uns wohl beschützen.
Der riesige Tempel aus der griechisch-römischen Zeit war dem Gott Horus geweiht worden und stelle erfreut fest, dass ich sein Gegenstück im vergangenen Winter in Denderah – damals auf eigene Faust – besucht hatte: jener war seiner Gattin, der Göttin Hathor geweiht worden. Unser Reiseleiter erklärt, dass der Horus Tempel der zweitgrösste Ägyptens ist – nach Karnak in Luxor. Die Dimensionen sind eindrücklich, die Bilder, Säulen, Räume und Nebenräume ebenso.

Für die kommende Nacht legen wir an einer Insel an und geniessen nach einem weiteren ausgezeichneten Abendessen eine ruhige Nacht, vom Gesang einer Nachtigall begleitet.

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Etwas später als an den Vortagen treffen wir uns am Frühstücksbuffet – der heutige Tag soll etwas gemächlicher sein. Erst gegen 11 Uhr gehen wir an Land, nur wenige Schritte eine steile Böschung hoch, besichtigen wir einen weiteren Tempel am Gebel El Silsila. Ein schöner Sandweg führt uns hoch über dem Nil zu einem alten Granitsteinbruch. Aus den Felsen wurden nicht nur Quadersteine für Tempel in ganz Oberägypten gehauen, sondern auch kleine Nischen für die Götter. Dieser Spaziergang ist landschaftlich besonders reizvoll, denn das Ufer ist nicht flach und Palmen bestanden wie bis anhin, sondern Meterhohes Schilf weht im Wind und gold-ockerfarbene Felsen säumen das Ufer. Der Nil scheint hier blau – der Kontrast zu den Felsen ist zauberhaft.

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Der Nachmittag gehört uns. Ursprünglich war ein Bad im Nil vorgesehen gewesen. Unser Kapitän hat einen schönen Platz mit Sandstrand angefahren. Das Wasser ist hier glasklar und die Hitze lädt zu einem Sprung ins kühle Nass ein. Doch die grossen Nilkreuzschiffe vermiesen uns das Vorhaben: sie ziehen an diesem Tag so zahlreich und schnell vorbei, dass das Wasser zu stark aufgewühlt wird und nicht mehr wirklich einladend wirkt. Schade.
Wir fahren weiter südwärts, hinein in die Nacht und lassen den Tag bei einem landesüblichen Abendessen und oberägyptischer Musik ausklingen. Unsere Crew ist wirklich vielseitig: sie halten die Dahabeya auf Kurs, putzen täglich alles blitz blank, richten unsere Kabinen heimelig her, zaubern schmackhaftes Essen auf den Tisch und singen und tanzen zu unserer Unterhaltung!

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Früh stehen wir wieder an Deck – morgens ist es frisch um diese Jahreszeit, auch wenn es tagsüber noch weit über 30 Grad Celsius heiss wird. Nach dem Frühstück bringt uns eine Art Jeep nach Kom Ombo, wo wir den Griechisch-Römischen Tempel besichtigen. Dieser symmetisch angelegte Tempel ist ungewöhnlicher weise zwei Göttern gewidmet: Sobek und Horus. Die Stätte ist grosszügig und wunderschön gelegen. Fasziniert wandern wir durch Säulenhallen und Tore, betrachten die Bilder, Reliefs, Säulenkapitele, Malereien und Zeichen und lauschen den Erklärungen unseres Reiseführers.


Am Ausgang erwartet uns der Jeep wieder:  es ist ein Fahrzeug, das die Einheimischen wie einen Bus einsetzen und Fahrgäste noch Platz auf der rückwärtigen Stossstange finden.

Wir sitzen selbstverständlich gesittet auf den seitlichen Bänken und fahren zum Kamelmarkt. Trotz früher Stunde sind ausser ein paar Schafen nicht mehr viele Tiere zu sehen. Wohl deshalb, weil der dritte Tag des Opferfestes ist und die Menschen anderes zu tun haben, als Vieh zu handeln. Wir gönnen uns einen Spaziergang durch die Gassen und sehen uns am Gemüse- und Früchteangebot satt.

