Mittwoch, April 27, 2011

Qena - eine Provinzstadt in Aufruhr

Der Militärrat ersetzt momentan eine ganze Reihe von Gouverneuren, so auch in Qena. Qena ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements in Oberägypten, am Nilbogen gelegen, nur 220 km von Hurghada entfernt. In der Stadt wohnen viele Christen, Muslime sind aber im Gegensatz zu den umliegenden Dörfern in der Mehrheit.

Qena war während fast zwei Wochen in Aufruhr. Der vom Militärrat eingesetzte Gouverneur passte den Leuten nicht.

Weil er ein Kopte sei – sagen Muslime.
Weil er als ehemaliger Polizeioffizier dem gestürzten Regime nahe gestanden habe und für die Erschiessung von Demonstranten verantwortlich gemacht wird – sagen Muslime und Kopten.

Doch der vorherige und der vorvorherige Gouverneur waren auch Kopten. So klar ist die Situation also nicht. Denn offenbar haben (einmal mehr) Salafisten den Aufstand angezettelt. Tagelange Demonstrationen, Strassensperren, Gewalt und – was des Landes Nerv trifft – Blockade der Eisenbahnlinie Kairo - Assuan. Drohungen, die Wasserzufuhr zum Roten Meer (sprich nach Hurghada) zu unterbrechen.

Das geht natürlich nicht.

Der vom Militärrat eingesetzte Premierminister wollte die Sturköpfe beruhigen, die Situation schlichten. Vergeblich. Nun hat er den soeben eingesetzten Gouverneur für drei Monate beurlaubt, um die Lage zu beruhigen.

Und was sagt mein koptischer Bekannter? Wie sieht er die Situation? Zu meinem grossen Erstaunen ist auch er gegen die Einsetzung eines koptischen Gouverneurs. Der würde alles Unmögliche und Mögliche tun, um Muslime zu bevorzugen und damit zu beweisen, dass er Kopten nicht bevorteile… Das ist kompliziert.

Doch das ist (Ober-)ägypten wie es lebt. Hitzig, rückständig, ungebildet, leicht beeinflussbar. Ähnliches wird heute aus Minya berichtet. In Ägypten brodelt es gefährlich…


Sonntag, April 24, 2011

Ende Sommerzeit

Vergangene Nacht hätten Ägypten die Uhren um eine Stunde zurückstellen sollen. Auf Sommerzeit. Die momentane Übergangsregierung hat eine Umfrage gestartet, ob diese Zeitumstellung vom Volk weiterhin gewünscht werde oder nicht. Eine Mehrheit war dagegen und somit wurde sie kurzweg abgeschafft.

Das begreife ich nicht. Im Hochsommer geht hier die Sonne um vier Uhr morgens auf und um sieben Uhr abends ist es stockdunkel. Eine Stunde Verschiebung wäre wirklich sinnvoll gewesen, besser sogar zwei. Viel Strom könnte damit eingespart werden – wer steht schon um vier Uhr morgens auf?

In diesem Sommer alle: denn Vorhänge und Fensterläden müssen vor der prallen Sonne geschlossen werden, sonst ist es in den Häusern um sieben Uhr schon dreissig Grad heiss. Ab sechs Uhr abends werden die Strassenlaternen eingeschaltet werden – welche Verschwendung!

Vielen Ägyptern war es zu blöd, mehrmals im Jahr die Uhren umzustellen. Denn da ist auch noch der Fastenmonat Ramadan, während dessen wieder zur Winterzeit gewechselt wurde, um die tägliche Fastenzeit eine Stunde zu verkürzen. Möglich, dass das der Grund war. Kurzfristiges Denken.

Für mich persönlich hat es auch einen Nachteil: in den vergangenen Sommern stand ich zwischen fünf und sechs Uhr auf, um aufs Rennrad zu sitzen. Nun werde ich noch früher aufstehen – oder mehr schwitzen müssen! Und überhaupt hat mir die Unterscheidung Sommer- / Winterzeit immer gefallen; ich fand das eine tolle Sache.

Hoffentlich fällt die Übergangsregierung nächstens wieder klügere Entscheide mit mehr Weitblick.


