Mittwoch, März 30, 2011

Kairo im März 2011

Zum dritten Mal packte ich den Wintermantel aus – jedes Mal hatte ich gemeint, ich würde ihn nicht mehr brauchen. Letztes Mal trug ich ihn zum abendlichen Einkauf in Hurghada, zusammen mit einer Wollmütze! Nicht im Dezember… nein: Anfang März. Hej, ich bin in Nordafrika – nicht am Nordpol!

Jetzt also musste der Wintermantel für die Fahrt im Bus nach Kairo herhalten und für die dortigen Abendtemperaturen. Ich war froh darüber - und habe mich trotzdem böse erkältet.

Kairo = Ägypten. Zumindest sagen die Ägypter das in ihrer Sprache so. Wenn sie von Kairo reden, sagen sie Ägypten und meinen die Stadt. Das Herz, die Lunge des Landes. Diese war wie immer: laut, geschäftig und dreckig. Ich habe mir ein Hotel im Stadtzentrum ausgesucht. Ein über hundertjähriger Bau, dessen Glanzzeiten leider ein paar Jahrzehnte zurück liegen. Trotzdem lassen Architektur und Anordnung der Zimmer noch erahnen, was es einst dargestellt haben mag. Wie schade. Doch das ist Ägypten: einstige Pracht und Schönheit sind Vergangenheit. Das Hotel ist in eine Strassenecke gebaut und der Eingang befindet sich auf der Rückseite. Welch Überraschung, als ich nach hinten gehe: rund um einen bepflanzten Platz gruppieren sich mehrstöckige Häuser, ein kleines Kaffee mit Schischa-rauchenden Männern zwängt sich in ein Gässchen. Der Strassenlärm drängt nur gedämpft um die Häuserecken zu der winzigen Oase.

Im Zimmer habe ich mich dann aber schon gefragt, ob ich bei dem Geräuschpegel überhaupt schlafen würde können. Ägypter sind abends und nachts besonders aktiv und auf Strassen und Trottoirs herrscht kurz vor Mitternacht ein heilloses Gedränge und geschäftiges Treiben. Die Revolution kam mir rettend entgegen: die Ausgangssperre ist noch immer von Mitternacht bis sechs Uhr morgens gültig. Gegen ein Uhr morgens wird es auch tatsächlich überraschend still und bis kurz vor Mittag bleibt dies so – mit Ausnahme der Gebetsaufrufe der Muezzin. An die habe ich mich aber schon seit Jahren gewohnt.

Am meisten war ich neugierig auf den Tahrir Platz. Zehn Minuten Fussmarsch trennten mich von dem weltberühmt gewordenen Platz. Ich war schon einmal dort, als ich das ägyptische Museum besuchte und früher, als ich vom Bahnhof Ramses nach Alexandria fuhr. Ein Alptraum von Platz, Verkehrsstaus, Gehupe und schwarzen Auspuffwolken. Lag es an der frühen Tagesstunde? Jedenfalls war der Verkehr flau und es war einfach, die Strassen in alle Richtungen zu überqueren. Da und dort verkaufen Ägypter Revolutions-Souvenirs. Mein Liebling ist ein Aufkleber in Grösse und Form eines Autoschildes mit der Aufschrift „25. Januar“. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, lächle ich – typisch Ägypter. Ausländische Touristen konnte ich während meines Aufenthaltes kaum entdecken. Aber viele Ägypter besuchen den Platz, machen Fotos und kaufen Erinnerungsstücke. Vor der kafkaesken „Mugaamma“ (einem Wahnsinnslabyrinth in einem Riesengebäude, wo fast die gesamte ägyptische Bürokratie untergebracht ist und täglich zehntausende von Ägyptern ein- und ausgehen) erstand ich ein ägyptisches Fähnchen, das ich an mein Rennvelo befestigen werde. Krass empfand ich den Anblick vom lieblichen Rosa des ägyptischen Museums und dem vom Feuer geschwärzten Hauptsitz der NDP. Später habe ich das Gebäude auch von der Rückseite gesehen. Ein paar Fotos sind weiter unten zu sehen.

Im Zentrum Kairos fällt auf, dass an vielen Stellen die Pflastersteine der Gehsteige fehlen und der Fussgänger über Sand gehen muss. Die Pflastersteine wurden als Wurfgeschosse gegen Demonstranten verwendet…

Vieles ist noch nicht so, wie es sein sollte. Mein Begleiter machte mich jedoch auf etwas sehr wichtiges aufmerksam: er konnte mich überall hin begleiten. Wir gingen ins koptische Kairo, besuchten koptische und katholische Kirchen, eine Synagoge und Moscheen. Kein Polizist hielt uns an, niemand fragte meinen Begleiter aus, niemand verlangte einen Ausweis. Vor der Revolution wäre dies unmöglich gewesen und der Zutritt zu vielen Stätten wäre ihm kategorisch verwehrt gewesen. Oft genug habe ich erlebt oder beobachtet, wie Ägypter – egal ob allein oder in (ausländischer) Begleitung – sich ausweisen und Rechenschaft über ihre Vorhaben geben mussten. Nur, um dann abgewiesen zu werden. Schikane. Arroganz pur. Das ist Vergangenheit.

Ich besuchte altehrwürdige, berühmte Kaffees und eine von Schweizern gegründete Buchhandlung. Ich trank frisch gepressten Orangensaft in einer Seitengasse, wo Früchte und Gemüse angeboten werden und gleichzeitig mit dem Presslufthammer die Strasse aufgerissen wird. Weder die Händler noch die Arbeiter liessen sich von ihrem Treiben irritieren – im Gegenteil: man nahm gegenseitig so gut wie möglich Rücksicht.