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Wind kommt auf und: wir segeln! Endlich segeln wir mit unserer Dahabeya! Unser ständiger Begleiter, der Lastkahn hat sich davon geschlichen und uns dem Wind überlassen. Es ist herrlich, unter den riesigen Segeln zu stehen, dem Wasser zu lauschen und den Blick auf die immer noch faszinierende exotische Landschaft gleiten zu lassen.


Lange darf unsere Freude leider nicht währen: am Horizont zeichnet sich immer deutlicher die weite Spannbrücke von Assuan ab. Dahabeyas dürfen da nicht weiter und bald machen wir am Ufer fest. Wir klettern zu unserem Lastkahn hinüber und lassen uns am anderen Ufer absetzen. Per Minibus fahren wir nach Assuan.
Wieder auf einem Boot, diesmal einer motorisierten Feluke, fahren wir in den Ersten Katarakt des Nils hinein. Ein weiteres begeisterndes Naturschauspiel bietet sich uns: schwarze Granitfelsen liegen weich glänzend im dunkelblau schimmernden Wasser und bilden Inseln. Meterhohes Schilf bietet geschützten Pflanzen und Vögeln eine Heimat. Palmen und Akazien spenden grosszügig Schatten. Wir tuckern zwischen den Inseln hindurch und staunen schweigend über diese unerwartete Schönheit. Hinter dem westlichen Ufer erheben sich goldgelbe Sandberge. Einen solch wunderschönen Platz hat sich Aga Khan III ausgesucht und eine Villa und sein Mausoleum errichten lassen. Als wir anhalten, lasse ich es mir nicht nehmen und besteige barfuss einen dieser Sandhügel. Bei jedem Schritt rutsche ich in dem goldigen, puderfeinen Sand etwas zurück – doch der Ausblick über den Katarakt ist atemberaubend.


Später spazieren wir durch eines der zahlreichen nubischen Dörfer, die hier nach der Stauung des Nils neu errichtet worden waren. Die Dörfer sind völlig anders angelegt als in Mittel- oder Unterägypten - Wasser und Felder sind Gemeingut - und die Häuser wunderschön bunt bemalt.

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Wir verbringen unseren letzten Abend auf dem Boot, einmal mehr bei einem ausgezeichnet  zubereiteten Abendessen. Wehmut liegt in der Luft, denn niemand von uns hat wirklich Lust, diese Insel von Ruhe und Beschaulichkeit morgen früh zu verlassen.

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Trotzdem werden unsere Koffer an Land gebracht und wir verabschieden uns von der aufmerksamen Mannschaft der Dahabeya. Der letzte Tag in Assuan (als Zusatzprogramm gebucht) lässt uns nochmals staunen. Wir besichtigen den berühmten Tempel Philae – er wurde vor den Fluten des Nils Steinquader für Steinquader, Säule für Säule, auf eine hundert Meter entfernte Insel gerettet und wieder aufgebaut. Die Lage ist ein Traum und ich glaube, dass Göttin Isis damit mehr als glücklich sein wird. Einziger Wehrmutstropfen: der Tempel muss riesige Besucherströme über sich ergehen lassen.


Der nächste Halt findet auf der Staumauer des riesigen Nasser Sees statt. Die schiere Grösse des Sees spricht für sich: sechs tausend Quadratmeter Oberfläche, eine Länge von fünfhundert Kilometern… Über fünfzigtausend Nubier wurden umgesiedelt und zahlreiche historische Tempel und Stätten sowie Zeugen der nubischen Kultur sind für immer in den Tiefen dieses gewaltigen Sees verloren. Mit ausländischer Hilfe und unter der Leitung der UNESCO wurden einige Tempel und Stätten gerettet und an anderer Stelle wieder errichtet – der berühmteste ist wohl der Tempel in Abu Simbel. Respekt vor diesem Kraftakt – doch was richtet Menschenhand alles an?
Unser Reiseleiter begleitet uns zu einem Steinbruch, wo ein unvollendeter Obelisk im Granit klebt. Wäre er fertig geworden, wäre er mit seinen zweiundvierzig Metern der längste aller Obelisken geworden – doch er wies einen Riss auf und wurde deshalb zurück gelassen.
Zum Abschluss unserer Reise besuchen wir das Nubische Museum in Assuan. Das Museum wurde von der UNESCO ausgezeichnet. Wenn ich nochmals nach Assuan fahre, was ich sehr hoffe, werde ich mir einige Stunden nur für dieses Museum reservieren: informativ und wunderschön dargestellt wird die Geschichte und Kultur dieses Volkes erläutert, das ihre angestammte Heimat verlassen musste. Die Ausstellung weckt in mir den Wunsch, mehr darüber zu erfahren.
Nach einem Mittagessen in einem typisch ägyptischen Restaurant in einer Seitenstrasse Assuans verlassen wir Assuan wieder Richtung Norden.