Leben fern der Heimat

Fast zwei Jahre lebe ich nun schon in Ägypten. Ich fühle mich wohl hier. Meine wahre Heimat ist es jedoch nicht, wird es nie sein, kann es gar nicht sein, sind doch die kulturellen Unterschiede riesig. Ägypten ist so etwas wie meine momentane Heimat geworden.

Ich fühle mich an vielen Orten wohl, sofern gewisse Bedingungen erfüllt sind und die „Abstriche“ nicht zu heftig sind. Ich sehe Verzicht, Einschränkungen und das „an andere Umstände gewöhnen“ als Übung, als Training für mehr Akzeptanz und Toleranz. Und dabei stelle ich zu meinem grossen Erstaunen immer wieder fest, dass man auch mit weniger sehr zufrieden leben kann! Sind wir doch ehrlich: da wo ich herkomme, sind wir recht verwöhnt!

Wie ist es denn nun, fern der Heimat zu leben? Welches sind die „Bedingungen“, damit man sich wohl fühlen kann? Jede Person wird diese Fragen wohl anders beantworten.

Für mich hat die Verbindung zur Heimat, zu Familie und Freunden und zu gewissen Gewohnheiten hohe Priorität. Regelmässige Gespräche via skype, emails und sms sind mir sehr wichtig. Was den Zuhause-Gebliebenen möglicherweise als langweiliger Alltag erscheinen mag (der erste Schnee, die ersten Osterglocken, Haus XY wurde abgerissen), ist für mich wichtig – denn so kann ich weiterhin an deren Leben teilnehmen. Ein täglicher Blick auf die Webcam ins Langlaufgebiet (im Winter) oder auf die heimatliche Bergwelt gehört dazu.

Niemals werde ich vergessen, wie umständlich es vor 24 Jahren war, als ich ein halbes Jahr lang durch Südamerika reiste: ich schrieb ellenlange Briefe nach Hause. Die Briefe waren wiederum ellenlang unterwegs. Ich schickte Pakete nach Hause. In Venezuela musste ich es in ein Leinentuch einnähen, also Stoff, Faden und Nähnadel kaufen. Meine Mutter schickte mir jeweils postlagernd Briefe an einen im Voraus bestimmten Ort. Ich schrieb Gebirge von Tagebüchern, denn Laptops waren noch nicht erfunden. Einmal pro Monat schickte ich ein einzeiliges Telegramm – heute gibt es diese Möglichkeit nicht mal mehr. Einmal im Monat rief ich zuhause an. In Argentinien musste ich z.B. Ferngespräche anmelden und über zwei Stunden auf die Verbindung warten. Telegramme und Anrufe kosteten ein kleines Vermögen. Doch dank dieser Kombination erhielt meine Mutter alle zwei Wochen ein Lebenszeichen von mir. Was für eine Qual das für sie gewesen sein muss!

Tempi passati! Wie viel einfacher ist es heute: wir können rund um den Globus jetten und sind jederzeit erreichbar.

Heikler ist es mit Freundschaften. Sie haben mich gelehrt, dass das Sprichwort „aus den Augen, aus dem Sinn“ viel Wahres enthält. Das tut weh. Manchmal bitter weh. Doch es ist eine Tatsache, mit der ich mich abfinden muss. Freunde in der Fremde zu finden ist nicht einfach, denn eine gemeinsame Basis – wie Schule, Arbeit, Sport oder Hobby – muss zuerst geschaffen werden, sofern das überhaupt möglich ist. In Hurghada ist es besonders schwierig, denn jeder will hier von jedem profitieren. Europäer inbegriffen. Ehrliche Seelen sind hier sehr rar zu finden.

Täglich lese ich auch Online Nachrichten, neben NZZ Online auch internationale. Das lokale Geschehen in meiner Heimat kann ich mangels guten Online Portalen leider nicht wirklich verfolgen. Umso wertvoller ist es für mich, wenn mir Freunde darüber berichten.

