Montag, Dezember 31, 2012

Gutes Neues Jahr Ägypten

Eigentlich wollte ich nicht nochmals Wünsche zum Jahreswechsel veröffentlichen. Doch mit den vielen katastrophalen Nachrichten, die momentan aus Ägypten kommen, wünsche ich mir und Ägypten von ganzem Herzen:

Möge das Neue Jahr Ägypten ein Wunder bringen!

Ein Ausweg aus der desolaten wirtschaftlichen und verfahrenen politischen Situation ist für normal denkende Menschen nicht mehr vorstellbar. Ägypter sehen das anders. Zwei meiner ägyptischen Bekannten (eine davon Aktivistin) und ein bekannter Blogger und Aktivist haben während den vergangenen drei Wochen das gleiche ausgedrückt: sie erwarten, nein, sie rechnen mit dem Unerwarteten, mit einer Überraschung, wie sie für Ägypten typisch ist. Und sie zählen auf den zweiten Jahrestag des 25. Januar 2011.

Wundern würde mich auch das nicht mehr...



Sonntag, Dezember 23, 2012

Verfassungs-Referendum beendet

Vergangene Nacht ist der zweite Teil der Abstimmung über die umstrittene Verfassung abgeschlossen worden.


Noch bevor das offizielle Ergebnis bekannt gemacht wird, hat Mursi bereits 90 Mitglieder des Shura Councils (Ratsversammlung) bestimmt; er hätte dies erst danach tun dürfen. Die Mitglieder des Shura Council dürfen Gesetze erlassen, solange noch kein Parlament gewählt worden ist. Für mich und viele andere ist das ein weiterer Hinweis, dass das Ergebnis über die Abstimmung von vornherein klar war.

Die Abstimmung verlief gemäss Augenzeugen so regelwidrig wie noch nie in Ägypten; dabei hat das Land reiche Erfahrung mit gefälschten Wahlresultaten. Doch alle Beweise von Manipulation, Stimmenkauf, Zwang, Verhinderung, Drohung, Einschüchterung, zu spät geöffneten oder zu früh geschlossenen Wahlbüros, falschen und fehlenden Aufsehern nützen nichts. Es gibt keine Möglichkeit, Recht und Gerechtigkeit einzufordern, denn Ägypten ist zu einem rechtslosen Staat geworden: es herrscht die Willkür der Muslimbrüder.

In diesem Vakuum brodelt es in der Gerüchteküche: Mursi sei schwer krank, ist zu lesen; der Chef der Zentralbank sei letzte Nacht zurück getreten. Dieser Rücktritt wurde allerdings wieder dementiert. Wo Rauch ist, ist auch Feuer, heisst ein Sprichwort. Deshalb wundert mich überhaupt nichts mehr. Ich wäre nicht überrascht, wenn Mursi als psychisch krank erklärt würde und endlich Khairat El Shater ans Ruder käme. Er ist derjenige, der ursprünglich als Präsident der MB kandidiert hatte und dann nicht zugelassen wurde. Einen Vize-Präsidenten gibt es nicht mehr, der ist bereits vorgestern zurückgetreten. Mich würde auch nicht mehr wundern, wenn die Position des Zentralbank-Präsidenten und andere Schlüsselstellen in Finanz und Wirtschaft durch MB Leute ersetzt würden. Was jetzt abläuft, dient nur noch dem Schein nach als „rechtlich korrekt“.

Aber noch sind das ja Gerüchte und meine persönlichen Spekulationen. Letztere waren auch schon völlig falsch, wie z.B. jene, dass das Militär die MB niemals an der Macht dulden würde. Sie dulden, weil sie Garant dafür sind, dass die Pfründe des Militärs nicht angetastet werden. Werden sie auch dulden, dass das Land noch weiter abstürzt und damit ihre Pfründe in Gefahr geraten?

Ägypten wird sich bald entsetzt die Augen reiben, wenn es sieht, was da auf sie zukommt und was um es herum geschieht. Der Präsident (ich sage nun bewusst nicht Mursi) hat mehr Macht in seinen Händen, als Mubarak je hatte! Wehret den Anfängen…

… ich glaube, es ist zu spät.

Donnerstag, Dezember 13, 2012

Muslimbrüder zeigen ihr wahres Gesicht

„Wir müssen ihm eine Chance geben“ sagten die Ägypter nach der Wahl Mursis zum Präsidenten Ägyptens. Sie wollten nicht sehen, was sich da anbahnte.


Fünf Monate lang tat Mursi nichts für Ägypten. Er reiste in der Welt herum, bettelte um Geld,  Investitionen und Vertrauen. Er erzählte, dass in Ägypten eine neue Zeit angebrochen sei, in der Demokratie und Gerechtigkeit herrsche und dass es dem Volk bald besser gehen werde.

Ende November schlug er, bzw. schlugen die Muslimbrüder zu. Morsi gab sich mit einer Verfassungserklärung weitreichende Befugnisse, die ihn über das Gesetz und über die Gerichtsbarkeit hob. Damit widerstiess er gegen einen Grundpfeiler der Demokratie und gegen Rechtsstaatlichkeit: Gewaltentrennung.

Montag, Dezember 10, 2012

Nochmals nach El Quesir

Im November machten wir uns nochmals auf nach El Quesir, mein Velo-Gspänli und ich. Die Fahrt verlief ruhig, der Rückenwind unterstützte uns erneut und wir erreichten unser Ziel wieder nach rund vier Stunden (reiner) Fahrzeit.

Wir duschten und erholten uns in einem sehr einfachen Camp. Ich weiss nicht, wie es Taucher hier längere Zeit aushalten, denn die Einrichtung ist wirklich äusserst bescheiden. Es gibt Hütten aus Schilfrohr und Palmwedeln, gemeinschaftliche sanitäre Anlagen mit fliessend Wasser; als wir dort waren, gab es grad keinen Strom. Am Strand hat es ebenfalls Hütten und ich kann mir vorstellen, dass es romantisch ist, frisch verliebt eine Nacht direkt am Strand in solch einer Hütte zu verbringen und dem Meeresrauschen zu lauschen… sofern man die Moskitos fern halten kann. Die Lage ist beeindruckend und der Blick auf Berge, Wüste und Meer hinreissend. Hier sind einige Bilder:







Mein Verlangen nach Abwechslung, Wissen und Kultur trieb mich dazu, diesmal mehr von El Quesir sehen zu wollen. Es war mir schon länger bekannt, dass hier Phosphat abgebaut wird und dass Italiener in den Bergbau investiert hatten. Ich wollte das Gelände sehen, welches von den Italienern vor rund 100 Jahren erbaut worden war (heute erfolgt der Phosphatabbau ca. 25 km nördlich von El Quesir). Zwei in El Quesir lebende Deutsche führten uns auf verschlungenen Wegen und durch staubige Gassen zum Werksgelände.