Ich liess das Treiben von fliegenden Händlern und Schuhputzern auf mich wirken, ich beobachtete junge Paare, wie sie Hand in Hand durch die Strassen schlenderten… vor nicht allzu langer Zeit war dies nur in Hurghada und Sharm möglich.

Zu meinem Erstaunen empfand ich die Stadt diesmal nicht mehr so beängstigend und bedrohlich. Ich habe schon ähnliche Megacities besucht, alleine. Liegt es daran, dass ich den Lebensstil und die Mentalität besser verstehe? Ich weiss es nicht. Jedenfalls kam mir Kairo bei diesem Besuch nicht mehr so fremd und riesig vor – sondern nur als eine aus allen Nähten platzende, ständig am Abgrund fuchtelnde und kurz vor dem Absturz sich festklammernde Ansammlung von 20 Millionen Menschen, die es aus nicht mehr logisch nachvollziehbaren Gründen täglich schafft, den Infarkt einen weiteren Tag hinaus zu schieben.

Vom Hotel zur Busstation (ein Fussmarsch von 10 Minuten) benötigte mein Taxi sage und schreibe eine halbe Stunde! Wäre Kairo nur nicht gar so laut und verschmutzt – ich käme öfters. Aber das werde ich sowieso tun – ausser im Sommer.


Tahrir Platz

Türe der "Hängenden Kirche"


Mitten in Kairo

einstiger Sitz der NDP
auch mitten in Kairo

Donnerstag, März 24, 2011

Schritt zur wirtschaftlichen Normalisierung

Gestern wurde erstmals seit 27. Januar 2011 wieder an der Alexandria und Kairo Börse der Handel aufgenommen. Der Index fiel um 10%, worauf der Handel ausgesetzt wurde, und erholte sich dann auf knapp Minus 9%.

Verkäufer waren offenbar vor allem ausländische Investoren.

Ich glaube, die Börse wäre noch länger geschlossen geblieben, wenn nicht Morgan Stanley Druck ausgeübt hätte, EGX vom MSCI zu nehmen. Gut, funktioniert das wieder. Die Verluste sind auch nicht so tragisch, wie in anderen Ländern nach solch einem Aufruhr. Erwartet wurde ein 20 bis 30% Absturz. Ok, er kann noch auf Raten kommen. Ausserdem haben die ägyptischen Jugend-Aktivisten schon während den Aufständen ihre Landsleute aufgefordert, Zertifikate zu zeichnen oder Aktien an der EGX zu kaufen, um den EGX zu stützen. Ob dieser Aufruf befolgt wird, weiss ich nicht…

Mich betrifft dies nicht direkt. Was mich jedoch betrifft, ist der massive Wertverlust des ägyptischen Pfunds.

Gestern las ich aber auch noch eine andere Nachricht: die Regierung (welche denn???) hat ein Gesetz erlassen, wonach Streikende oder Personen, die zu Aufruhr, Streiks oder Protesten aufrufen, mit einer schmerzhaften Busse belegt werden können. Das fühlt sich nicht nach Demokratie an und hat mich schockiert. Die Regierung bzw. der Armeerat wollen, dass das Land endlich wieder zu Ruhe kommt, die Wirtschaft wieder ihren Lauf nehmen kann und dass all die anderen grossen Aufgaben in Angriff genommen werden können. Aber ob das das richtige Mittel ist?

Heute Nachmittag fahre ich ins Herz dieses Landes und werde dort den „Puls erfühlen“.


Mittwoch, März 23, 2011

Vorurteile und Wirklichkeit

Ist sie offen? Ein grosses Schild „OPEN“ hängt an der Türe. Das sagt allerdings nicht viel aus – vergessen die Verkäufer doch beim Abschliessen oft, das Schild umzudrehen. Ich schaue das Türschloss an und drücke die Türe sanft auf… sie geht auf.

Innen ist es dunkel. Halb in der Apotheke stehend, noch die Türe haltend rufe ich laut „Hallo!“. Keine Antwort. Lauter nochmals „Hallo?“. Nichts. Der Laden ist verwaist, alles ist fein säuberlich aufgeräumt, Medikamente und Hygieneprodukte stehen im Regal, in der Vitrine. Hier könnte sich jeder selbst bedienen und ohne zu bezahlen gehen.

Ich drehe mich um und gehe hinaus, stehe einen Moment unschlüssig vor der Apotheke und überlege, wo die nächste ist, der ich vertraue. Da taucht aber der Apotheker auf, grüsst mich und geht vor mir in die Apotheke hinein. Ich spreche ihn darauf an, dass man sich hier ja bedienen könnte, wenn er nicht da ist und die Türe nicht abgeschlossen sei. Seine Antwort darauf war ganz simpel: alles, was ich nehmen würde, würde mir nur schaden.

Wie Recht er hat.

„Trau nie einem Araber“, sagte eine in Sharm El-Sheich lebende Westeuropäerin. Solche Pauschalverleumdungen machen mich wütend. Sie sind falsch und ungerecht.

Doch genau an diese Worte habe ich mich heute wieder erinnert. Wer solche Aussagen macht, qualifiziert sich selber.


Montag, März 21, 2011

77% Ja zu den Verfassungsänderungen

Die Wahlbeteiligung war so hoch, wie ewig nicht mehr – nämlich 41% - und die Menschen standen in sengender Hitze bis zu drei Stunden geordnet und gesittet an. Letzteres ist den Ägyptern üblicherweise ziemlich fremd, sie drängeln am liebsten alle gleichzeitig, wobei jeder das Gefühl hat, er sei der Bedeutendste aller Wartenden und verdiene eine bevorzugte Behandlung.