Dank Internet ist der Kontakt zur Heimat wirklich einfacher geworden. Ein Mausklick und die Heimat ist zum Greifen nah! Satelliten machen es möglich, dass ich meine deutschschweizerischen, welschen und Tessiner oder italienischen Lieblingsradiosender hören und selbstverständlich auch die Schweizer (oder deutsche) Tagesschau im Fernsehen verfolgen kann.

Ein kleiner Schock war für mich allerdings, als Radio DRS das Herunterladen von Podcasts im Ausland einstellen musste. Ich hörte mir z.B. immer so gerne die Sendung „Worldmusic Special“ an und wenn ich sie verpasste, lud ich sie herunter. Seit Anfang Jahr ist das leider Vergangenheit. Ein kleines Stückchen Heimat ist mit damit entglitten.

Nicht vermissen möchte ich mein Rennvelo. Lieber wäre mir das Mountainbike, doch das nützt hier nicht grad viel. Aber egal… Hauptsache, ich kann mich auf zwei Rädern sportlich austoben und die Gegend kennen lernen. Ein paar lieb gewordene Gegenstände, Bilder, Bücher und Erinnerungsstücke gehören auch zu mir. Ich gebe aber zu, dass ich allmählich mein „Hab und Gut“ vermisse und am liebsten alles mit einem Container herschaffen würde. Noch halte ich es aber aus.

Was ich hier nicht habe und nicht bekommen kann, erwarte ich jeweils sehnlichst mit all den Feriengästen aus meinem näheren oder weiteren Bekanntenkreis: Appenzeller Käse, Bündner Salsiz, Schwarzwälder Schinken, NZZ am Sonntag, Lindt Schokolade und noch eine gaaaanz lange Liste aller möglicher Köstlichkeiten…

Sogar an das Fladenbrot habe ich mich gewohnt. Zwischendurch kaufe ich auch mal ein Brot in der deutschen Bäckerei – es ist… naja… fast so wie zu Hause.

Die Vorfreude auf den nächsten Heimaturlaub all inklusive ist umso schöner! Könnt Ihr Euch das vorstellen? Und ausserdem: ich bin frei, jederzeit wieder dorthin zurück zu kehren, wo ich herkomme… oder mich woanders niederzulassen, sofern ich es nicht mehr aushalten kann. Noch aber geniesse ich diese anspruchsvolle, andere, ungewohnte Welt mit all ihren Schwierigkeiten und Annehmlichkeiten!


Mittwoch, April 20, 2011

Der Ex-Diktator und sein Volk

Als vergangene Woche bekannt wurde, dass Ex-Präsident Mubarak und seine Söhne verhaftet und verhört werden, freute ich mich. Logischerweise.

Viele Ägypter jubelten ebenfalls. Aber nicht alle.

Was soll es noch bringen? Er wird angeklagt, sich bereichert zu haben. Er war korrupt – welcher Diktator ist das nicht? Er wird angeklagt, Gewalt gegen die Demonstranten befohlen zu haben. Welcher Diktatur tut das nicht? Doch was ist mit dem Rest? Was ist mit der Tatsache, dass er das Land wirtschaftlich und bildungsmässig über drei Jahrzehnte in den Ruin getrieben hat? Einer Infrastruktur, die diesen Namen nicht verdient? Ein Volk, das seine Fantasie und Fähigkeiten nicht einsetzen durfte, sondern zu Verblödung und Duckmäusertum verdonnert wurde? Ein Volk, das politisch unerfahren ist wie Kindergärtler?

Und: er ist ein alter Mann! Viel schlimmer als die Verhaftung wiegt die ungewisse Zukunft für das Land und die paralysierende Angst vor einem islamistischen Staat.

Diese Argumente hörte ich ebenfalls von Bekannten. Aber ich hörte noch ganz anderes.