Voller Neugier, erstaunt und verwundert traten wir vorsichtig in die zerfallene Werkshalle, lugten durch zerbrochene Fensterscheiben, querten den riesigen Platz zwischen Werksgelände, Verwaltungsgebäude, Villen und Kirche. Heute ist es eine Geisterstadt, scheint hastig verlassen; aber ich stellte mir vor, wie hier einst Betriebsamkeit geherrscht hat, italienische Sprache und Kultur, ägyptische Hilfskräfte, laue Abende auf den Veranden mit einem Glas Rotwein, schweisstreibende Hitze tagsüber. Ein farbiger Stummfilm spielte sich vor meinem inneren Auge ab. 
Im Verwaltungsgebäude sind noch ausgestopfte Jagdtrophäen zu sehen, verstaubt, dem Zerfall preisgegeben. Besonders angetan hat es mir eine Villa im toskanischen Stil: hohe Räume, Veranden, leuchtend gelb, Palmen, ein grosser Garten, Blick aufs Meer… Das einzige Gebäude, das renoviert und heute noch verwendet ist, ist die Kirche, die nun koptisch ist. Hier sind einige Eindrücke:







Ich war überglücklich, endlich mal wieder etwas „Hirnnahrung“ erhalten zu haben und fühle mich einmal mehr darin bestätigt, dass diese Gegend weit mehr bietet, als nur Sonne, Strand, Meer und Tauchen. Der Tag verlief ganz nach meinem Geschmack: Sport, Kultur, nette Menschen und zum Abschluss Fischessen direkt auf dem Strand unter dem Sternenhimmel.



Übrigens war El Quesir in der Antike und im Mittelalter ein wichtiger Hafen und da und dort gibt es noch Funde zu bestaunen…

Samstag, Dezember 08, 2012

Städte erklären Unabhängigkeit

Mehrere Städte, darunter Alexandria und das durch seine Streiks berühmt und zum Vorbild für Unbeugsamkeit gewordene Mahalla El-Kobra, haben heute Nacht ihre Unabhängigkeit von einem durch die Muslim Brüder geführten Ägypten erklärt und die MB-getreuen Gouverneure verjagt.

Hunderttausende sind in Kairo auf dem Tahir-Platz und vor dem Präsidentenpalast, um gegen Mursi und die Muslim Brüder zu protestieren. Sie haben immerhin erreicht, dass das Referendum verschoben wird.

Ägypten bewegt sich, Ägypten schreibt weiter an seiner Geschichte auf dem langen, beschwerlichen Weg zu Demokratie. Und die westlichen Medien berichten … nichts oder nur nebenbei! NZZ online, meine „Referenz-Quelle“ spricht von „Tausenden“ demonstrierenden Ägyptern. Was ist los? Was ist anders als im Januar/Februar 2011?


Donnerstag, Dezember 06, 2012

Krawalle in Kairo

Erneut Krawalle in Kairo. Das sind wieder die Schlagzeilen, die um die Welt gehen. Wer hinter den Krawallen steht, erfährt man von den meisten Medien nicht.


Al Jazeera berichtete Frühling 2011 praktisch rund um die Uhr von den Ereignissen in Kairo. Seit die MB an der Macht sind, hält sich der Sender zurück. Warum? Qatar unterstützt die MB und Al Jazeera gehört dem Emir. Doch gestern hat Al Jazeera wieder ausführlich berichtet. Nicht nur mir fällt auf, dass die westlichen Medien mit Kritik gegenüber den Muslimbrüdern sehr zurückhaltend sind. Wie Fähnchen im Wind...

Seit die Muslimbrüder und Salafisten demonstrieren gibt es Schwerverletzte und Tote. Sie sind wieder mit Bussen herangekarrt worden und scharf bewaffnet. Oppositionelle wurden einzeln aus der Menge geschleppt, hinein in die Menge der Islamisten und dort brutal zusammen geschlagen. Muslimbrüder und Salafisten, das sind die ganz „Heiligen“, die sich hinter ihrer Religion verstecken, die ihren „demokratisch gewählten“ Präsidenten mit Gewalt verteidigen! So haben sie‘s angekündigt und sie haben ihr Wort gehalten. Was die Ägypter schon seit ein paar Tagen befürchteten, ist eingetroffen.

Wo ist der Präsident? Gestern liess er seinen Vize mitteilen, dass er zu einem Kompromiss betreffend Verfassungsstreit bereit sei. Weshalb hat er sich nicht selbst vor die Medien gestellt? Hat er Angst? Weigert er sich, die Linie der MB weiter zu vertreten? Weshalb muss er in der Krise mit dem Führungsgremium der MB eine dringliche Sitzung abhalten? Er ist doch offiziell von den MB ausgetreten!

Ägypten wird nicht von einem „demokratisch“ gewählten Präsidenten regiert, sondern von den Muslimbrüdern. Denen sind das Volk und deren Demokratie-Gelüste egal; sie wollen ihr eigenes Reich aufbauen und ausdehnen. Mit Gewalt, mit Repression, mit Diktatur. Typisch für diese Strategie:  El Baradei, Amr Moussa, Hamdeen Sabbahi und zwei weitere Personen sind angeklagt worden, sie wollten das Regime stürzen und seien Spione; das ist Staatsverrat. Die drei genannten kandidierten in den letzten Präsidentschaftswahlen und stehen der „Nationalen Rettungsfront“ vor, welche die Opposition vereint und anführt.

Die Ägypter haben die Schnauze voll von Diktatur und scheinheiligem Getue und werden nicht aufgeben.

Update: angeblich soll Mursi heute vors Volk treten.

