Montag, Juni 25, 2012

Revolution: Was hat’s gebracht?

Das frage ich mich immer wieder: was hat der Aufstand gebracht? Wofür sind fast 1‘000 Menschen gestorben? Wofür ist die Wirtschaft ruiniert und sind Investoren zurückgeschreckt worden? Ägypten hat nichts von dem erreicht, wofür es im Winter 2011 zu Hunderttausenden auf die Strassen ging.

Oder doch?

Etwas hat sich ganz klar geändert. Wenn ich an meine ersten politischen Gespräche vor vier Jahren mit Ägyptern zurück denke, dann erinnere ich mich vor allem an eines: mein Gegenüber blickte vorsichtig um sich, flüsterte leise, dass ich den Namen (Mubarak) nicht erwähnen dürfe, dass wir hier nicht reden dürften oder wenn, dann nur sehr leise und vorsichtig und manchmal wurde ich aufgefordert zu schweigen. Niemand wagte, offen Kritik auszusprechen, niemand wagte, meine naiven Fragen ehrlich zu beantworten. Es waren Fragen von einer, die in einem freien Land, mit freien Gedanken, mit einer gewissen Vorstellung von Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenrechten aufgewachsen war. Aus meinen Fragen sprang wohl pures Unverständnis. Weder in Bussen noch in Cafés hörte ich je irgendjemanden über Politik reden – ok, ich verstand es damals wohl auch nicht L.

Manchmal kam mir vor, die Ägypter spielten mir etwas vor oder übertrieben. Mit der Zeit verstand ich aber, dass begründete Angst dahinter war. Ich erfuhr, dass Menschen allein wegen einer Äusserung hinter Gitter gebracht werden konnten und gefoltert wurden. Oder sogar noch wegen weniger, nämlich, wenn jemand zum falschen Moment am falschen Ort war.

Es gab keine wirklich freien Medien und deshalb auch keine öffentliche Kritik gegenüber der Diktatur. Bücher und Filme wurden zensuriert.

Natürlich gab es im Untergrund Aktivisten, gab es Blogger und Versuche für Oppositionsmedien. Aber der Staat war stärker und zensurierte, verbot, verurteilte, folterte.

Mir kamen die Leute apathisch vor. Jeder duckte sich, schwieg, ging seines Weges. Ich erinnere mich, wie ein in der Schweiz wohnhafter Ägypter seine Landsleute genau so beschrieb. Das war im Sommer 2010.

Heute redet jeder über Politik, sogar Taxifahrer und Busfahrer; auch Verkäufer im Supermarkt oder in der Bäckerei fragen beinahe jeden Kunden, was er zu den aktuellen Ereignissen meint. Auch ich als Ausländerin werde gefragt. Die Leute sitzen bei Parlamentsdebatten und während den Wahlen in den Cafés vor den Fernsehern wie sonst nur bei lokalen Fussballübertragungen.

Es gibt kritische Medien, es gibt oppositionelle Zeitungen. Und es gibt natürlich Facebook und Twitter und Blogs. Sie wurden zu meinen wichtigsten Informationsquellen.

Und noch etwas hat sich verändert: die Menschen hier haben plötzlich realisiert, dass sie eine Stimme haben. Sie haben realisiert, dass sie Macht haben, wenn sie sich zusammen tun. Sie haben gemerkt, dass sie das verändern können, was über 30 Jahre lang unveränderlich schien. Ägypter sind aufgewacht. Positiv, oder?

Aber eben, sie sind „erst grad“ aufgewacht. Sandmonkey schrieb auf seinem Blog so treffend: Ägypter sind ungeduldig. Es ist als ob sie in einem Fussballspiel gegen die weltbeste Mannschaft – z.B. Brasilien – in der 12. Minute ein Tor erzielt hätten. Und sie feiern ausgelassen und vergessen dabei, dass ja noch 88 Minuten zu spielen sind.

Der Anfang ist gemacht, der Weg ist weit, besonders für ein so ungeduldiges und temperamentvolles Volk wie die Ägypter.