Über das Ergebnis dieses Referendums bin ich nicht glücklich. Es widerspiegelt aber wahrscheinlich den Zustand des Landes: das Heer der Analphabeten und schlecht Gebildeten hat Ja gestimmt. Die Muslimbrüder haben wacker Propaganda betrieben: wer Nein stimme, stimme gegen den Koran. Natürlich gab es auch überzeugte Befürworter. Und es gab auch Einschüchterungen und ein paar Fälschungen – die Krake wehrt sich noch immer.

Die Minderheit der Gebildeten hatte dagegen keine Macht. Aber man kann es ja auch anders sehen: es ist ein Fortschritt gegenüber der Mubarak-Zeit. Aber ob er reicht? Die nächsten Wochen und Monate werden es zeigen. Ich hätte es mir wirklich anders gewünscht; ich habe kein gutes Gefühl.

Von meinem (momentan kleinen) Bekanntenkreis hat jeder anders abgestimmt: einer mit „Ja“, weil er die Wirtschaft so rasch wie möglich normalisiert sehen will. Einer mit „Nein“ – er ist Kopte und hat Angst vor der Macht der im ganzen Land bis ins hinterste Kaff vertretenen Muslimbrüder. Ein weiterer hat nicht abgestimmt, weil er sich nicht entscheiden konnte. „Ja“ passte ihm nicht, wegen den Muslimbrüdern, „Nein“ stimmte für ihn auch nicht.

Nachruf zu "Der alte Mann und sein Land"

Ich hatte zwanzig Minuten Zeit, bevor ich bei meinem jüngsten Schüler sein sollte und wollte etwas trinken. Momentan sind die Temperaturen hier so richtig wohlig: die Sonne ist zwar schon kräftig, aber es ist noch nicht zu heiss, nicht mehr zu kalt, ein angenehmes Lüftchen weht, der Himmel ist klar, die Sicht auf Inseln und Berge gut. Einfach herrlich!

In El Memsha setzte ich mich auf der Schattenseite in ein Strassencafé mit Blick aufs Meer und bestellte einen frischen Orangensaft. Als der Kellner endlich damit kam, begrüsste ich ihn erfreut: ich erkannte Refaat, der vorletzten Winter in Mubarak 2 gearbeitet hatte. Ich fragte nach seinem Befinden.

Und ich fragte nach Salah. Der alte Mann, der so erschüttert war über den Zustand seines Landes. Während den Aufständen in Ägypten und nach Mubarak’s Rücktritt hatte ich mich oft gefragt, wie er wohl diese Ereignisse beurteilen würde. Ob er wieder nach Katar zurückgekehrt sei oder in Alexandria lebte. Den Kontakt zu ihm hatte ich aus persönlichen Gründen abgebrochen.

Doch Refaat’s Miene wurde ernst: „hoa matet“ – er ist gestorben. Offenbar einen Monat nach seinem letztjährigen Geburtstag, zu dem er mich eingeladen hatte.

Ich war schockiert. Er, der mir so oft voller Stolz von dem Ägypten der fünfziger und sechziger Jahre erzählte und voller Enttäuschung von dem Land, in dem er jetzt seinen Ruhestand verbrachte. Er durfte die Aufstände und die damit verbundene Hoffnung auf Demokratie nicht mehr erleben. Ich hatte letztes Jahr immer wieder voller Überzeugung gesagt, dass es im 2011 Änderungen geben würde, dass ich zuversichtlich sei. Er durfte nichts mehr davon erfahren. Wie schade.


Samstag, März 19, 2011

Referendum in Ägypten

Heute, am 19. März 2011, fünf Wochen nach Mubarak’s Rücktritt, dürfen Ägypterinnen und Ägypter erstmals seit mehreren Jahrzehnten über ein Referendum abstimmen. Es geht um die Verfassungsänderungen, die eine Übergangsphase bis zu Präsidenten- und Parlamentswahlen einleiten soll.

Doch die Änderungen sind ein Flickwerk; innert zehn Tagen ausgearbeitet, werden sie von allen Oppositionsgruppen, Juristen und unabhängigen Präsidentschaftskandidaten abgelehnt. Einzig die Muslimbrüder und die Überbleibsel der einst allmächtigen NDP sind für die Änderungen. Gestern fuhren Autokorsos durch Hurghada, die mit grossen weissen Plakaten beklebt waren. Darauf standen die zwei Buchstaben „LA“ - „Nein“.

Wenn ich wählen dürfte, würde ich auch Nein stimmen. Die Verfassung lässt noch zu viel Macht beim künftigen Präsidenten, auch wenn darin klar ausgedrückt wird, dass die gewählte Regierung innert 60 Tagen eine neue Verfassung ausarbeiten muss. Das kann bös ausgehen. Ich habe mich nicht tiefgehend mit diesen Verfassungsänderungen auseinandergesetzt, aber ich sehe zwei Gründe, um (theoretisch) dagegen zu stimmen: Erstens: Art. 2, der noch immer das islamische Gesetz (die Scharia) über alles stellt und zweitens: die kurze Frist reicht für eine wirkliche Meinungsbildung in der Bevölkerung bei weitem nicht aus. Dem Vernehmen nach haben vereinzelt Islamisten das gestrige Freitagsgebet dafür genützt, Propaganda für eine Zustimmung zu den Verfassungsänderungen zu machen.

Erstmals haben die Leute hier intensiv, offen und ohne Angst diskutiert. Das muss man sich mal vorstellen! Auch wenn viele nicht wussten, was sie stimmen sollten – das Bewusstsein, dass jeder erwachsene Bürger eine Stimme hat, macht die Menschen stolz!