Mittwoch, Dezember 05, 2012

Opposition vereint

Gestern Nachmittag und in der Nacht wurde in jeder Stadt Ägyptens demonstriert. Ich bin beeindruckt und ich freue mich. Die Opposition hat sich zusammengeschlossen und dem Präsidenten ein Ultimatum mit drei Forderungen gestellt: die Verfassungserklärung zurücknehmen, das Referendum über die Verfassung absagen und eine neue, das Volk repräsentierende, Verfassunggebende Versammlung ist einsetzen.


Als gestern Abend bekannt wurde, dass Mursi den Präsidentenpalast verlassen hat, brach riesiger Jubel aus. Die Leute um mich herum tobten… dabei hat das ja noch gar nichts zu bedeuten. Beeindruckt war ich gestern auch vom Marsch inmitten der Frauen und Männer. Viele hielten selbst gezeichnete Plakate hoch, am häufigsten las ich „Verschwinde“. Und das war auch der häufigste Ruf. „Nieder mit dem Regime Mursi“ und „Freiheit“ waren andere. Die Forderungen sind überall gleich, die Sprüche, Sätze und Gesänge erklangen in Alexandria, Kairo, Luxor und Assiut nicht anders als in Hurghada.

Was geht im Kopf eines Menschen vor, der zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident eines vor Problemen beinahe erstickenden Landes verspricht, er werde ein Präsident für alle sein, er werde die Forderungen der Revolution schützen, er werde die Lebensbedingungen verbessern, gegen die Korruption kämpfen und so weiter… und kurz darauf entpuppt er sich zum schlimmsten Diktator aller Zeiten? Ist das Politik?

Auch in Hurghada waren gestern noch mehr Menschen auf der Strasse. Und diesmal auch auf den Balkonen. Die jungen Frauen vor mir fuchtelten wild in Richtung einiger Balkone und halb geöffneter Fenster, zeigten ihre Schilder und riefen „Freiheit“. Ich folgte ihren Blicken und sah diese schwarz verhüllten Geister im Halbdunkel… mich schauderte… die Gespenster dort oben bewegten ihre Fäuste nach unten. Die Frauen vor mir schrien umso lauter „Freiheit“.

Wie geht’s weiter? Wird Mursi dem Druck nachgeben oder gar zurück treten? Wenn er nur nachgibt, ist zwar eine kleine, wichtige Schlacht gewonnen, aber der Weg zu „Brot und Freiheit“ bleibt noch lang. Sollte er zurück treten: wer oder was folgt dann? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bärtigen klein beigeben. Sie kämpfen mit allen Tricks, um ihr Reich auszubauen. Ich hoffe, die Ägypter geben nicht auf.

Dienstag, Dezember 04, 2012

Hurghada heute Abend



Zu Deutsch: Befreit Ägypten von Morsy und seinen Muslimbrüdern.

Medien im Ausstand

Ich wollte soeben die (ägyptischen) Nachrichten im Internet abrufen. Heute gibt es jedoch keine Nachrichten, denn einige Medien protestieren mit einem eintägigen Ausstand gegen die fortdauernde Einschränkung der  Medienfreiheit, „besonders nachdem Hunderte von Ägyptern ihr Leben für Freiheit und Würde gelassen haben“ Egypt Independent):

Ahram Online


Egypt Indipendent


Tahrir News


Sonntag, Dezember 02, 2012

Mitten aus einer Demonstration

Die Opposition hat vergangenen Freitag erneut zu Demonstrationen aufgerufen und die Menschen folgten dem Aufruf in ganz Ägypten.


Ich war wieder in Hurghada dabei. Die Aktivisten haben aufgerüstet: ein kleiner roter Lastwagen führte den Protestzug an. Auf ihm waren Lautsprecher befestigt und zwei oder drei Männer wechselten sich darin ab, durchs Megaphon die Parolen durchzugeben. Flaggen, Spruchbänder, Tafeln und Blätter mit den Slogans wurden vor dem Abmarsch verteilt.




Ein bisschen argwöhnisch betrachten mich die Wartenden. Als meine Arabischlehrerin S. kommt, ist das vergessen. M., einer meiner Schüler ist da und eine weitere Ausländerin gesellt sich dazu. Ich bin nicht mehr die Einzige! I., eine weitere Aktivistin, erinnert sich an mich und schüttelt mir die Hand.

Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Vorne der Lastwagen, dahinter Männer mit einem grossen Spruchband und der ägyptischen Flagge, dann wir Frauen, dahinter die Gruppe der Männer.

Frauen jeden Alters marschieren lauthals rufend neben, vor und hinter mir her. Sie halten Spruchbänder oder Flaggen hoch, recken im Rhythmus der Sprüche ihre Fäuste in die Luft. Mir wird auf die Füsse getreten, ich werde von hinten und von rechts und links gestupst. Eine Ägypterin hakt sich bei mir unter und sagt, sie wisse, dass ich eine Freundin von S. bin. Das gibt mir Legitimation, ich bin anerkannt.






Es ist heiss, viel zu heiss für diese Jahreszeit und es ist absolut windstill. Die meisten sind der Jahreszeit – und nicht den Temperaturen entsprechend – angezogen, also viel zu warm. Entsprechende Gerüche hängen in der Luft und vermischen sich mit dem Abgas des kleinen Lastwagens.

Ich trete anderen auf die Füsse, lächle, entschuldige mich, versuche eine Lücke zu finden, um das zu vermeiden. Dafür weht mir jetzt eine Fahne um den Kopf und versperrt mir den Blick. Zwischendurch stockt der Zug und ich drehe mich um, um Fotos zu machen. Da entdecke ich einen anderen Freund und winke ihm.

Dienstag, November 27, 2012

„Erhal Mursi“

„go ارحل يعني!“ und „no ارحل يعني“ („geh“ (in Arabisch) heisst „go“ in Englisch / „nein“ (in Arabisch) heisst „no“ in English) und andere witzige Sprüche hörte ich heute Abend.


Während der ganzen Fahrt nach Dahar staunte ich, dass die Leute in den Strassen und Geschäften ihren Tätigkeiten nachgingen. Beim grossen Verkehrskreisel in Dahar: immer noch nichts. Ich ging weiter Richtung Gerichtsgebäude und da sah ich sie: die Gruppe von Demonstranten, die sich in Bewegung setzte. Ich zog meine Kamera aus der Tasche und wollte ein Foto von den Plakaten und Menschen machen, studierte ein arabisches Plakat… da hörte ich meinen Namen rufen: meine Arabisch-Lehrerin S. aus der vordersten Reihe!