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Informationen über eine Reise mit der Dahabeya „Albatros“ und Angebote sind zu finden auf: www.dahabeya-albatros.com.

Sonntag, November 07, 2010

Aussichten vom Velosattel

Ohne Velofahren kann ich nicht sein. Schon seit Jahren schleppe ich entweder mein Mountainbike oder mein Rennvelo samt Zubehör überall dorthin, wo ich mich länger als fünf Tage aufhalte. So haben  mich meine Zweiräder schon nach Sizilien, nach Südfrankreich und in alle möglichen Ecken Italiens begleitet und ich habe damit wunderbare Aussichten und Erlebnisse genossen.

Die Welt lässt sich vom Fahrradsattel aus ganz anders betrachten, denn sie entwischt dem Blickfeld nicht so rasch wieder wie zum Beispiel beim Zug- oder Autofahren. Sie lässt sich aber auch riechen und fühlen, was ganz angenehm, unter Umständen aber auch ziemlich mühsam sein kann. Rückblickend bleiben jedoch immer beglückende Erinnerungen, egal wie kalt, heiss, stürmisch oder anstrengend es während der Fahrt gewesen sein mag.

Rennvelofahren in Ägypten kann ich mir – alleine als Frau – ausser in Hurghada absolut nirgends vorstellen. Trotzdem bietet es  allerhand Herausforderungen, die bestimmt nicht Jedermanns oder Jederfraus Sache ist.


Woran ich mich zuerst gewöhnen musste, ist die unerwünschte und allgegenwärtige, allumfassende Aufmerksamkeit, die ich ständig errege. Anfangs hat mich das genervt, inzwischen kann ich damit umgehen. Die Männer - Frauen sehe ich praktisch keine und wenn, dann lächeln sie mir zu oder starren durch mich hindurch - hupen wie wild, rufen und schreien mir aus dem Fenster etwas zu – es ging lange bis ich begriff, dass sie damit ihre Bewunderung ausdrücken! Das machen aber nicht nur Autofahrer sondern auch die Chauffeure der schweren langen Lastwagen. Und jene der kleinen Lastwagen, den langsamen und den schnellen. Und die Pickup-Fahrer. Und die Töff-Fahrer. Wenn sie wüssten, wie sehr mich diese Huperei und Schreierei erschreckt und stört! Oft strecken die Fahrer ihre Faust mit erhobenem Daumen aus dem Fenster oder winken damit im Auto, sodass ich es durch die Rückscheibe sehen muss. Am Strassenrand winken sie, klatschen, zeigen ebenfalls den Daumen und rufen von weitem „Hallo“ oder „Mabrouk“! Manchmal muss ich lächeln, nicke jemandem zu… manchmal denke ich aber einfach, dass ich diese Kommentare gar nicht brauche, nicht danach gefragt, nicht darum gebeten habe und eigentlich nur meine Ruhe will. Das sind dann die Momente, wo mir wieder bewusst wird, dass ich in einer anderen Kultur lebe und etwas mache, was für Frauen äusserst ungewöhnlich ist.