Da gibt es Menschen, die zutiefst traurig und betroffen waren, dass ihr Präsident Mubarak wie ein normaler Bürger hinter Schloss und Riegel gesteckt wurde. Er sei ein Held, er habe so vieles für sein Land getan und stehe deshalb über dem Gesetz. Deshalb dürfe er für seine Verfehlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Als liberal denkende Westeuropäerin kann ich diese Gedanken, oder vielmehr Gefühle nicht nachvollziehen. Ich erkenne darin höchstens, wie erfolgreich das Regime seine Bürger umarmt (umklammert!) hat: innig und fest, sodass sie tatsächlich glaubten, der Präsident sei ihr Landesvater, dem sie alles zu verdanken haben. Ohne ihn sehen sie sich jetzt schutzlos einer ungewissen Zukunft ausgeliefert. Nicht wenige wünschen sich das alte Regime zurück, auch wenn sie damit nie einverstanden waren. Es sei immer noch besser als ein von radikalen Islamisten geführter Staat und einer am Boden liegenden Wirtschaft.

Dienstag, April 19, 2011

Kairo im April 2011

Mein Blog hatte Pause. Meine Eltern waren zu Besuch hier und ich habe ihnen meine Zeit gewidmet. Wir flogen unter anderem nach Kairo.

Es war heiss in Kairo. Die Luftverschmutzung war so dick, dass am Freitagmorgen – als die Strassen noch relativ leer waren – dicker Smog wie Nebel zwischen den Hochhäusern und über dem Nil klebte. Es war windstill – für eine Mega-City wie Kairo die absolute Katastrophe. Atmen war spätestens nach einer Stunde ziemlich unangenehm.

Und Kairo ist nicht ungefährlich. Immer wieder wird mir durch die Um- und Zustände bewusst gemacht, dass Ägypten in einem Vakuum steckt, in einer rechtlichen Ausnahmesituation. Quasi Wilder Westen im Nahen Osten. Keine Regierung, die diesen Namen auch verdient, zu wenig Polizei und folglich wenig Recht und Ordnung.

Kurz vor den Pyramiden sprang uns ein junger Kerl in einem giftgrünen T-Shirt vors Auto. Der Taxifahrer reagierte geschickt und wich aus – doch da stand schon der zweite Kerl im Weg. Der dritte sprang auf den Kofferraum. Somit musste unser Taxifahrer anhalten. In einer blitzschnellen Reaktion hatte er die Zentralverriegelung aktiviert. Er öffnete das Fenster 10 cm – genug, um einen der wilden Kerle den Arm durchstrecken zu lassen. Ich fürchtete um den Taxifahrer – nicht um mich bzw. um meine Eltern!!! Die Kerle wollten Geld erpressen. Der Taxifahrer redete auf sie ein und fuhr dann die letzten Meter hinauf zum Eingang. Polizei war da – ich weiss aber nicht, was sie taten… sassen herum wie immer. Die seltsamen Typen haben sie jedenfalls weder angehalten noch zur Rede gestellt. Der Taxifahrer wandte sich an ein paar Polizisten… Wir stiegen aus und überliessen den Taxifahrer seinem Schicksal.

Weitere lästige Typen empfingen uns, fragten, ob wir mit dem Taxi zu den Pyramiden wollten, zeigten uns das Ticket Büro (als ob wir blind wären), boten einen Kamelritt an (als ob wir keine Beine hätten), boten sich als Guide in allen möglichen Sprachen an. Widerlich. Von dieser Anmache habe ich allmählich die Nase so voll, dass ich all diese Typen am liebsten mit einem Kinnhaken im Nil versenken würde!

Ich erstand drei Tickets, wenige Minuten vor 16 Uhr. Fünf Minuten und wenige Schritte später hiess es, das Gelände sei geschlossen. Ich erwiderte, dass mir gesagt worden sei, der letzte Eintritt sei um 16 Uhr, das Gelände bis 18 Uhr offen. Nein, es sei geschlossen. Ich wurde wütend. Ich wurde zornig. Ich war kurz davor zu explodieren. Diese Unverschämtheit! Diese Abzocke! Diese unsägliche Frechheit! Wären meine Eltern nicht dabei gewesen, ich hätte mich wohl nicht mehr beherrschen können… Ich wäre wie eine Furie ins Büro hinunter gestürmt und hätte mein Geld zurück gefordert.