Ich hoffe, dass die Mehrheit dagegen stimmt. Dann wird die Übergangszeit zwar länger, aber das hat meiner Meinung nach viele Vorteile. Ich finde es so wichtig, dass den Leuten hier die Möglichkeit gegeben wird, sich mit ihrer neuen politischen Freiheit auseinander zu setzen, herauszufinden, was sie wollen, wen sie unterstützen wollen. Parteien müssen sich formen, sie müssen sich Ziele setzen und diese Mitteilen. Das braucht Zeit…

Übrigens gibt es seit einigen Tagen auch in Hurghada patriotische Erinnerungen zu kaufen: Fähnchen, T-Shirts, Schals, Stickers und anderes in den ägyptischen Farben und dem Aufdruck „I love Egypt“. Ich werde mich nach einem Fähnchen für mein Rennvelo umsehen…

Mittwoch, März 16, 2011

Unterkunft inklusive

Ich habe ein neues Label „Begegnungen“ eröffnet. Darunter werde ich künftig über besondere, komische, ausgefallene und andere Begegnungen schreiben, von denen ich hier haufenweise erlebe.


Eines Tages erhielt ich ein Email von einem wildfremden Ägypter. Er sucht ganz „dringend“ jemanden, mit dem er „Tandem machen“ kann. Darunter verstand er, sich gegenseitig mit Deutsch und Arabisch zu helfen. Ich willigte irgendwann ein.

Der junge, gut aussehende Mann nannte sich Adam und sprach hervorragend Deutsch. Er war in seinem Germanistikstudium in Kairo Jahrgangsbester und hatte ein Stipendium in Deutschland erhalten. Dank deutschen Freunden konnte er drei Monate lang dort bleiben.

Wir verbrachten einige Stunden lernend miteinander, wobei vor allem Adam profitierte. Er konnte sich nicht auf mein „tiefes“ Arabischniveau einlassen. Für mich war er eine Stufe zu ehrgeizig und egoistisch. Mit der Zeit meinte er, er könne kommen, wann es ihm passte, Termine verschieben wie er wollte und es gefiel ihm gar nicht, dass meine „Schüler“ Vortritt hatten. Ich hatte keine grosse Lust mehr, mit ihm zu lernen.

Nach zwei oder drei Monaten meldete er sich wieder und wir vereinbarten erneut einen Termin. Zwei Stunden vorher rief er an und sagte, es ginge ihm nicht, seine Freundin würde aus Deutschland kommen. Und er fügte so belanglos zu, als ob es um das Wetter ginge, ob es ok sei, dass (nicht ob!!!) seine Freundin bei mir übernachten würde!

Mir blieb die Spucke weg. Es sei nur für eine Nacht und ich würde ja alleine leben und hätte noch ein Zimmer und….

Ich sagte Nein.

Ja weshalb denn? Ich sagte Nein, das mache ich nicht.

Seine Reaktion? Er beendete das Telefon beleidigt.


Dienstag, März 15, 2011

Ende der SS in Ägypten

Eine Nachricht schlechter als die andere. Schreckliche Bilder jagen um die Welt. Japan wird von einem Erdbeben nach dem anderen erschüttert und die beschädigten Atomkraftwerke geben ihr innerstes preis: Radioaktivität tritt aus, Menschen fliehen.

Die Börsen rund um den Globus sind massiv eingebrochen.

In Bahrain werden Demonstranten mit Nervengas vertrieben, schwer verletzt und kaltblütig abgeschlachtet. Truppen aus dem benachbarten Saudi Arabien marschieren ein, um die bahrainische Armee zu unterstützen. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen. Führt das schliesslich zu einem neuen Krieg mit Iran? Schiiten gegen Sunniten? Muss das jetzt auch noch sein?

Die Palästinenser und die Syrer demonstrieren unüberhörbar. Die Jemeniten ebenfalls.

Inzwischen metzelt Gaddafi weiterhin sein Volk mit Artillerie nieder und treibt es in die Enge. Bald bleibt den Rebellen nur noch sich zu ergeben.

In der Elfenbeinküste wird ein Bürgerkrieg befürchtet.

Weder die USA noch die EU, weder die UNO noch die NATO haben Rezepte: sie diskutieren ganz ganz intensiv.

Überall nur Gewalt, vor allem von Menschenhand. Hört das denn überhaupt nicht mehr auf?

Eine gute Nachricht gibt es heute doch. In Ägypten. Einer weiteren Forderung der Demonstranten wird entsprochen: die gefürchtete und verhasste Staatsicherheitspolizei wird endlich abgeschafft. Die Bloggerin Zeinobia benennt den Geheimdienst auf ihrem Block immer mit „SS“ – jedes Mal, wenn ich das lese, erschauere ich. Für mich ist „SS“ mit den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verknüpft. Aber natürlich ist Staatsicherheitspolizei, oder in Englisch State Security auch „SS“. Und der Schrecken, welche in Ägypten verbreitet wurde, ist vermutlich vergleichbar. Die Ägypter hoffen, dass dieser Schreckensapparat nicht nur einer oberflächlichen Änderung unterzogen wird, sondern dass er wirklich aufgelöst wird und ein neuer Sicherheitsdienst aufgebaut wird.

Gestern hatte ich eine interessante Diskussion mit einem gebildeten Ägypter. Er ist der Meinung, dass man einen Staat nicht völlig auflösen kann und von Grund auf neu aufbauen, wie z.B. ein Gebäude oder eine Firma. Ein Staat müsse weiterhin funktionieren, Arbeitsplätze müssen geschaffen, Lebensmittel hergestellt, Märkte müssen funktionieren. Möglich, dass er Recht hat. Aber Ägypten hatte keine Wahl: mit dem bisherigen Regime war ein behutsamer Wandel nicht möglich. Mein Gesprächspartner führte als Beweis an, dass das Regime daran gearbeitet hat, wie gross das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre war. Stimmt. Aber: davon profitiert haben nur jene ganz oben, jene ganz nahe dem Regime – nicht die grosse Masse. Die ist über die vergangenen Jahrzehnte weiter verarmt.