Von da an gehörte ich dazu. Wir marschierten zum grossen Kreisel und weiter die ganze Nassr Street bis Hurghada und noch weiter bis zur „Central“. Immer wieder hielt die Gruppe an, skandierte lauthals und mit Megaphons Sprüche wie „wir sind das Volk“, „geh Mursi“, „ihr (die Muslimbürder) seid auch Ägypter“, „das Volk will die Säuberung des Systems“, „Muslime und Kopten miteinander“, „wir wollen die Muslimbrüder nicht“ usw. Mit Tamburinen und Klatschen wurden die Forderungen unterstrichen.



Die Frauen hielten sich die Hände oder hakten sich unter, versuchten beieinander zu bleiben. Sobald wir in der Menge unterzugehen drohten, zog S. mich und ihre Freundin A. nach vorne, wo das Gedränge weniger dicht war. Die Männer bildeten am Rand Menschenketten, um vor dem Verkehr und anderen Überraschungen zu schützen. Die Menschen blieben auf den Strassen und auf den Trottoirs stehen, kamen aus den Läden und Häusern heraus, standen auf den Balkonen, gesellten sich mit rasch gezeichneten Karton-Plakaten dazu. Mit Kind und Kegel. Eine Zeit lang trug ich ein kleines Kind, damit es etwas ausruhen konnte.






Ich war sicher die einzige Ausländerin. Eine Frau an meiner linken Seite fragte, ob ich wüsste, worum es gehe? Hm… ja ungefähr... unwissende Ausländerin, oder?

Was ich nicht wusste als ich aus dem Haus ging, ist, dass ich sechs bis acht km in Sandalen gehen würde. Ich habe Blasen und meine Beine schmerzen. Die Blasen werden verschwinden, die Erinnerungen nicht.

Und wie sieht es im Rest Ägyptens aus? Überall wird demonstriert…

Fortsetzung des 25. Januar 2011

Was am 25. Januar letzten Jahres begann, findet heute voraussichtlich seine Fortsetzung: Im ganzen Land sind Demonstrationen angesagt. Es ist nicht eine dieser kleinen „Freitag des ….“-Demonstrationen, sondern es ist viel Wut, Zorn und Enttäuschung da und die Demonstranten – Säkulare und Liberale vereint - stellen klare Forderungen. Die live-Bilder von Kairo zeigen jetzt schon eine riesige Menschenansammlung. Sie wollen, dass Mursi (inzwischen „Mursollini“ genannt) seine Verfassungserklärung zurückzieht, dass das Innenministerium von den Vertretern des alten Regimes gesäubert wird, dass die zu Tausenden unschuldig in den Gefängnissen harrenden Demonstranten ihr Recht bekommen und sie verlangen eine repräsentative Zusammensetzung der verfassunggebenden Kommission.

Noch am Sonntag riefen die Muslimbrüder zu einer Gegen-Demo auf. Klugerweise haben sie diese jedoch wieder abgesagt. Ebenso die Salafisten. D.h. jedoch nicht, dass sie sich nicht doch unter die Menge mischen oder schwerbewaffnet in den Seitenstrassen lauern.

Was im Januar und Februar 2011 durch das alte Regime in Zusammenarbeit mit dem Militär und dem Innenministerium geschah, geschieht nun durch die Muslimbrüder in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium (ich frage wieder: wo ist das Militär?). Es gibt zahlreiche Beweise, Videos, Fotos und Zeugenaussagen für die Brutalität gegenüber Demonstranten oder wahllos herausgepickten Passanten. Die MBs graben ihr eigenes Grab in Höchstgeschwindigkeit.

Möge ein Wunder geschehen!


Montag, November 26, 2012

In der Fremde… aber nicht fremd

Wunderschöne Tomaten, gross, rot, saftig, fruchtig und frisch. Der dunkelhäutige, schwarzgelockte Verkäufer im braun-grauen Kaftan ruft lauthals „Tamaatiim kwuaissa bi taläta gineh!“ Fliegen schwirren herum, hocken auf Früchte und Gemüse, das angeschlagen oder überreif ist. Da und dort brennen Räucherstäbchen, um die Fliegen zu vertreiben. Der Boden ist holprig und glitschig von Säften, Gemüse- und Früchteresten, zertretenen Tomaten, Guaven, Trauben und Granatäpfel-Kernen. Das Gedränge ist gross, das Geschrei laut im Gemüse- und Früchtemarkt.

Mitten in diesem orientalischen Wirrwarr  wähle ich selbstvergessen Tomaten aus, lasse mich vom Gedränge und Geschrei nicht irritieren. Ein Kilo? Nein, lieber gleich eineinhalb, sie sind so schnell gegessen. Ein Kilo reicht mir schon lange nicht mehr bis zum nächsten Einkauf in einer Woche…

Etwas berührt mich sanft am Arm. Das lästige Gestupse der Bettlerin, die tagaus, tagein im Markt ihr Überleben zusammen bettelt? Nein, das ist anders. Verwundert blicke ich in die Richtung, woher die unbekannte Berührung kommt und lächle: es ist eine hier wohnhafte Schweizerin, deren Weg sich immer wieder mit meinem kreuzt! Welche Überraschung, denn vor ein paar Tagen sind wir uns grad aus völlig anderem Anlass begegnet. Wir lachen und schwatzen wie uns der Schnabel gewachsen ist, reden über die Tomaten und den Salat. Dort sei er nur drei Pfund, behauptet sie und handelt mir einen besseren Preis ein. Dann geht Jede wieder ihres Weges, der so anders ist, als unsere gemeinsame Sprache vermuten lässt.

In der Fremde… aber nicht fremd. Immer öfter treffe ich zufällig in der Strasse, im Café, beim Einkauf oder im Bus Bekannte – es gibt mir das wohltuende Gefühl, nicht mehr fremd zu sein.

Sonntag, November 25, 2012

Mursis Erklärung und die Folgen

Seit Präsident Mursi am Donnerstag seine Verfassungserklärung veröffentlicht hat, überstürzen sich die Ereignisse wieder. Die Börse hat beinahe 10% verloren; die Menschen in mehreren Städten demonstrieren und schlagen sich die Köpfe ein; die USA, die EU und die UNO machen Druck und pochen eindrücklich auf die Einhaltung von Demokratie und Gewaltentrennung.