Ein Polizeioffizier bemerkte uns und versuchte höflich zu erklären, dass… Es war mir egal. Ich hielt ihm diese Frechheit in meinem schlechten Arabisch vor und er entschuldigte sich für die Kerle im Ticket-Office. Um mich zu besänftigen und die gute Seite der Ägypter zu zeigen bot er an, uns ein paar Sachen zu zeigen. Er führte uns eine gute halbe Stunde herum, erklärte dies und jenes, fragte alle paar Meter, ob er ein Foto von uns machen solle und ob ich nun glücklicher sei. Hinter ihm verschwanden die lästigen Kamelführer und Verkäufer und eine Handvoll einfacher Polizisten hielt höflich Distanz. Nett gemeinte Geste – aber ich konnte mich kaum beruhigen. Ausserdem befürchtete ich, dass er nur auf Trinkgeld aus wäre.

Dem war aber zu meiner Überraschung nicht so. Er zeigte uns den Weg über den Hügel zur Sphinx hinüber und verabschiedete sich höflich. Am meisten erfreute mich… sein umwerfendes Aussehen! Das war ein Bild von einem Mann! Oh Mann oh Mann!

Er entliess uns und wir fielen in die Hände der untersten Sorte von Händlern. Als sie kapiert hatten, dass wir kein Interesse an ihren putzigen Pyramidchen und Sphinxchen made in China hatten, stritten sie miteinander und droschen gegenseitig auf sich ein…

Eines ist ganz sicher: so kommen die Touristen bestimmt nicht mehr in Scharen zu den historischen Städten Ägyptens zurück! Allen Werbekampagnen zum Trotz!

Kein Nachteil ist zu gross, um nicht auch Vorteile zu haben. So auch hier. Das ägyptische Museum war fast leer, wir konnten in Ruhe die wunderschönen Schätze der Pharaonen betrachten. Im Khan El Khalili sind bloss Ägypter und nur vereinzelt Europäer und Japaner zu sehen. Es tat wohl, nicht im Gedränge herum zu schlendern, sondern sich nach Lust und Laune treiben zu lassen.

Die Freitags-Demonstration war abgesagt worden, weil der Oberste Armeerat weitere Forderungen der Demonstranten erfüllt hatte: Ex-Präsident Mubarak und seine Söhne sind verhaftet worden. Wir hatten somit weniger Verkehrsstaus zu erdulden. Auf die Verhaftung komme ich später zu sprechen.

Kairo ist interessant, spannend und faszinierend. Es birgt unendliche Schätze und Kostbarkeiten, wunderschöne Winkel und Bauten, schöne Geschäfte wie z.B. in Zamalek und Kultur. Der Preis, diese zu besuchen ist aber hoch. Wir waren jedenfalls froh, als wir wieder die frische Luft am Roten Meer einatmen und unsere Lungen reinigen konnten. Was ich erst später erfuhr: mein armer Papa hatte gemeint, wir würden bei den Pyramiden gekidnappt!

Was die Pyramiden wohl schon alles gesehen haben?

Freitag, April 08, 2011

Freitagsgebet mit Beigeschmack

Seit die eiserne Hand des Diktators geknickt ist, tut sich allerhand in Ägypten. Auch Beängstigendes.

Unter den Zehntausenden während der Unruhen geflohenen Häftlingen sind viele Schwerverbrecher. Die noch immer in weiten Teilen Ägyptens schwache Präsenz der Polizei lässt den Gesetzlosen freie Hand: Raub, Einbrüche, Vergewaltigungen und Entführungen nehmen zu. Einer meiner Bekannten trägt ein Klappmesser auf sich. Meine ägyptischen Wohnungsnachbarn haben mir heute gesagt, dass von nun an auch die zweite Eisengittertüre geschlossen wird – aus Schutz. Vor wenigen Wochen hiess es noch, dass diese Türe nie geschlossen werde.

Ex-Präsident Mubaraks Regime liess Muslimbrüder, radikale Salafisten und andere Islamisten jahrelang hinter Gittern schmoren – sofern sie nicht freiwillig ins Exil gegangen waren. Nun jedoch sind sie in Freiheit, kommen aus dem Ausland zurück und treiben ihr Unwesen. Niemand gebietet ihnen mehr Einhalt, wenn sie Flyer verteilen, Schreine verbrennen, wenn sie sich in Kairo unter die Demonstranten mischen und säkulare Ägypter anpöbeln. Sie versuchen ihren Einfluss auszuweiten, mit allen Mitteln. Es gehen Gerüchte herum, dass Frauen ohne Schleier verhaftet würden u.a.

