Dienstag, September 28, 2010

Was übrig bleibt

Ganz kurz nur hat er seinen Dienst getan: er wurde fabriziert, um irgendeinen Einkauf zu halten: Pommes Chips, Sandwiches, Milch, ein Eis. Er ist nicht sehr kräftig, aber doch genügend fest, um ein paar Kleinigkeiten zu tragen, damit diese nicht auf die Strasse purzeln. Nun wurde der kleine weisse Plastiksack zusammen geknüllt und achtlos auf die Strasse geworfen. Dort rollt er sich hin und her, sucht halt an einem Stein, einem Zaun.

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Etwas abseits steht eine grosse schwere Mülltonne. Sie ist offen, einen Deckel hat sie nicht, braucht sie nicht, denn es regnet ja nicht. Sie steht an einem blöden Ort: am Ende einer steilen Strasse, die sich im Fels verliert. Der Sand rutscht den Abhang herunter, herumliegender Abfall und Scherben erschweren den Zugang und nachts bewachen streunende Hunde mit lautem Gebell ihre Spiel- und Nahrungsquelle. Solche Mülltonnen gibt es einige im Quartier.

Auch grosse graue Plastikkübel gibt es. Ideal platziert, nie weit von einem Hauseingang entfernt und doch weit genug, damit der Gestank nicht stört. Trotzdem liegen manche Kübel am Boden, Abfall türmt sich in, auf und um die Kübel herum auf. Katzen freuen sich darüber.

Und da sind auch diese ausgemergelten Männer, ihre Gesichter sind eine unergründliche Faltenlandschaft, dunkelblaue Overalls bedecken ihre knochigen Gestalten, ihr Turban ist aus wenigen Quadratzentimetern Stoff gewickelt. Sie schieben einen Kübel auf Rädern samt Reisigbesen vor sich her. Oder lassen ihn nicht weit von sich entfernt stehen. Sie wischen die Strassen, sammeln Unrat ein. Selten sieht man sie bei der Arbeit, oft sitzen sie auf dem Trottoir im Schatten und rauchen.

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Ein Müllmann nimmt den zusammen geknüllten Plastiksack auf und wirft ihn in seinen Kübel. Dort liegt er auf Plastikflaschen, Zigarettenkippen und Blechbüchsen. Weitere Plastiksäcke gesellen sich zu ihm, Glasflaschen und Pizzaschachteln erdrücken ihn. Nach einigen Tagen wird der Kübel ausgeleert, in einen grossen Metallcontainer. Fast könnte der Plastiksack mit dem Wind entwischen – doch schon wird er von anderem Unrat festgehalten.

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Einmal täglich – meistens – kommen die Zabaleen, die Müllsammler. Auf einen viel zu kleinen Lastwagen wird ein Teil des Abfalls geladen. Der Fahrer bleibt in der Führerkabine sitzen, zwei weitere Männer sortieren den Abfall: einer der beiden wählt aus dem Container mit blossen Händen aus, was auf den Lastwagen darf. Er reisst Abfallsäcke auf, entnimmt Karton, Plastik, Kleiderreste, Metall und anderes Verwertbares und reicht sie dem zweiten Mann hinauf auf die Ladefläche. Oben werden Kartone gefaltet und fein säuberlich am Rand der Lade verstaut – praktisch, denn somit kann das Fassungsvermögen enorm erhöht werden. Alles andere wird in verschiedene hellblaue Säcke auf dem Lastwagen verteilt. Organische Abfälle wie abgeschnittene Äste, verwelkte Blumen oder Palmwedel bleiben liegen. Ebenso Speisereste. Seit es in Ägypten keine Schweine mehr gibt, sehen die Zabaleen auch keine Möglichkeit, Lebensmittelreste zu verwerten. Die aus den Abfallsäcken befreiten Plastiktüten, Schächtelchen und Papierreste werden vom Wind über die Strasse gewirbelt, verheddern sich in Buschwerk und an Gartenzäunen und suchen sich den Weg überall dorthin, wo sie nicht hin gehörten.

Wenn die Zabaleen da waren, sind Container und Kübel meistens leer, dafür ist rundherum ein riesiges Chaos. In der Nacht wühlen Hunde und Katzen an den Resten, zerren sie quer über die Strasse, kämpfen um Speisereste.