Richter und Journalisten treten in Streik und fordern von Mursi, dass er seine Erklärung zurückzieht. Weitere Mitglieder der Verfassungskommission sind zurück getreten. Erneut ist Ägypten mit negativen Schlagzeilen weltweit in den Medien und ich werde gefragt: wie ist es in Hurghada? Antwort: Es ist ruhig, es gab und gibt Demonstrationen, aber friedliche. Wäre ich Ägypterin, ich ginge auch auf die Strasse.

Und wie ist es sonst noch in Hurghada? Verzweiflung macht sich breit. Ein Beispiel: einer meiner „Schüler“, Ali H., ist nach mehrwöchiger Geschäftsreise aus Europa zurückgekommen. „Ich habe zehntausend Dollar in diese Geschäftsreise investiert“ und jedes Mal, wenn ich zurückkomme, ist wieder eine Katastrophe passiert.“

Der Tourismus wird wieder einbrechen, Investoren werden sich erneut abwenden. Als wir am Freitag in El Quesir waren, sagte mir eine Frau, dass sie sofort alle Umbauarbeiten an ihrer Wohnung gestoppt hat. Der IMF ist kurz davor, mit Ägypten eine Vereinbarung für ein Darlehen zu unterzeichnen.

Was um alles in der Welt haben sich Mursi und seine Bärtigen überlegt, als sie diese Erklärung herausgaben? Das Land braucht Geld, jene Menge Geld! Haben sie denn die Konsequenzen nicht bedacht? Kann man denn so blöd sein?

Ich führe es auf die unbeschreibliche Machtgier zurück. Ali H. hingegen meint, die hätten schlichtweg keine Ahnung von Demokratie und auch keine von Staatsführung. Aber die meisten Mitglieder des Führungsgremiums der MB haben im Ausland studiert, argumentiere ich. Doch Ali H. gibt mir dieselbe Antwort, die mir schon meine Arabischlehrerin gab: studiert ja, aber sie haben die westliche Kultur inklusive Demokratie nicht kennen gelernt. Sie haben sich nicht verändert, ihren Horizont nicht erweitert, sie sind die Bauern hinter den Ochsen geblieben, die sie immer schon waren. In Deutsch sagen wir „hinter dem Mond…“. In einem jedoch sind wir uns einig: positiv ist, dass sich die Opposition vereinigt hat.

Bisher umfasste für mich Bildung immer auch: Kultur, Verständnis, Toleranz, Offenheit. Ich bin zerknirscht, enttäuscht: ich muss einmal mehr mein Weltbild korrigieren.

Vorhin las ich im Internet, dass Mursi bereits einen Rückzieher auf Raten macht: seine Machterweiterung sei nur vorübergehend. Als ob das etwas ändern würde! Er war sich zu sicher: IMF und der Waffenstillstand gaben ihm wohl Flügel. Wie heisst es doch so trefflich: wer hoch steigt, fällt tief.

Und wo bitte, ist das Militär??????

Samstag, November 24, 2012

Mursi hebt den Staat auf

Mursi hat sich mit seinen Beschlüssen vom Donnerstag über die Gewaltentrennung, über die Gerichtsbarkeit und über die Verfassung (die es im Moment gar nicht gibt) gehoben. In den Online-Medien wird er nun als „Pharao“ bezeichnet, denn er hat sich quasi als unfehlbar erklärt – und das auch noch rückwirkend!


Als ich Donnerstagnacht davon erfuhr, konnte ich mich kaum mehr vom Internet trennen, wartete auf Reaktionen. Ich fragte mich, ob sich die Ägypter das auch noch gefallen lassen würden. Die Reaktion kam schnurstracks: das Verfassungsgericht erklärte, seine Unabhängigkeit notfalls bis aufs Letzte zu verteidigen. Dann ging ich ins Bett, denn am Freitag früh radelten wir nochmals nach El Quesir – das hiess, den ganzen Tag ohne Nachrichten zu bleiben.

Im gleichen Atemzug hat Mursi auch den Staatsanwalt entlassen (das hat er schon vor einem Monat versucht) und einen neuen vereidigt. Wohl um die Bevölkerung zu beschwichtigen, hat er auch entschieden, die Anklagen gegen Mubarak und die alten Mitglieder des Regimes sowie die Verantwortlichen der Tötung der Demonstranten neu aufzurollen. Er gibt vor, damit die Revolution schützen zu wollen… Jene, welche die Muslimbrüder gestohlen haben?

Die Ägypter lassen sich das nicht gefallen und gestern war wieder die Hölle los. Es waren sowieso Demonstrationen seitens der Opposition angekündigt worden, doch Mursis Gehabe hat Öl ins Feuer gegossen. Die Revolution geht weiter, die Menschen wehren sich endlich wieder. Inzwischen haben viele Ägypter erkannt, dass die Muslimbrüder auch bloss Lügner sind und Mursi nur ein anderes Gesicht für die Diktatur ist. Seit Januar 2011 hat sich für das Volk überhaupt nichts verbessert.

Enttäuschend war für mich zu sehen, wie Hillary Clinton Mursi in den höchsten Tönen für den Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel lobte. Das hat Mursi übermütig und selbstsicher gemacht. Die USA stehen hinter den Bärtigen. Wie lange? So lange, wie die Muslimbrüder den Spagat zwischen Hamas-Freund und Respektierung des Friedens-Vertrags mit Israel schaffen. Das kann nicht lang gut gehen.

Im Übrigen wundert mich: wo ist das Militär? Viele glauben das Märchen tatsächlich, dass Mursi das Miltiär „entmachtet“ habe. Wie lange machen jene das Spiel noch mit und zeigen wieder ihr wahres Gesicht? Wäre es Mursi und den Muslimbrüdern ernst mit der Durchsetzung der Revolution, hätten sie sich schon längst die wahren Machthaber und Profiteure vorgeknöpft!