Sonntag, Juni 24, 2012

Der neue Präsident von Ägypten…

… ist Mohamed Mursi, ein Muslimbruder. Ich habe die Bekanntgabe der Wahlkommission live auf Al Jazeera mitverfolgt. Was für ein langatmiges blablabla für gefälschte Wahlen!

Als der Wahlsieger genannt wurde, wurde mir fast schlecht. Aber das wäre es mir auch bei Ahmed Shafiq geworden.

Ich sagte mir dann aber, es ist beruhigend, dass
  • Mursi kaum Macht haben wird,
  • das Parlament neu gewählt werden muss und kaum mehr eine islamische Mehrheit haben wird,
  • er und seine Partei in den letzten Tagen viele Zugeständnisse an die Liberalen und an die Minderheiten des Landes gemacht hat
  • der Militärrat kein Interesse an einem islamischen Staat hat.

Ich war sicher, Shafiq würde Präsident. Nach den zahlreichen Winkelzügen des Militärrates während der letzten Tage habe ich aber meine Zweifel gekommen. Das Resultat ist jedoch dasselbe: die Macht bleibt beim Militär.

Bleibt nun abzuwarten, welche Abmachungen das Militär und die Muslimbrüder getroffen haben und wie clever die Liberalen handeln werden. Wichtiges steht an: die Verfassung endlich festzulegen und ein Parlament zu wählen. Und irgendwann sollten sich die Herrscher mal wieder um Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Bevölkerungswachstum und so weiter und so weiter und so weiter … kümmern.

B. hat sein Leben lang nie überlegt, ob er auswandern soll, obwohl er Verwandte im Ausland hat und deshalb gute Chancen hätte, ein Visum zu bekommen. Doch jetzt hat er so grosse Angst vor der Zukunft, dass er erstmals ernsthaft daran denkt, seine Heimat zu verlassen. Er ist Kopte.

Samstag, Juni 23, 2012

Am Strassenrand

Ein alter Mann kauert am Strassenrand. Neben ihm sitzt eine sehr junge Frau mit einem Kleinkind. Seine Tochter? Seine Frau?

Es ist morgens um sieben, unter dem aufgespannten Sonnenschirm ist die Temperatur noch angenehm. Zwei Holzkistchen sind auf das Trottoir gestellt: darüber liegt ein Tuch und darauf säuberlich ausgebreitet ein paar Säckchen Kerne und Nüsse, Papiertaschentücher, Zigaretten, Chips. Dinge, die niemand braucht und doch jeder kauft.

Als ich mit meinem Rennrad vorbei fahre, hält der Mann die Hand zum Gruss hoch und ruft freundlich. Ich lächle und grüsse zurück.

Aber mein Lächeln gefriert. Die Szene ist nicht mitten in der Stadt und auch nicht mitten in einer Wohnsiedlung. Sie ist draussen auf der Ringstrasse vor einem immens grossen Kreisel. Es ist morgens um sieben und es hat schon über 30° C. Wer hält hier an, um den Leuten was abzukaufen? Wie lange harren die beiden mit Kind in der Hitze auf dem Trottoir aus? Was machen sie am Mittag, wenn es im Schatten 40° C wird? Wie kommen sie zu kühlem Wasser?

Überhaupt: wie sind sie da hinaus gekommen? Ich rechne: ein Säckchen Kerne kostet vielleicht zwei bis drei Pfund. Sie schlagen vielleicht 50 Piaster oder ein Pfund drauf. Oder vielleicht sogar zwei. Was bleibt da am Ende des Tages übrig? Vorausgesetzt, sie können auch etwas verkaufen, sind es vielleicht 20 Pfund. Dafür gibt es 3 Kilo Reis, ein grosser Stapel subventioniertes Fladenbrot, ein Huhn, ein Drittel Kilo Fleisch oder einen Sack voll Gemüse. Bei Obst wird es schon schwieriger, Melonen sind billig, Mangos gäbe es nur eineinhalb Kilo.

Dieses Lächeln… es geht mir nicht mehr aus dem Kopf… so freundlich… so zufrieden… und so ehrlich…
Und in meinem Magen bleibt beim Gedanken an die Szene ein Klumpen, wie so oft, wenn ich hier unterwegs bin. Ob es den vorbei fahrenden Mercedes-Kompressor- und BMW-Fahrern wohl auch so geht?