Zum Schluss unseres Gesprächs habe ich mein Gegenüber gefragt, was er jetzt für sein Land tue? Er denke nach… Ob er einer Organisation beitrete, um Analphabeten in Demokratie zu unterrichten? Sein Land brauche jetzt Menschen wie ihn, sagte ich. Wenn er und seinesgleichen handeln statt warten, können sie etwas bewegen. Er sah mich verdutzt an und ich glaube, er wird auch darüber nachdenken.

In vier Tagen findet das Referendum über die Verfassungsänderungen statt. Ich habe kein gutes Gefühl, dass das gut herauskommt.

Sonntag, März 13, 2011

Alltag in Hurghada: Ärger mit den Taxifahrern

Normalerweise fahre ich mit dem Bus. Hie und da erfordern es die Umstände, dass  ich ein Taxi besteige. Manchmal, weil ich zu spät für einen Termin bin, manchmal, weil ich zu schwere Einkäufe zu tragen habe, manchmal, weil es Nacht ist. Oder einfach so.

Obwohl die Busse nicht bequem und selten sauber sind, nehme ich nicht gerne ein Taxi. Seltsam? Mit dem Bus habe ich viel weniger Ärger! Taxi fahren in Hurghada heisst nämlich meist: diskutieren, handeln, streiten, verteidigen. Dazu bin ich als friedliebender Mensch nicht täglich aufgelegt.

Die meisten Taxifahrer rauchen, d.h. dass ich von Rauch stinke, wenn ich einsteige. Sie schalten den Taxameter nicht ein – also bitte ich darum. Manch ein Taxifahrer reagiert nicht darauf und ich bitte nochmals. Darauf plappert er irgendetwas von einem Phantasiebetrag. Um die Situation abzukürzen, sage ich ihm kurz und bündig, er soll anhalten und ich steige aus. Geschieht regelmässig.

Viele verlangen schon bevor ich einsteige, einen überrissenen Betrag. Darüber diskutiere ich schon gar nicht mehr, sondern wende mich ab und warte auf das nächste orange Taxi, das nicht lange auf sich warten lässt.

Ich kenne bis jetzt zwei notorisch mühsame Orte (wobei es sicher mehrere davon gibt): eine Querstrasse nahe der Marina und das grosse Einkaufszentrum „Senzo Mall“ weit ausserhalb Hurghadas. Wenn ich von der Marina ein Taxi nehmen will, gehe ich zuerst ein paar Hundert Meter zu Fuss, um „normale“ Taxifahrer zu finden. Nach einem Grosseinkauf im Einkaufszentrum ist ein Fussmarsch von dieser Distanz aber nicht mehr möglich. Dort stehen die Taxis in einer Einerkolonne und warten auf ahnungslose Touristen, denen sie ein Mehrfaches an Fahrgeld abknöpfen. Natürlich versuchen diese Taxifahrer auch von mir das zwei- oder dreifache herauszuschlagen. An Argumenten fehlt es ihnen nie: 7 Pfund – dafür kann ich grad ein Päckchen Zigaretten kaufen… 5 Pfund mehr oder weniger – das macht doch gar nichts aus… nur 10 Pfund? Da kostet ja das Benzin mehr… Ich habe mir eine Strategie zugelegt, die offenbar auch Ägypter anwenden: ich warte einfach auf ein vorbei fahrendes Taxi, anstatt eines der wartenden zu nehmen. Das macht keinen Spass, besonders wenn die wartenden Taxifahrer einen mit blöden Sprüchen belagern. Übung macht Meister – auch mich. Trotzdem stinkt es mir nur schon beim Gedanken daran, wenn ich meinen Einkaufszettel schreibe und ich mich seelisch auf die Konfrontationen vorbereite. Und jedes Mal spätestens beim Anstehen an der Kasse wünsche ich mir, einen oder eine Bekannte zu treffen, die ich um eine Mitfahrgelegenheit bitten könnte. Vorgekommen ist es schon.

Heute hatte ich jedoch ein seltenes Glück: ein Mann in einem winzigen, knallroten, nigelnagelneuen Auto hatte mich schon eine Weile beobachtet. Er hielt an, stieg aus und fragte mich, ob er mich mitnehmen dürfe. Er erschien mir so höflich und zurückhaltend (natürlich habe auch ich ihn beobachtet), dass ich einwilligte. Mohammed hat eine deutsche Mutter, was sein unägyptisches Aussehen und seine Zurückhaltung erklärte. Er brachte mich im Dunkel zu meiner abgelegenen Villa in Magawish und half mir die Einkäufe hoch zu tragen. Ebenso höflich und zurückhaltend verabschiedete er sich und gab mir seine Visitenkarte.

Ehrlich gesagt: es gibt auch ganz nette, korrekte, höfliche, bescheidene, saubere, anständige und… Taxifahrer. Diese bitte ich dann um die Telefonnummer und speichere sie, besonders von jenen, die nachts tätig sind. Falls ich es mal dringend brauche. Es ist mir auch schon zweimal passiert, dass ich gratis mitgenommen wurde, als ich auf einen Bus wartete. Auch das gibt es!

Und es gibt auch noch so liebe Freunde, die mir 35 Liter Wasser vor die Haustüre liefern oder mir mitteilen, wenn sie ins Einkaufszentrum fahren – nur, damit ich mich nicht mit den Taxifahrern herumstreiten muss.


Freitag, März 11, 2011

Zurück auf Feld Eins?