Die Gier der Muslimbrüder wird ihnen früher oder später das Genick brechen. Hoffentlich bald…

Donnerstag, November 15, 2012

Vor der Pressekonferenz oder typisch ägyptisch

Im (einzig „wirklichen“) Einkaufszentrums Hurghadas ist ein Festival. Italien und Ägypten sind das Thema. Ich bin eingeladen, auch zur Pressekonferenz.


Wie üblich fahre ich mit dem Minibus hin, steige beim Parkplatz der Go-Kart-Bahn aus, weil das weniger weit und angenehmer zu gehen ist. Da hat es nämlich weder Sand noch zerbrochene Gehsteige und ist somit Stöckelschuhe-sicher. Kaum bin ich ein paar Schritte vom Minibus weg, kommt eines dieser Touristen-Züglein, das in bald jeder Stadt Europas und Amerikas Touristen kreuz und quer an Sehenswürdigkeiten, durch enge Gässchen und vorbei an Souvenirläden fährt. Der Fahrer blickt mich kurz an und ich winke; er hält an und ich nehme zuhinterst Platz, mit Blick auf die nachfolgenden Autos. In den Kurven falle ich fast von der Sitzbank und die Leute in den Autos grinsen mindestens so vergnügt wie ich. Es war meine Premiere in diesem Züglein und ich freue mich schon auf die Fortsetzung.

Vor dem Kinoeingang sind eine Bühne und ein paar wenige Stände aufgebaut. Ich gehe darauf zu – und fuff! – geht das Licht aus und der ganze Parkplatz, Bühne und Stände sind dunkel. Typisch Ägypten denke ich und lache vergnügt ins Dunkel hinein.

Es geht aber nur ein paar Sekunden und schon wieder sind Bühne und Stände hell erleuchtet. Der Parkplatz noch nicht, unübersehbar aber sind die vielen Polizeifahrzeuge. Auch nigelnagelneue Feuerwehrautos stehen da… ob es dieselben sind wie am Mohamed Mounir Konzert, überlege ich. Und während ich die Wunderwerke in Rot und Weiss bestaune, frage ich mich, ob die jemals – im Training oder im Ernstfall – benutzt worden sind. Sie sehen einfach zu sauber aus, irgendwie so tadellos wie in der Schweiz.

Die Pressekonferenz mit anschliessendem Buffet soll um 19 Uhr beginnen. Immerhin sollen der Gouverneur Hurghadas, der Tourismusminister vom Gouvernorat Rotes Meer u.a. sprechen und ich würde diese Persönlichkeiten gerne sehen, besonders aber hören, was sie zu sagen haben.
Kurz vor sieben gehe ich ins eisgekühlte Kino, wo die Pressekonferenz stattfinden soll. Die italienische Moderatorin, die italienische Organisatorin, eine ägyptische Ministerin, eine italienische Tanzgruppe und Freunde sind da, eine Handvoll Ägypter ebenfalls. Nach einer halben Stunde trudeln die ersten ägyptischen Journalisten ein – vom Gouverneur und seiner Entourage keine Spur. Nach 45 Minuten werden Hörgeräte für die Simultanübersetzung gebracht und an wenige erlauchte Gäste verteilt.

Dazwischen erfahren wir, dass draussen mittlerweile eine Demonstration stattfindet. Wofür oder wogegen ist nicht bekannt, aber sie findet auf dem roten Teppich statt, über welchen der Gouverneur schreiten soll. Ich erfahre auch, wo es hygienisch einwandfreies Fleisch zu kaufen gibt und in welchem Supermarkt die Verkäufer die Ware mit demselben Löffel testen, mit dem sie die Ware servieren. Manchmal ist Warten sinnvoll! - Zum Glück verstehe ich alle möglichen Sprachen.

Kurz vor acht – mit einer Stunde Verspätung! – wird der Gouverneur angekündigt. Und plötzlich strömen haufenweise Polizisten und Persönlichkeiten herein. Die wichtigen Persönlichkeiten sind leicht zu erkennen an den vielen Polizisten, an den unterwürfigen Gesten der Umgebenden und den tadellos sitzenden Anzügen der beleibten Herren. Man verzeihe mir meine Ironie!

Es folgt die Begrüssung durch die Moderatorin – in Italienisch. Der Gouverneur kommt zu Wort, zuerst in Englisch, dann in Arabisch mit Simultanübersetzung – von der aber offenbar wegen technischen Mängeln kaum jemand etwas mitbekommt – dann wieder in Englisch. Der Tourismusminister und die weiteren Herren versuchen es gar nicht auf Englisch und die Mikrofone funktionieren auch nicht richtig. Von dem Arabisch verstehe ich immerhin so viel, dass sich jeder Einzelne für den Anlass bedankt und die Bedeutung des Tourismus für das Gouvernorat Rotes Meer hervorhebt.

Dann reisst der Faden. Meiner, meine ich. Es ist mir zu kalt, zu unprofessionell und ich verzichte auf die Fortsetzung samt Buffet. Ich fliehe hinaus ins Freie, wo sich die nächtliche Temperatur derjenigen des unterkühlten Kinosaals angepasst hat und bestelle mir an einem Stand ein Shish Tawouk (gegrilltes Spiesschen mit Gewürzen in Fladenbrot gewickelt), um mich aufzuwärmen.

Da sehe ich noch viel mehr Polizeifahrzeuge und jenes des Gouverneurs „RS 1“ (Red Sea 1). So viel Polizei habe ich schon ewig nicht mehr gesehen - auch wenn seit Sommer ständig mobile Kontrollen mit grossem personellem Aufgebot an allen möglichen und unmöglichen Orten und Zeiten stattfinden.

Ich verlasse einen „typisch“ ägyptischen Anlass. Er war mir ein Vergnügen! Und morgen und übermorgen habe ich noch Gelegenheit, die Sänger, die Modeschau und die Tänzer zu bestaunen.  Über die Pressekonferenz werde ich via Presse (Al Ahram und Egypt Indipendent waren mit Journalisten und Werbebannern präsent) oder sonst wie erfahren…



Sonntag, Oktober 28, 2012

Weg vom Alltag

Das kulturelle Leben verläuft in Hurghada etwas eintönig. Es gibt jede Menge von Bars, Kaffees, Restaurants, Nachtclubs, Beachclubs und Discos.

Für etwas anspruchsvollere Gemüter reicht das nicht. Es gibt kein Theater, keine klassische Musik, kein anspruchsvolles Kino, keine Lesungen und und und…
Doch jetzt sind Feiertage (Eid el Adha- Opferfest) und es gibt Ausnahmen.