Wo fahre ich? Gewiss nicht im Zentrum, wo der Verkehr hektisch und unübersichtlich ist. Ich bemühe mich frühmorgens aus dem Bett und fahre hinaus auf die Überland- und Ringstrassen oder Autobahnen – wie man will. Dort sind die Fahrzeuge zwar schneller unterwegs, doch es ist bei weitem weniger gefährlich als nahe den Siedlungen, Kreuzungen und Abzweigungen. Natürlich gibt es Wahnsinnige, die mit 150 km/h und schneller an mir vorbei rasen, dumme Überholmanöver an meiner Seite, sodass ich schier im Sand (Strassengraben gibt es nicht) lande und erst mal ein paar Verwünschungen ausstosse. Trotzdem fühle ich mich dort sicher und oft fahre ich längere Zeit einsam durch die Wüste, lasse meinen Blick zu den nahen Bergen, den sich in der Ferne drehenden Windmühlen, dem silbern glitzernden Meer oder dem plötzlich auftauchenden Grün schweifen. Es gibt allerhand zu entdecken: wildernde oder überfahrene Hunde, Tonnenweise Abfall aller Art, brennende Öl- oder Gasfackeln, ein Grundwassersee, an dem zahlreiche Vögel leben, Brackwasser, wo sich Schilf im Wind wiegt, pinkelnde Lastwagenfahrer, masturbierende Buschauffeure, arbeitende und campierende Geologen, wunderschöne Hotelkomplexe, Altmetallsammler auf Eselkarren, einen Checkpoint mit viel Personal und Panzersperren, Lastwagen, die alle paar Meter ihre Abfallsäcke abwerfen, Privatwagen, die unter dem aufs Dach aufgetürmten Gepäck fast zusammenknicken, Pickups voller Bananenstauden und vieles Undenkbares mehr.


Kürzlich sah ich weit von der Strasse, mitten im Sand, einen Mann mit einem Kind. Hand in Hand gingen sie einher, wer weiss wo hin. Mir war schleierhaft, was sie dort draussen taten, denn dort gibt es weit und breit weder eine Behausung noch Arbeit, allenfalls ein paar Dornbüsche. Trotzdem berührte mich der Anblick. Als mich das Kind entdeckte, rief und winkte es, der Vater hob es hoch, damit ich es auch bemerken würde. Ich winkte zurück und hatte das Gefühl, das Kind hatte eine Riesenfreude. Eine Sekundenbegegnung zweier fremder Welten, die sich nie werden berühren…


Eine Zeit lang begegnete mir der immer gleiche Eselkarren: der Vater hielt die Zügel des knochigen Grauen, der schielende Junge sass dahinter auf dem Karren zwischen grossen Plastiksäcken. Er lachte mir entgegen und wir winkten einander wie alte Bekannte zu, wenn ich vorbei fuhr.
Letzten Winter und Frühling hauste auf dem sandigen Mittelstreifen, gegenüber dem Nil-Krankenhaus, ein Obdachloser. Seine wenigen Habseligkeiten hatte er immer in einem Halbkreis um sich aufgebaut. Je nach Uhrzeit sass er neben seinem Gaskocher oder lag noch in Decken gehüllt in der Welt der Träume. Plötzlich wurde genau dort die Strasse aufgerissen und eine provisorische  Umleitung eingerichtet. Inzwischen ist die Strasse längst wieder normal befahrbar, aber der Obdachlose ist verschwunden. Ich denke noch oft an ihn und frage mich, was wohl aus ihm geworden ist.


 
Im Frühjahr war ich wie oft schon, auf der Verbindungsstrasse zwischen Innerer und Äusserer Ringstrasse unterwegs. Das mache ich besonders dann, wenn der Nordwind gar stürmisch bläst, denn die Verbindungsstrasse verläuft Ost-Westwärts, oder wenn ich zu faul bin, um mehr als eineinhalb Stunden zu fahren. Damals im Frühling also, bereits auf dem Rückweg, sah ich doch tatsächlich… nein, unmöglich…. aber doch: da kam mir doch tatsächlich ein… ja! ein Velofahrer entgegen! Ich traute meinen Augen kaum, verlangsamte mein Tempo, querte die Strasse und fuhr dem Velofahrer entgegen. Dieser entpuppte sich als Velofahrerin mit einem roten langen geflochtenen Haarzopf: eine Schwedin auf ihrem Triathlon-Rad! Ich weiss nicht, was grösser war: meine Überraschung oder meine Freude. Auf jeden Fall freundeten wir uns rasch an und bestritten von da an einige Ausfahrten  gemeinsam. Sussie verliess Hurghada wieder im Juni, kehrte aber im Oktober zurück und nun strampeln wir hie und da wieder miteinander durch die Wüste. Das macht nicht nur mehr Spass, sondern wir haben auch festgestellt, dass wir zu zweit mehr Gewicht im Verkehr haben. Somit ist zum Beispiel das Wechseln der Strassenseite zu zweit viel einfacher. Und auffallen, tja, das tun wir ja sowieso.