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Mit einem heftigen Ruck wird der Container gekippt, plötzlich fühlt sich der kleine weisse Plastiksack befreit: ein Windstoss erfasst ihn, hebt ihn hoch, lässt ihn durch die Luft wirbeln! Diese unerwartete Freiheit irritiert ihn… wo soll er denn hin? Ziellos tanzt er in die Höhe, lässt sich herabfallen, treibt knapp über der Strasse dahin, weicht einem Busch aus und gewinnt wieder an Höhe. Am liebsten würde er jauchzen vor Freude, so herrlich ist es, sich mit dem Wind treiben zu lassen.

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Im Halbdunkel sind manchmal auch Männer zu erkennen, die über den Container gebeugt den Abfall durchwühlen… Wonach suchen sie? Essbarem? Fühlen sie sich beobachtet, senken sie den Blick, drehen sich um und gehen weg.
Gut gekleidete Herren lassen frühmorgens oder spätabends ihre Abfallsäcke an der Rückseite des Wohnblocks stehen oder ganz einfach mitten auf dem Trottoir! - und gehen in Seelenruhe weiter…

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Doch abrupt wird sein stilles Juchzen abgewürgt. Der Plastiksack hat sich in den Ästen eines hohen Baumes verfangen, der Wind drückt seine Schlaufen in verschiedene Richtungen, der Sack droht zu zerreissen, wehrt sich, flattert, zittert noch eine Weile, doch der Wind ist stärker.

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Alle paar Wochen verschafft ein riesiger Bagger vorübergehend Abhilfe: seine gierige Schaufel lädt alles auf einen grossen Lastwagen, was seit Wochen liegen blieb: Scherben, Knochen, Büchsen, verdorrtes Blattwerk, Stofffetzen, Steine, Sand. Danach sieht es für ein paar Stunden sauber aus – einzig die an Gartenzäunen und in Büschen hängen gebliebenen Plastiksäcke bleiben zurück.

Sonntag, September 26, 2010

Verstörende Erkenntnisse

„Es ist ein Schnäppchen, eine einmalige Chance, sieh Dir’s an!“

Habe ich gemacht. Eine kleine Wohnung in einer Wohngegend, die noch im Aufbau begriffen ist. Eine Zukunftsinvestition – der Preis überraschend tief.

„Wo ist der Haken?“ war sofort meine Frage. Er braucht dringend Geld. Cash. Hinter jedem Verkauf steht eine Geschichte…

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Ein lauer Wind bläst die letzte Hitze fort. Jetzt ist es endlich angenehm, draussen zu sitzen. Sieben oder acht sind wir, sitzen in einem bekannten Kaffee in El Memsha, treiben vorerst Smalltalk. Wie immer sitze ich am falschen Ort: der unvermeidliche Shisharauch bläst mir ins Gesicht.

Da ist die vielleicht gut fünfzigjährige Holländerin. Sie verwaltet Villen und Wohnungen und hat jede Menge Kontakte quer durch Hurghada. Und Erfahrungen. Schon an unserem ersten Treffen hat sie von sich erzählt. Ihr Exfreund schlug sie, betrug sie, sperrte sie ein, lockte sie gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn in einen Hinterhalt und schlussendlich war sie alle Mieteinnahmen eines Monats, ihre Laptops samt Buchhaltung und Kontakten, persönliches Bargeld und Schmuck los. Exfreund und Schwiegersohn sitzen für drei Monate im Gefängnis. Sie hat Angst vor dem, was nachher kommt. Heute Abend ist sie die harte Geschäftsfrau, die Käufer und Verkäufer zusammen bringt.

Da ist eine Österreicherin in meinem Alter, erst seit einem Jahr hier. Schickt mir ihr Töchterlein zum Französischunterricht. Und will mir unbedingt helfen. Warum nur? – frage ich mich verwundert.

Ihr ägyptischer Freund hat sie beim Hausumbau und der Einrichtung beraten. Die Registrierung beim Grundbuchamt hat er in viereinhalb Monaten erreicht – andere warten Jahre. Er hat Preise heruntergehandelt, die sonst doppelt so hoch sind oder das Dreifache betragen. Diese Erfahrung will er mir weitergeben – nicht gratis natürlich.