El Gouna
Ich war in El Gouna in der Marina, wo Live Bands spielen, Komödianten zum Lachen provozieren und Artisten mit ihrem Können begeistern. In El Gouna tummelt sich momentan die Crème de la Crème Ägyptens (selbstverständlich auch Touristen aus aller Welt) und es tat mir unheimlich wohl, gepflegte, zivilisierte, gut gekleidete Menschen zu sehen. Von einem älteren Mann mit riesigen, altmodischen Brillengläsern und einem schrecklichen Toupet mit hübscher Begleitung am Nebentisch konnte ich meine Augen nicht abwenden. Wo hatte ich ihn schon gesehen? Als sich ein junger Mann mit ihm Hände schüttelnd fotografieren liess, fragte ich meinen Kollegen, wer denn das sei. Mufid Fawzy, ein Fernsehstar, der seine eigene, Regime-kritische Sendung hatte. Und das da, auf einen vorbeigehenden, eleganten Herrn weisend, ist ein bekannter ägyptischer Schauspieler… Ich lächelte und fühlte mich irgendwie wohl und aufgehoben, ein wenig wie an der Côte d’Azur im Sommer. Die schnittigen Jachten wenige Meter hinter uns und ein makelloser Sternenhimmel haben dieses Gefühl nur noch verstärkt.

Sahl Hasheesh
In Sahl Hasheesh, noch so ein wunderschöner Ort ausserhalb Hurghadas, war ich kürzlich auch Gast bei einem Festival. Das Aussergewöhnliche ist hier die Umgebung: der Anlass findet in einem bezaubernden orientalischen Bau mit Wasserspielen, Blick aufs weite Meer und ebenso erstaunlichem Sternenhimmel statt.

Mohamed Mounir live
War es das schönste Erlebnis? Gestern gab Mohamed Mounir - der „König“, wie ihn die Ägypter nennen – ein Konzert in Makadi Bay, etwa 25km ausserhalb Hurghadas. Als ich davon erfuhr, wollte ich unbedingt hingehen, denn ich mag die Stimme Mohamed Mounirs. Er hat bei den Ägyptern einen besonderen Status: er ist sich seiner Verantwortung als berühmter und beliebter Künstler bewusst und spricht mit seinen Liedern aktuelle Probleme an, ruft zu Besonnenheit, Geduld und Zusammengehörigkeit auf. Seine Musik kombiniert geschickt traditionelle ägyptische Instrumente und Rhythmen mit Jazz, Reggae und afrikanischen Rhythmen. Dazu kommt seine seltsame, in Arabisch und Nubisch singende Stimme.

Ich ging ohne grosse Erwartungen hin und war umso mehr überrascht: es gab Security, es gab Ambulanzfahrzeuge, ein modernes Feuerwehrauto, chemische Toiletten und Verpflegungsstände. Die Parkeinweiser gaben sich grosse Mühe und die meisten Fahrzeuge wurden ordentlich abgestellt. Bühnenaufbau, Licht- und Bühnenshow und Kameras waren so, wie es an jedem grossen Konzert üblich ist. Verwunderlich? Irgendwie schon, habe ich doch in Hurghada bis jetzt wenig Qualität angetroffen.

Aussergewöhnlich war wieder die Lage: ein riesiger, sandiger, gegen die Bühne hin leicht abfallender Platz bei einem grossen Ferienresort an erhöhter Lage, Sternenhimmel, ein fast voller, hell leuchtender Mond und ein kühler Abendwind.
 

Ja, es war das schönste Erlebnis seit ich vor dreieinhalb Jahren in dieses Land zog: während zwei Stunden habe ich den Alltag vergessen und Musik, Feuerwerk und friedliche Stimmung genossen… und kurz vor Konzertschluss sind wir schnell zum Auto gegangen, um dem bevorstehenden Stau zu entkommen.

Allerdings blieb ich ausserhalb der dichten Menschenmenge und das war gut so, wie ich heute erfuhr: es hat dort drin nämlich leider wieder sexuelle Belästigungen gegeben.

El Gouna, Sahl Hasheesh und Makadi Bay haben viele Gemeinsamkeiten: sie sind gepflegt, teuer und weit von Hurghada weg – wenn man ohne Auto ist. Freunde und Bekannte mit Auto haben mich eingeladen und ich habe voller Freude akzeptiert.

Weg vom Alltag – es hat mir unheimlich gut getan und ich schwebe immer noch…


 

 

Donnerstag, Oktober 18, 2012

Cool Man

Wie so oft stehe ich am Strassenrand und warte auf einen Minibus. Wie üblich hält ein Taxi an, obwohl ich kein Zeichen gegeben habe. Ich lass den Fahrer verstehen, dass ich nicht mit ihm fahren will. Doch Moment mal,… hej, aus dem Taxi heraus erklingt super Musik! Keine Koran-Rezitationen, keine arabische Popmusik, nein: Gipsy Kings und Reggae. Ich grinse und sage ihm, dass die Musik aber super sei.

Ich soll mitkommen, nur wegen der Musik, er sei sowieso auf dem Heimweg, Schichtende. Will ich nicht und reibe meinen Daumen und Zeigefinger übereinander: kein Geld. Egal, meint er, aber ich lehne ab.

So steige ich kurz darauf in einen meiner innig geliebten Minibusse, steige im Bankenviertel wieder aus, erledige meine Angelegenheiten und warte 15 Minuten später erneut wie so oft am Strassenrand… auf den nächsten Minibus.

Und wer steht schon wieder vor mir? Derselbe Taxifahrer, mit derselben coolen Musik! Er grinst und meint, das sei Bestimmung. Ganz meiner Meinung und diesmal steige ich lachend ein. Wir plaudern über Musik, wir reden über Hurghadas Taxi-Mafia und wir lachen viel. Reda spricht recht gut Englisch, trägt seine Haare in einen grauen Pferdeschwanz zusammen gebunden und darüber eine Baseballmütze. Bevor ich bei der Marina aussteige, speichere ich seine Telefonnummer – für’s nächste Mal. Diesmal bin ich gratis gefahren.

Auch das gibt’s in Hurghada!