Doch das ist natürlich nicht alles. Da gibt es noch die wilden Hunde. Sie erschrecken mich nach wie vor, wenn sie plötzlich hinter einem Sandhaufen oder aus einem Mauerschatten laut bellend hervorstieben. Insgesamt komme ich aber klar mit ihnen: wenn sie gar zu aggressiv sind, halte ich an, steige ab – dann ziehen sie nämlich den Schwanz ein und verduften. Doch während der ersten paar Monate hatte ich mich jeweils mit zwei Steinen bewaffnet, um mich wehren zu können. Ich habe gelernt, dass sie mehr Angst vor mir haben, wenn ich zu Fuss gehe. Allerdings ist ihr Tempo äusserst beeindruckend, wenn sie beinahe über die Wüste fliegen, einem mir unbekannten Ziel entgegen, niemals einsam, immer im Rudel.


Eine weitere Herausforderung stellen die Scherben dar. Zu allem Abfall, der illegal deponiert wird, gesellen sich unzählbare Scherben: von Bier-, Wein- und Sektflaschen. Oder ganzen Fensterscheiben. Nicht selten ist sogar erkennbar, wo der Alkohol getrunken worden war, wer die Flaschen „entsorgt“ hat und manchmal möchte ich mich fast dafür schämen, denn es sind auch europäische Einrichtungen. Ich muss höllisch aufpassen, um nicht alle paar Kilometer mit einem platten Reifen zu stranden.

Die grösste Gefahr droht jedoch von den ägyptischen Fahrzeug-Fahrern. Mit Ausnahme der Flughafenstrasse, wo täglich scharfe Radarkontrollen erfolgen und empfindliche Bussen verteilt werden, fahren sie schlichtweg wie Vollidioten. Es wird „geblocht“, was der Motor hergibt. Es werden Geschwindigkeitsrennen veranstaltet, egal, wie viele Passagiere in einem Bus sitzen. Da fahren Minibusse oder Lastwagen mit einem Abstand von nur einem Meter bei weit über 100 km/h hintereinander oder parallel zueinander her – und haben eine Riesengaudi dabei. Wechselt ein Fahrzeug die Spur, wird überholt, von einer Seitenstrasse ein-, oder von der Hauptstrasse abgebogen – keiner kümmert sich um den restlichen Verkehr, keiner sieht in den Rück- oder Aussenspiegel. Überholt wird rechts, links oder mitten durch – grad so, wie es sich ergibt. Der Stärkere zählt und das ist derjenige mit der lautesten Hupe und den meisten PS. Hupen ist deshalb so wahnsinnig wichtig. Im Schnitt hupt ein Taxi- oder Minibusfahrer alle fünf Sekunden. Für Rennvelofahrerinnen ist deshalb überlebenswichtig: vorausschauend fahren, d.h. auch für die Ägypter mitzudenken und ihre überraschende Fahrweise und abrupten Bremsmanöver abzuschätzen, obwohl dies eigentlich unmöglich ist (zumindest für ein europäisch geschultes Hirn). Nur deshalb hat mich nicht schon längst ein blinder Buschauffeur seitwärts über den Haufen gefahren und konnte ich bisher knapp einem Zusammenprall mit einem drei Meter vor mir stoppenden Taxi oder Minibus vermeiden. Übrigens habe ich festgestellt: die besten und rücksichtsvollsten Fahrer sind die Überland-Lastwagenfahrer. Die gefährlichsten sind die Touristenbusse…. Leider.
Natürlich gibt es auch „anständige“ Autofahrer… doch sie gehen in dem Chaos leider unter und deshalb verallgemeinere ich hier und werfe alle Ägypter in den gleichen Topf.

Und das Wetter? Im Sommer ist es heiss und ich versuche dem auszuweichen, indem ich spätestens um sechs Uhr früh auf dem Velo sitze, was nicht immer einfach ist. Frühling und Herbst sind angenehm von den Temperaturen und im Winter kann es schon mal bitter kalt werden, besonders wenn der eklige Nordwind bläst. Dann trage ich auch mal zwei warme Sportunterhemden, ein Halstuch, Wintertrikot und Dreiviertelhosen sowie einen Kopfschutz. Letzten Winter, am Tag des grossen Regens, tröpfelte es morgens leicht aus dunkelgrauen schweren Wolken. Ich musste lachen, hörte die Tropfen auf meinem Helm, spürte sie in meinem Gesicht und hatte diesen bekannten Duft in der Nase, ein Gefühl wie zuhause! Der heftige Wind kann manchmal auch ein Nachteil sein: ich musste schon wegen Sandhosen und Sandstürmen umkehren und die herumfliegenden Plastiksäcke sind manchmal auch eine Gefahr.