Ein Freund erzählte mir von seinem heutigen Besuch in der Moschee anlässlich des Freitagsgebets. Der Imam nannte in seiner Predigt die ägyptischen Kopten Ungläubige, die das Land verlassen sollen, wenn es ihnen hier nicht mehr passe. Musik und Alkohol seien Sünde. Und vieles mehr. Ein Salafist. Ich fragte meinen Bekannten, wie er darauf reagiert hätte – er habe gelacht. Und wie die anderen Männer reagiert hätten? Sie hätten ihn nur angesehen und dem Imam weiterhin zugehört. Das ist gefährlich. Die grosse Masse der ungebildeten und über die Religion leicht beeinflussbaren Ägypter trägt dieses Gedankengut nun hinaus zu ihren Freunden, zu ihren Familien.

Schizophrene Welt: dies an einem Ferienort, wo Touristen halb nackt in den Strassen flanieren oder am Strand liegen, sich an der Hotel-Bar mit all-inklusiv Alkohol voll laufen lassen. Wo jeder einzelne hier lebende Mensch von genau diesen Touristen lebt und noch zahlreiche Familienmitglieder oder ganze Clans in seinem Heimatdorf am Leben erhält! Man könnte über diese himmelschreiende Dummheit, diesen Gegensatz lachen…

… wenn es nicht so beängstigend wäre. Wohin steuert Ägypten?


Donnerstag, April 07, 2011

"Tütschäutile" auf Hurghadas Strassen

Zweimal im Jahr gab es in meiner Kindheit Jahrmarkt. Einmal in unserem Dorf, einmal im Nachbardorf. Das Taschengeld reichte nicht weit, aber von Mama bekamen wir gegen Papas Willen immer noch fünf Franken extra. Grosses Ziel war in einem gewissen Alter „Tütschäutile“ fahren. Auto-Scooter heisst das wohl auf Neu-Deutsch. Es machte uns den allergrössten Spass, in den kleinen, engen Autos zu sitzen und Schulkameraden anzufahren, eben „anzutütschen“.

An diese weit zurückliegende Zeit erinnere ich mich momentan öfters. Seit den Aufständen in Ägypten ist die Polizei nicht überall zurückgekehrt. So fehlen z.B. Radarfallen. Folge ist, dass die Ägypter wie Irrsinnige Fahren.

Wenn ich mit dem Rennrad unterwegs bin, komme ich oft nicht darum, die Flughafenstrasse zu befahren. Bis Ende Januar fuhren die Fahrzeuge dort wie zahme Lämmchen, denn alle paar Meter sass ein Polizist im Gebüsch. Mit Rückenwind und auf der leicht abfallenden Strasse erreichte ich manchmal fast die gleiche Geschwindigkeit wie die Autos. Sitze ich jetzt auf dem Sattel, bietet sich mir ein ganz anderes Bild: reale Autos, Lastwagen und Busse, die mit einer Geschwindigkeit von neunzig km/h oder mehr wie meine kindheitlichen „Tütschäutile“ unterwegs sind. Ihre Bewegungen sind ebenso unberechenbar und ruckartig wie unsere damals. Ihr Ziel ist viel anspruchsvoller, als unseres damals: sie versuchen, sich nicht „anzutütschen“, sondern noch ganz knapp zwischen zwei Fahrzeugen hindurch zu schlüpfen, ebenso knapp rechts zu überholen, ebenso überraschend die Fahrspur zu wechseln oder abzuzweigen.

Dass das nicht immer gut herauskommt scheint logisch zu sein. Kürzlich lag da am Vormittag ein dreissigplätziger Bus seitlich im Gebüsch. So einer, mit welchem die Hotelangestellten vom Arbeits- zum Wohnort und zurück gefahren werden. Hie und da liegt auch ein gestauchter Minibus am Strassenrand oder ein völlig zertrümmertes Auto. Und wie ging das, bitte: das demolierte Taxi auf der einen Fahrbahnseite, der komplett zerstörte PW auf der anderen Fahrbahnseite… dazwischen ein eineinhalb Meter breiter gepflasterter Sicherheitsstreifen…?