Samstag, Oktober 13, 2012

Auf nach El Quesir

Die Sonne steigt soeben über dem Meer auf, die Luft ist noch kühl, die Strassen leer. Wir radeln… Hinaus aus Hurghada, hinauf zum Checkpoint, weiter an den bekannten Abzweigungen vorbei: Makadi, Soma Bay, Safaga.

 
 

Da ich noch nie in Safaga war, fahren wir durch das lang gezogene Dorf bzw. was dazu gehört. Unser Radsattel wird zum Kinosessel: Gemüsestände und Geschäfte, vor denen noch halb schlafende Männer in Kaftanen stehen, gehen, Zeitung lesen und Frauen in schwarzen Gewändern ihre Einkäufe in einem Korb auf dem Kopf balancieren, wechseln mit landestypischen, einfachen Kaffeehäusern, verlotterten Schulen und Häusern ab. Überall liegt Abfall und ich höre in Gedanken wieder, wie sauber Hurghada doch sei. Ägypter zeigen sich darüber so begeistert. Europäer beurteilen das etwas anders.


Wir radeln. Die Strasse führt in stetem Auf und Ab durch die Ausläufer des Red Sea Gebirges, das seit Safaga nicht die sonst übliche gold-gelbe Farbe aufweist, sondern sich grau-schwarz präsentiert. Das Asphaltband liegt wie ein dunkelgrauer Streifen viele Kilometer vor uns ausgerollt und verliert sich am flimmernden Horizont. Die Steigungen bieten Abwechslung und sind uns Motivation: mit Rückenwind oben angekommen, treten wir umso kräftiger in die Pedale, stürzen uns mit Eifer hinab, um mit Schwung durch die Senke zu brausen und mit weniger Kraftaufwand die nächste Steigung zu erreichen. Seit Safaga gehört die Strasse praktisch uns.
 
 
 
 
 
„Ist das nicht gefährlich?“ war eine berechtigte Frage meiner Bekannten, denen ich von unserem Vorhaben erzählte. Nein, es ist nicht gefährlich, denn ich fahre a) nicht alleine, b) in aller Frühe und c) wir haben ein Begleitfahrzeug.

Emad, der Chauffeur, begleitet uns fürsorglich, hält an übersichtlichen Stellen, versorgt uns mit kühlem Wasser, macht Fotos von uns und: geniesst unüberhörbar Klimaanlage und die gute Stereoanlage des Fahrzeugs meines Velo-Kameraden! 
 
 
Wir radeln. Die grau-schwarzen Berge haben sich zurückgezogen, es herrscht wieder gold-gelb vor. Eintönig, keine Hügel, nur noch sanfte Erhebungen. Es ist sehr heiss und obwohl ich ständig trinke, muss ich nie austreten (kein gutes Zeichen, wie ich drei Wochen später feststellte). Ich esse einen Apfel, ein Dattelkeks, ein paar Nüsse. Essen kann ich nicht besonders viel. Mein Kollege hingegen ist ständig mit Essen beschäftigt ;).

Die Luft flimmert in der Hitze. Immer wieder lass ich meinen Blick über diese für mich auch nach über drei Jahren seltsame, fesselnde Landschaft schweifen, sehe hinab zum glitzernden Meer und erblicke…. Fahrradfahrer? … Menschen auf Zweirädern?… Mountainbikes?... Ich frage mich, ob ich schon Halluzinationen habe und mir eine Fata Morgana einen Streich spielt. Ich mache Michael darauf aufmerksam. Nein, er sieht sie auch, die sind echt. Wir halten an, rufen und winken. Die Gruppe sieht uns und kommt uns entgegen. Es sind Biker aus einem nahe gelegenen Hotel, die mit ihrem Führer unterwegs sind. Unsere Begeisterung, Menschen auf Zweirädern zu begegnen, ist bedeutend grösser, als jene der Touristen. Unsereiner sieht hier ja nicht so oft Gleichgesinnte, sondern sind in Hurghada und Umgebung so ziemliche Exoten!

Kurz nach dieser Begegnung wird die Strasse einspurig und das Asphaltband verläuft direkt am Meer und feinem Sandstrand. Da und dort vergnügen sich Leute im Meer. Wir radeln weiter unserem Ziel entgegen und nähern uns einem Umschlagsort für Phosphat. Wir werden in eine riesige Phosphat-Staubwolke gehüllt. Ein Frachtschiff wird mit Phosphat beladen, Lastwagen treten mit dem wertvollen Staub ihren langen Weg nach Kairo an. Ich male mir aus, unter welchen Bedingungen die Menschen hier arbeiten und dass früher oder später alle eine Staublunge haben werden.



Es wird heisser, Schweiss und Staub kleben im Gesicht, an Armen und Beinen. Schweigend radeln wir weiter, jeder mit seinen Gedanken, Eindrücken und Leiden beschäftigt. Kurze Wortwechsel lenken uns ab, muntern uns auf. Berge und Hügel zeigen sich wieder abwechslungsreicher und ich spüre wieder den Wunsch, irgendwann in diesem Gebirge mit dem Mountainbike unterwegs zu sein.
 
 

Wir passieren die Minengesellschaf und das heisst: noch 15 km bis El Quesir! Ich sende dem Direktor des Hotel Mövenpick ein Sms, um unsere Ankunft anzukündigen. Kurz darauf erreichen wir die Hotel-Einfahrt und lassen uns von Emad fotografieren. Müde, aber stolz und voller Freude versorgen wir unsere Räder und mischen uns nach einer Dusche unauffällig unter die Hotelgäste. Duschen, Strand, Baden, Essen, Pool, fast etwas anstrengend wird es, denn wir wollen die schöne Hotelanlage voll und ganz geniessen ;). Danke Mehdy!
 
 
Bei Einbruch der Dunkelheit setzen wir uns ins Auto und fahren mit vielen beglückenden Eindrücken und schweren Beinen unter dem Wüsten-Sternenhimmel nach Hause.

Dank Michael konnte ich diesen Radausflug unternehmen. Allein ist das als Frau momentan nicht zu empfehlen. Aber gemeinsam sind weitere Ausflüge machbar. Für mich bedeutet dies eine neue Lebensqualität.
Eckdaten: 130km, 4 Stunden Fahrzeit, viele Liter Wasser und Rückenwind (zum Glück!)