Und da ist noch das belgische Ehepaar, vielleicht Mitte fünfzig, das seine Wohnung verkaufen will. Irritiert bemerke ich, dass ein ägyptischer Jüngling bei ihnen ist. Sicher wegen den Dokumenten – denke ich mir. Sie können kein Arabisch, da braucht es eine Hilfe, auf die man sich verlassen kann. Rasch fällt mir aber auf, dass er sich wie ein Hündchen verhält, wie seltsam…

„Weisst du, ich muss mich operieren lassen. Ich habe Krebs. Einen Tumor im Kopf. Stabil. Es eilt nicht, aber je früher ich das machen lasse, umso besser. Und in Belgien gibt es keine Spezialisten dafür. Ich muss deshalb ins Ausland und dafür brauche ich Geld. Viel Geld.“ Mein Mitleid regt sich. Armer Tropf. „Und trotzdem rauchst du weiter?“ staune ich.

Seine rundliche, freundlich dreinschauende Frau sieht und hört nur zu. Sie sagt fast nichts. Erst als ich sie auf Französisch anspreche, erwidert sie lebhaft meine Fragen.

Ihr Mann zeigt mir die Papiere, gibt mir allerhand Informationen über die Wohnung, die finanziellen und nervlichen Investitionen. Er war an falsche Anwälte geraten und es dauerte zwei Jahre und viele Euros, bis er alle Papiere beieinander hatte. Trotzdem will er die Wohnung mit einem grossen finanziellen Verlust verkaufen.

Andererseits erzählt er, dass er hier in Ägypten erfolgreich Geschäfte betrieben habe – aber nun alles Geld verbraucht habe. Wie tragisch.

Inzwischen ist noch ein ägyptischer Vertrauter gekommen. Ich bin erleichtert, muss ihn aber fast nötigen, sich zu uns zu setzen. Ich lege es so aus, als dass er nicht stören will. Damit irre ich mich aber gewaltig.

Irgendwann ist alles gesagt, der Belgier wendet sich immer wieder seinem Hündchen neben sich zu, ich beachte ihn gar nicht, sehe ihn auch nicht, hatte ihn nicht mal begrüsst, denn er wurde mir nicht vorgestellt. Sie verlangen die Rechnung, bezahlen, man verabschiedet sich. Ich verspreche, mich innert Wochenfrist zu melden, falls ich mich zu einem Kauf entscheide.

Und Tschüss. Erleichterung.

Ich sehe die Österreicherin an. „Das stimmt gar nicht, zu mir hat er gesagt, er brauche Bargeld für ein Geschäft“ klärt sie mich auf. Er hat gelogen. Wieder einer, der mit meinen Gefühlen, meinem Mitleid spielt. Er braucht es wohl eher für etwas anderes.

Als ich meinen Vertrauten um seine Meinung bitte, bricht es aus ihm heraus. Er ist angewidert, bezeichnet ihn mit Ausdrücken, die ich nicht wiederholen kann. „Er hat ihn geküsst!!“

… Und seine Frau sass daneben!

Die Österreicherin und ich sitzen völlig verstört da. Ihr Freund lacht nur: „Vielleicht machen sie’s zu Dritt!“

„Hast du denn keine Lebenserfahrung? Wo lebst du denn?“ muss ich mir anhören. Doch, doch, habe ich. Aber die Anhäufung von Randexistenzen, Kriminellen und anderen rechtlosen Individuen, wie sie hier auftritt, verlangt eine Neuordnung meines Weltbildes… bevor es endgültig auseinander zu brechen droht.

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Wie gesagt, hinter jedem Verkauf steht eine Geschichte…

Montag, September 20, 2010

Einfach zum Lächeln

Wenn ich zum Einkaufen gehe, bemühe ich mich redlich, meine Wünsche in Arabisch zu formulieren. Je nach Geschäft und Ansprechpartner folgt dann die Antwort auf Englisch. So geht das dann hin und her – der Ägypter redet Englisch, das noch himmeltrauriger ist als mein Arabisch, und ich antworte mit meinem miesen Arabisch.

Irgendwie laufen alle Gespräche nach folgendem Muster ab:

Ich (in Arabisch): Guten Tag, ich hätte gerne dieses oder jenes. Oder: ist XY da?
Er (in Englisch): Guten Tag, ja, haben wir. Oder: nein. Oder: ich weiss es nicht.
Ich (in A): Wann ist es erhältlich oder wann kommt XY?
Er (in E): Morgen, In’scha’allah.
Ich (in A): Kannst Du bitte Arabisch mit mir sprechen?
Er: Wohnst Du hier? (mit viel Glück dann endlich in Arabisch)
Ich: Ja.
Er: Wie lange schon?
Ich: Seit dann und dann.
Er: Bist Du verheiratet?
Ich: Ja.
Er: Mit einem Ägypter?
Ich: Ja.
Er (wieder in Englisch): Oh, er ist ein glücklicher Mann!
Ich (weiterhin in Arabisch): danke.