Es wird Zeit, dass es wieder Radarkontrollen im Land gibt – es gibt hier zu viele Hirnlose hinter einem Lenkrad. Allah allein kann das nicht mehr zugemutet werden.
Ich entschuldige mich bei all jenen, die einen vernünftigen Fahrstil haben…

Samstag, April 02, 2011

Besuch in der Schule

Zwei Sicherheitsbeamte in blauen T-Shirts und dunklen Baseball-Mützen stehen am Eingang. Hinter der weissen Mauer breitet sich eine kleine Oase inmitten Hurghadas aus.

Mehrere saubere Gebäude, gepflegter grüner Rasen, Blumen, Abfalleimer an den Wänden. Die Oase heisst Deutsche Schule Hurghada und hat zu einem Tag der offenen Tür eingeladen. Noch so gerne nehme ich die Einladung an und gehe hin.

Die kleinsten Knöpfe, in gelben T-Shirts, singen mit feinen Stimmchen deutsche Kinderlieder. Schwarze Lockenköpfe und blonde Pferdeschwänze wirbeln im Wind. Die grösseren Schüler tanzen, spielen, musizieren und haben sich in fantastische Kostüme aus der Zeit König Ludwigs XIV. gekleidet. Ich geniesse die Aufführung, nicht allein deswegen, weil sie mich an meine eigene Kindheit oder an meinen Neffen und meine Nichte erinnert.

Nein, es ist noch was ganz anderes. Es ist die friedliche, entspannte Atmosphäre. Es ist sauber. Mamis haben Kuchen gebacken, dazu gibt es Kaffee. Die Eltern sind kultiviert, gut gekleidet, der Umgangston ist gepflegt und vertraulich. Die Kinder sind gut erzogen. Die Atmosphäre ist eigentlich wie in einer Schule in der Schweiz. Es ist ein bisschen Heimat.

Mit ein paar Unterschieden: es ist heiss, die Sonne brennt vom stahlblauen Himmel, der Koch und seine Helfer sowie die Abräumer sind Ägypter. Statt Hotdog gibt es Kebab. Die Eltern sind ein buntes Gemisch von Deutschen und Ägyptern, Schweizern und Engländern, auch Spanisch höre ich. Und was ich jedes Mal besonders angenehm empfinde, ist dieser ganz normale Umgang zwischen gemischten Paaren, Papa und Mama mit Kindern, egal welcher Hautfarbe oder Nationalität, egal welcher Religion angehörend, egal ob im engen Designerkleid, in ausgebeulten Jeans, mit Kopftuch oder mit Niqab… Es tut so gut, all dies zu sehen, zu hören, zu fühlen. Alle bestehenden Vorurteile dieser Welt prallen hier ab.

Draussen, auf den Strassen Hurghadas sieht alles so viel derber, rauer, primitiver – und oft leider auch abstossend aus.

Ein Anruf

„Warst Du wirklich die ganze Zeit in Hurghada?“
„Ja, warum?“
Maktar ist einer meiner ehemaligen Schüler und ruft mich alle paar Wochen an um zu sagen, dass er bald mit Französisch bei mir anfangen werde. Was er dann aber nicht tut.
„Auch während den Unruhen?“
„Ja, klar!“
„Du bist nicht nach Hause geflogen? Aber es war doch gefährlich!“
"Wo?“
„In Hurghada!“
„Nein. Wo warst denn du?
„In Kairo bei meiner Familie.“
„Und da war es sicher?“ ich kann mir einen Gluckser vor lauter Lachen nicht mehr verkneifen.
Maktar muss nun selber lachen. Ich weiss ja, er ruft nur an, um zu sehen, ob ich noch da bin. Er wird wieder anrufen und irgendwann vielleicht doch mal mit Französisch anfangen… Inzwischen werden wieder ein paar Wochen verstreichen und er wird wieder anrufen und fragen, ob ich noch da bin…
Ägypter sind einfach köstlich!