Die vergangenen Tage sahen dieselben Bilder wie während der Massendemonstrationen im Januar und Februar: friedliche Demonstranten wurden beleidigt und tätlich angegriffen. Erneut gab es tödliche Zusammenstösse zwischen Kopten und Muslimen. Dahinter sollen, wie bereits gehabt, angeheuerte Kriminelle stehen, finanziert von der NDP. Die Krake schlägt weiter um sich.

Am „Tag der Frau“ wurden Frauen angegriffen, danach die Kopten, die für den Wiederaufbau ihrer durch Muslime abgebrannten Kirche demonstrierten. Grundsätzlich ist es gleich, wen es betrifft: das Muster ist dasselbe. Es gibt Kräfte, die grösstes Interesse daran haben, die Ägypter gegen einander aufzubringen und einen Übergang zu Zivilgesellschaft und Demokratie zu sabotieren.

Diesmal wurde ich auch davon betroffen. Ursprünglich wollte ich gestern Donnerstag nach Kairo fahren. Das Busbillet hatte ich schon gekauft, mein Gepäck vorbereitet. Am Vormittag entschied ich mich dann aber, wegen der schlechteren Sicherheitslage in Kairo die Fahrt zu verschieben. Bis auf weiteres. Am Nachmittag erfuhr ich jedoch, dass die Polizei in Kairo wieder auf die Strassen zurückkehrt. Hätte ich doch fahren sollen? Vielleicht. Doch weiterhin muss man in Kairo mit Strassenblockaden und geschlossenen Museen rechnen. Ich hoffe, dass die Polizei ihre wirkliche Aufgabe nun wahrnimmt und sich die Sicherheitslage in Kairo rasch beruhigt.

Erst dann werden die Touristen zurückkehren. In Hurghada häufen sich die Gästeankünfte, es sind schon einige Tausend Feriengäste anwesend, Busse der grossen Touroperator und Jeeps, welche Wüstenausflüge machen, sind wieder vereinzelt zu sehen.

Inzwischen fragen sich viele Ägypter, wie den Menschen in der kurzen Zeit bis zu den vorgesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen beigebracht werden soll, was denn eine Demokratie ist und wie sie funktioniert. In Kairo hat die „Egyptian Democracy Academy“ diese Aufgabe schon vor zwei Jahren übernommen. Jetzt werden sie von Interessenten überrannt und beklagen, dass der Zeitraum bis zu Wahlen zu kurz ist. Er gibt dem Volk nicht genügend Zeit, ihre politischen Ansichten zu finden, politische Parteien zu bilden und ihre Ideen im riesigen Land mit einem Heer von Armen und Analphabeten zu verbreiten. Die EDA ist in Kairo tätig – wer aber im Rest des Landes? Auch einer meiner Freunde zerbricht sich mit seinen Kollegen den Kopf darüber.

Klar ist: die Menschen wissen was sie wollen, doch die Zeit ist knapp. Nun werden Stimmen laut, dass die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen am 19. März abgelehnt und stattdessen eine neue Verfassung erarbeitet werden soll. Es gibt Gruppierungen, die den Armeerat dazu drängen, die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu verschieben, damit das Land eine gewisse politische Reife erhalten kann. Vermehrt werden Forderungen nach einem säkularen Staat laut. Säkulare Kopten haben nun die Bildung einer Partei beschlossen, deren Vorsitz ein Muslim innehat!

Wenn ich auf die Ereignisse der vergangenen Wochen zurück blicke, sehe ich trotz des noch herrschenden Chaos Fortschritte. Eine politische Kultur wächst und gedeiht, es werden klare Vorstellungen kommuniziert, konkrete Ziele geformt. Besonders freut mich, dass immer häufiger die Trennung von Staat und Religion gefordert wird. Das wäre noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen! Und mich beruhigt, dass sich Kopten und Muslime weiterhin klar und deutlich gegen Zwietracht wehren.

Das lässt mich weiterhin zuversichtlich in Ägyptens Zukunft blicken. Obwohl ich, wenn ich die Doormen in meinem Quartier bei ihren täglichen Verrichtungen beobachte, mir absolut nicht vorstellen kann, was sie mit den Änderungen in ihrem Land anfangen sollen. Aber vermutlich denken sie gar nicht besonders darüber nach. Ihre Sorgen und ihre Welt sind eine andere und sie werden auch in den nächsten Jahren Sommers wie Winters in Rohbauten und mit Holzplatten und Ziegelsteinen notdürftig gezimmerten Hütten hausen und abends Schischa rauchend um ein Feuer sitzen.

Montag, März 07, 2011

Aussicht vom Balkon und sonst

Die Aussicht ist nicht überwältigend: ein Feld voller Bauschutt, dahinter eine Mauer und ein mehrjähriger Rohbau – typisch Hurghada. Wir stehen im zweiten Stock auf dem Balkon. „Da hat es gestern gebrannt“ sagen meine Bekannten. Ich sehe auf den ersten Blick nichts; bei genauerem Hinsehen aber doch: die Mauer ist geschwärzt. Ob da nicht auch Beweismittel des Staatsicherheitsdienstes verbrannt wurden?

Meine Bekannten sehen mich verständnislos an – sie wissen von nichts und ich erzähle, was ich gelesen habe.

Am Abend erfahre ich auf Al-Masry Al-Youm dann, dass es in Hurghada tatsächlich gebrannt hat – wo genau, wird nicht erwähnt. Ein Reporter der Zeitung war dabei, die Behörden bei ihrer Tat zu filmen, wurde aber tätlich angegriffen und musste flüchten. Hurghada ist zwar 450 km von Kairo entfernt, das System ist aber dasselbe.