Trotz allem tut es gut: ich bewege mich, kann meine Gedanken fliessen lassen, kenne Hurghada auf einer Strecke von ca. 60 km bestens. Ich habe auch eine absolute Lieblingsstrecke: zum Checkpoint hinauf, weiter über die Hochebene, Richtung Safaga. Die gute Strasse zieht sich schnurgerade südwärts. Von dort oben sieht man auf das ruhige Meer hinab und landeinwärts zieht sich eine Bergkette parallel zur Strasse hin. Einen markanten Berg habe ich „Matterhorn“ getauft. Ich war mit dem Rad schon in El Gouna, in Makadi und in Sahl Hasheesh, wurde ohne Probleme eingelassen. Für die kühlere Jahreszeit und sofern die Windverhältnisse passen, habe ich mir weitere Ziele gesetzt; Sussie wird mich begleiten. Manchmal kann ich es noch immer nicht glauben, dass wir hier zu zweit als Frauen seelenruhig durch die Wüste rollen…






Umgefallen

Mit schweren Schritten und noch schwereren Gedanken gehe ich die Strasse zu meinem Wohnblock hoch. Es ist schon fast elf Uhr nachts, komme soeben vom Früchte- und Gemüsemarkt in Dahar.

Aus den Augenwinkeln sehe ich im Halbdunkel Etwas, das sich bewegt. Ich sehe genauer hin, bleibe stehen, traue meinen Augen kaum. Da liegt ein Mann mittleren Alters kopfabwärts unter dem Gebüsch, am Strassenrand, halb auf dem Trottoir, halb auf der Strasse. Er macht seltsame Bewegungen. Ich trete näher zu ihm hin, frage, ob er Hilfe brauche. Er murmelt etwas, rudert weiterhin mit seinen Armen und Beinen herum, fällt dann plötzlich wieder auf den Rücken. Ich frage ihn, ob er Russe sei. Ja und stottert etwas von „Police“. Ich versuche ihn aufzurichten. Es geht nicht. Ich lege meine Einkäufe auf die Strasse und packe ihn mit beiden Armen. Endlich steht er, doch er schwankt, droht wieder umzufallen. Er stinkt wie ein Fass Vodka. Ich will ihn hinunter zu den Läden führen, wo Männer sind, Leute, die vielleicht Russisch sprechen, doch ich habe keine Chance. Er fällt wieder um, liegt auf dem Rücken im Dreck. Sein Hemd ist aus der Hose gerutscht, der Gürtel hält die viel zu weite Hose um seinen klapperdürren Körper kaum fest. Er stöhnt, krächzt „Laura“, „no, no, no“.

Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, auch meine ägyptisch-russischen Nachbarn nicht, die sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Balkon stehen. Ich lasse ihn liegen und gehe alleine hinunter zu den Geschäften. Der erste junge Mann, der mir begegnet spricht Russisch und kommt sofort mit mir zurück zu dem Betrunkenen. Er redet Russisch auf ihn ein, erfährt, dass er in El Kawthar wohnt, versucht ihn ebenfalls auf die Füsse zu stellen, mit weniger Erfolg. Er holt ein Auto – einen nigelnagelneuen schwarzglänzenden VW Passat. Mittlerweile ist ein weiterer Ägypter zu uns gekommen und die beiden Männer heben den Mann ins Auto. Der Russe behauptet, er wüsste, wo er wohne. Das Auto verschwindet hinter der Kurve.

Der Ägypter meint, das sei der Grund, weshalb er Alkohol hasse. Für mich denke ich aber, dass dahinter eine ganz andere Geschichte steht, eine menschliche Tragödie. Ich bin schockiert. Meine sonst schon trüben Gedanken werden noch finsterer. Traurig schliesse ich meine Wohnung auf und lasse die Türe hinter mir ins Schloss fallen.