Und künftig werde ich noch anfügen: ich werde es ihm (meinem fiktiven arabischen Ehemann) sagen.
Lächelnd verlasse ich das Geschäft. Ich habe zwar weder das gewünschte Produkt noch die nötige Auskunft erhalten, aber der Verkäufer hat das Beste aus der Situation gemacht: er hat mich einfach zum Lächeln gebracht!

Samstag, September 18, 2010

Abreisetag

Es gibt Augenblicke oder Situationen, in denen mir besonders bewusst wird, dass ich wirklich weit ab von meiner Heimat lebe. In einer anderen Kultur, einem anderen Kontinent.
Vor einigen Tagen war wieder so ein Moment. Es war Freitag, eine Woche nach Ende des Ramadans. Im Anschluss an den Ramadan wird tagelang gefeiert und gefestet, jede Familie zelebriert das auf ihre Art und Weise. Und viele fahren in die Ferien. Nach Hurghada zum Beispiel.
Hurghada und andere ägyptische Feriendestinationen am Roten Meer und am Mittelmeer sind bei den Einwohnern der benachbarten arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien / Emirate / Kuwait) wegen ihrer relativen Freizügigkeit und Sittenfreiheit, aber natürlich auch wegen des Klimas, sehr beliebt. So bricht während den islamischen Feiertagen, den grossen Ferien und zum Jahreswechsel hin jeweils eine Welle von Besuchern von dort über Hurghada herein. Die Angestellten der Hotels verzweifeln schier über den herrischen Befehlston und die masslosen Ansprüche der Saudis. In den Strassen herrscht blankes Chaos, dicke Bonzenwagen stehen überall dort, wo sie im Weg sind, schwarz gekleidete Frauen mit Gesichtsschleier, üppigem Schmuck und teurem Schuhwerk spazieren im Kreis ihrer Sippe abends durch Strassen und Fussgängerzonen.
Am vergangenen Freitag fuhr ich zufällig per Bus am Hafen vorbei. Ein riesiges Fährschiff ankerte schon seit Tagen dort. Die Strasse war zweispurig mit wartenden Autos belegt und behinderte den normalerweise flüssigen Verkehr: riesige moderne Geländewagen, altertümliche Familienkarossen, sündhaft teure europäische Personenwagen, ungepflegt, verbeult, völlig verschmutzt, überladen, innen mit wichtigen Habseligkeiten vollgestopft, auf dem Dachträger meterhoch Koffer und Kartons festgezurrt. Die Insassen waren hinter verdunkelten Fensterscheiben versteckt, doch da und dort waren tief verschleierte Frauen, schwitzende übergewichtige Männer mit Baseballmützen und zahlreiche Kinder zu erspähen.
Ich entzifferte die Autoschilder: „Saudia“ in arabischer Schrift, „KSA“ Kingdom of Saudi Arabia, Kuwait… Ferne exotische Länder, mit der Fähre nach Dubai innert Stunden erreichbar. Ein Hauch Orient in Gedanken… doch die Wirklichkeit vor mir sah anders aus. Die Rückreisewelle der nicht sonderlich beliebten Gäste hinterlässt vor allem eines: Erleichterung.
Überall standen Tagelöhner herum, sah sie selten so zahlreich. Manche streiften sich mitten auf der Strasse einen orangen Overall über, andere orange Männer standen wartend am Hafeneingang. Mein Bus zwängte sich durch die wartenden Autos und Tagelöhner hindurch, ich erhaschte einen Blick auf die riesige Fähre. Erinnerungen an eine Überfahrt von Genua nach Sizilien wurden wach, versuchte zu vergleichen… Wie es wohl auf dieser Fähre da zu und her gehen mag? Wenn all diese Leute dort ihre Kabinen bezogen haben und sich lärmend ausbreiten? Nach all dem, was ich bisher in diesem Land gesehen habe und weiss? Oh…

Mein Bus fuhr weiter, ich sass inmitten dieser Männer und Frauen und fühlte mich plötzlich als Teil von ihnen, in Sicherheit, fast geborgen. Lieber hier als dort… Auch Abneigung verbindet… Ich liess meine Gedanken und Vorstellungen lieber hinter mir im Chaos des Hafens zurück. Aufs dunkelblaue Meer hinaus blickend, schüttelte ich leise den Kopf…