Einige Details der „eroberten“ Daten aus dem Staatsicherheitsdienst sind bereits gesichtet und an die Presse geleitet worden. So sind z.B. Telefongespräche aufgezeichnet, wonach befohlen wird, auf die Demonstranten zu schiessen – was ja auch geschah. In nächster Zeit werden sicher viele brisante, grauenhafte, schockierende und andere Informationen bekannt werden. Erste Spitzelpolizisten sind bereits verhaftet und wegen Vernichtung wichtiger Beweise angeklagt worden, – es muss seltsam für sie sein, plötzlich hinter Gittern zu stehen.

Für die Ägypter ist es sicher eine riesige Genugtuung: was sie jahrelang gefürchtet hatten, wo so unendlich viel Ungerechtigkeit und Leid produziert worden ist, liegt nun offen da, wie eine hässliche Krake, die noch die letzten Zuckungen macht, bevor sie stirbt. Oft denke ich an eine Freundin in Alexandria, mit der ich über das Regime und Mubarak diskutieren wollte. Jedes Mal blickte sie ängstlich um sich  und flüsterte mir zu, dass ich nur ganz leise reden dürfe, sonst bestehe die Gefahr, dass sie verhaftet würde. Erst in ihrer eigenen Wohnung fühlte sie sich sicher und wir konnten offen reden. Heute verstehe ich ihre Angst besser: die ägyptische Gesellschaft war infiltriert von Spitzeln und Agenten. Wie ein Agentenkrimi… Nur leider wahres Leben.

Jetzt ist es wirklich nur noch eine Frage von Tagen, bis dieser Geheimapparat aufgelöst wird. Tunesien hat es heute vorgemacht.

Wer wird über diese geschichtlich bedeutende Zeit wohl einen Film drehen? Stoff für einen spannenden Kassenschlager ist genügend vorhanden: Geld, Korruption, Macht, Geheimdienst, Brutalität, Religion und wahre Helden uvam.

Samstag, März 05, 2011

Alle Achtung der Jugend

In mehreren ägyptischen Städten zieht seit dem frühen Morgen Rauch aus ganz besonderen Gebäuden: jenen des Staatssicherheitsdienstes. Hunderte von Polizisten sind dabei, Dokumente und Beweismaterial zu schnetzeln und zu verbrennen.

Die Menschen hier, die noch „nicht reif“ für eine Demokratie seien – wie zu Beginn der Aufstände arroganterweise zu hören war – haben nicht nur ihren Diktator zum Rücktritt gezwungen. Nein: sie stürmen die Festungen des gefürchteten Staatssicherheitsdienstes, wo Menschen gefoltert wurden und für immer verschwanden. Sie retten das Beweismaterial, das noch nicht vernichtet ist. Die hinzu gerufene Armee befreit Menschen aus ihren unterirdischen Gefängnissen.

Erstaunlich, was in Ägypten vor sich geht. Ich habe grosse Achtung vor den Taten der Jugend.

Hingegen gibt es auch das: aus verletzter Ehre wurden die Väter zweier Jugendlicher getötet. Sie waren ein Liebespaar mit dem falschen Glauben: er Kopte, sie Muslimin…


Allein am Strand

„Wir haben nur dreissig Gäste im Hotel, alles Engländer. Die bleiben lieber am Swimmingpool. Der Strand ist ihnen zu weit weg, obwohl wir einen Bustransport anbieten“ erzählt Fadl. Er ist Barmann.

Zu dritt sitzen die Mitarbeiter des Hotels unter einem Sonnenschirm. Eine Handvoll Liegen sind aufgestellt, doch unter den meisten Sonnenschirmen ist nur Schatten. Der Strand ist ausgestorben, trotz blauem Himmel, glasklarem Wasser, goldgelbem Strand und angenehmen Temperaturen. „Wie die Côte d’Azur Ende Oktober“ erinnere mich. Ruhe und etwas Melancholie liegt über der Szene; eigentlich wäre jetzt Hochsaison.

Ich darf ausnahmsweise auf dem Privatstrand bleiben und habe es so friedlich wie selten. Hie und da kommt Fadl zu mir um zu plaudern. Er jammert, dass er mehr Geld braucht als er verdient. Er gehe meistens auswärts essen, weil das Essen für die Angestellten nur noch aus Gemüse und Reis bestehe; vorher habe es abwechslungsweise Fleisch, Hähnchen oder Fisch gegeben. Jetzt aber werde gespart. Ausserdem raucht er und hat eine eigene Wohnung mit Kollegen zusammen. Im Stadtzentrum; d.h. dass er auch Geld für die Fahrt braucht. Seine Kollegen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt. Das alles kostet viel Geld. „Wir zahlen jetzt den Preis für die Freiheit!“ Er hat Angst, dass die Muslimbrüder regieren werden, weil sie die einzige gut organisierte Organisation in Ägypten ist. Er erzählt, wie die Muslimbrüder mit drei Vertreten auch in seinem Dorf aktiv sind und sich um Bedürftige kümmern.

Das Meerwasser ist eiskalt – zuerst. Ich stehe bis zu den Waden im glasklaren knietiefen Wasser und hoffe, dass ich mich an die Temperatur gewöhne. Nicht weit vom Strand hocken Möwen auf den Wellen. Fadl ruft mir zu, ich soll mich einfach hinein werfen. Stattdessen gehe ich wieder hinaus und Fadl erzählt, dass er jeden Morgen schwimme. Seine Kollegen haben inzwischen Badehosen angezogen und rudern mit dem Kanu hinaus – sie machen das Beste aus ihrem langweiligen Job.

Die Wellen sind kräftig und ich muss heftig kraulen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Dafür kühle ich nicht so schnell aus. Die Bucht verläuft auf vielleicht 20 Metern ganz flach und plötzlich fällt der Meeresboden ab. Dort draussen ist das Wasser trüb vom starken Wellengang. Das Meerwasser tut mir gut, doch nach vielleicht zehn Minuten muss ich raus aus dem Wasser, es wird mir zu kühl. Der Wind ist auch nicht angenehm, aber die Sonne ist schon kräftig genug, dass ich schnell wieder aufgewärmt bin. Perfekte Bedingungen, denn bald wird es wieder zu heiss sein.

Ich bedanke mich bei den Angestellten und drücke Fadl einen Geldschein in die Hand; er soll damit Zigaretten kaufen und sie mit seinen Kollegen teilen.


Donnerstag, März 03, 2011

Wichtiger Schritt vorwärts

Ganz nebenbei habe ich heute auf Radio DRS3 (jawohl!) in den Mittagsnachrichten gehört, dass Premierminister Shafik heute zurück getreten ist. Sensationell! Ebenso sensationell ist die Art der Mitteilung: der Armeerat hat dies über seine Facebook-Seite getan! Wir sind definitiv in einem neuen Zeitalter angekommen. Wann werden sich die europäischen Regierungen dazu überwinden??? ;)

Eine weitere wichtige Forderung der Demonstranten ist damit erfüllt worden.

 
Vorausgegangen war gestern Nacht die erste wahre Politik-Debatte in der arabischen Welt. Soweit ich mitbekommen habe, war das gar nicht so beabsichtigt gewesen. Schlussendlich aber wurde Shafik in die Enge getrieben und hat sein wahres Gesicht gezeigt. Die Konsequenzen daraus haben wir heute erlebt.

Das ist ein riesiger Befreiungsschlag! Der neu ernannte Premierminister Essam Sharaf scheint eine integre Person zu sein und ist nun beauftragt, das Kabinett neu zu besetzen. In weiteren Ministerien hat es weitere Rücktritte und Neubesetzungen gegeben. Es läuft in eine gute Richtung…

Doch immer wieder brennt es in Ministerien und Staatsgebäuden. Und in ganz Ägypten wird geschreddert: es wird versucht, wichtiges Beweismaterial zu vernichten. Polizei, Geschäftsleute, Gouverneure, Minister, die NDP, die Söhne Mubaraks…

Ein Untersuchungsbericht hat bekannt gegeben, dass die tödlichen Schüsse von Scharfschützen auf Demonstranten Ende Januar tatsächlich von der Polizei erfolgt waren…

Jeden Tag kommen solche Nachrichten ans Tageslicht. Es ist ungeheuerlich – aber zugleich auch befriedigend zu sehen, dass es ans Licht kommt. Ich bin je länger je zuversichtlicher für Ägypten. Es ist allen anderen arabischen Ländern nun ein paar Schritte voraus.

Mein Alltag sieht weniger spannend aus: ein paar Unterrichtsstunden. Ein paar Stunden Korrekturlesung. Ein heilloses Durcheinander zwischen Englisch, Französisch und Arabisch, manchmal auch Deutsch. Ein paar Handwerker, die grad zufällig im Haus zu tun haben: sie brauchen den Stuhl, um vor der Wohnungstüre eine Lampe zu montieren, sie verlangen einen Stift, um einen Handknopf an der Tür zu markieren und laufen genervt davon, eine riesige Sauerei hinter sich lassend. Der Wasserboiler hat genau dann keinen Mucks mehr von sich gegeben, als jemand da war, um die Ursache des Geräuschs zu erforschen.

Dienstag, März 01, 2011

Vom Mangel

Die ägyptische Börse ist immer noch geschlossen. Ständig wird die Wiederaufnahme des Handels verschoben. Allein das sagt schon vieles über den Zustand des Landes aus.

Dass das hiesige wirtschaftliche (Un-)Gleichgewicht schwer gestört ist, ist nicht nur anhand der Streiks und der geschrumpften Flugbewegungen zu erkennen. Es gibt da noch etwas, das wirklich weh tut: es fehlt an Bargeld! Die Bezüge an Bankomaten oder an Bankschaltern sind begrenzt und es sind keine grösseren Geldbeträge erhältlich.

Ein Geschäftsmann jammert, er bräuchte 35‘000 ägyptische Pfund Bargeld – momentan unmöglich, diese Summe aufzutreiben. Auch ich erhalte mein Honorar meiner Schüler (normalerweise Vorauszahlung) in Raten, denn jeder hortet sein Bargeld. Ich übrigens auch, was ich gar nicht gerne mache. Es erinnert mich an die Zeiten, als es noch keine Bankomatkarten gab und Zahlen mit Kreditkarten nur den oberen Zehntausend vorbehalten war. Bisher habe ich nur Münzen gehortet, weil Kleingeld ewig knapp ist. Müssen wir uns bald auf Tauschwirtschaft umstellen? Eine Unterrichtsstunde gegen eine Viertel Übernachtung im Fünfsternehotel? Und wie bringe ich die wieder an den Mann bzw. an die Frau? Eintauschen gegen drei Pizzas? Und die wieder eintauschen gegen einen Teil Stromrechnung, eine Taxifahrt, Käse und Brot?

Uff: und Joghurt! Was ich in Hurghada Joghurt suche, ist schon bald aberwitzig. Habe ich es früher in 250g Bechern gekauft, bin ich inzwischen auf 1kg „Kübel“ übergegangen. Normalerweise kaufe ich gleich 2 kg auf einmal. Es gibt auch ganz kleine Becher... Aber: seit ein paar Tagen gibt es wieder mal überhaupt keine!

Es lebe die ägyptische Revolution! – Ehrlich gemeint, denn ich bin lieber hier als in Bahrein oder Libyen.