Dienstag, Juni 19, 2012

Machtspiele - todernst

Noch bevor die Wahllokale schlossen, hat der Militärrat einen weiteren Poker gespielt: ein Dekret zur Übergangsverfassung räumt dem Militärrat nun praktisch die Macht über alle staatlichen Funktionen ein.

Wer immer als nächster Präsident ernannt wird – er wird sein Amt nicht lange ausüben.

Man redet von einem „weichen“ Staatsstreich seitens des Militärs. Und es gibt viele Gerüchte: Am Donnerstag – wenn die Wahlresultate veröffentlicht werden - werde Blut fliessen. Schon seit Montagabend feiern sich beide Kandidaten als Sieger, als ob sie damit Fakten schaffen wollten. Es wird empfohlen, Lebensmittel einzukaufen, weil eine Ausgangsperre (über Kairo?) verhängt werden soll.

Vorsorglich hat der Militärrat bestimmt, dass auch Zivilisten, die sich „auffällig“ verhalten, von der Militärpolizei festgenommen werden können. Und die Muslimbrüder wissen nichts Schlaueres, als zu erneuten Demonstrationen aufzurufen. Sie wollen ihren Präsidenten und wenn sie ihn nicht bekommen, dann sei das Wahlbetrug und dann drohen sie mit Aufständen. Und mit einer zweiten Revolution drohen sie. Ausgerechnet sie, die im Januar und Februar 2011 mit Abwesenheit glänzten.

Einer meiner ägyptischen „Schüler“ meinte heute, die Polizeieinheiten des Innenministeriums seien eines – aber die Militärpolizei sei nochmals ganz was anderes. Das kann die nächsten Tage nicht gut heraus kommen. Ausnahmsweise habe ich kein gutes Gefühl. Was Machtgier doch alles zerstören kann.

Seit eineinhalb Jahren sitze ich  im Theater der Weltbühne und verfolge aufmerksam ein Bühnenstück, in dem ein Staat durch jene zerstört wird, die lediglich ihre persönlichen (wirtschaftlichen bzw. religiösen) Interessen verfolgen. Ein Drama ersten Grades.


Montag, Juni 18, 2012

Einfach heiss

Ganz banal: es ist heiss. Der Mai war schon viel zu heiss. Jetzt ist Mitte Juni und die Temperaturen klettern auf knapp 40° C im Schatten. In der Sonne fühlt sich das an, als ob ich mich in einem geheizten Backofen aufhalten würde, je nachdem mit oder ohne Heissluft. Mit Heissluft hat den Vorteil, dass der Schweiss in den Kleidern und am Leib schnurstracks trocknet; ohne Heissluft hat auch einen Vorteil: der Sand bleibt genauso am Boden kleben wie der Schweiss am Körper.

Theoretisch wird es hier am Roten Meer nicht mehr heisser, auch im Juli und August nicht. Aber wer weiss? Ägypten ist ja für allerhand Überraschungen gut J.

Folglich ist es momentan im (nicht am) Meer am angenehmsten, woanders gibt nur noch die Klimaanlage Kühlung. Nicht mal die Dusche verspricht Abkühlung – es sei denn, man duscht um fünf Uhr morgens.

Die weniger Glücklichen arbeiten auch bei diesen Temperaturen in der prallen Sonne oder in überhitzten Minibussen, Cafés, Taxis, Geschäften etc. Hut ab vor denen! Das soll man einer nachmachen, der meint, Südländer seien weniger fleissig.

Ich kann’s nicht, obwohl ich mit der Hitze recht gut klar komme. Aber ich brauche meine Siesta und Einkäufe und anderes erledige ich lieber nachts – da hat’s noch immer 30° C…

Sonntag, Juni 17, 2012

Ehrliche Wahlen?

Gestern und heute dürfen sich die Ägypter zwischen den zwei schlimmsten Vertretern als künftigen Präsidenten entscheiden: entweder für einen Islamstaat, deren Vertreter Lügner sind, oder zurück zur alten Diktatur. Letzteres wird natürlich von Shafiq nicht so verkauft, sondern momentan verspricht er Demokratie und betont, dass es keinen Weg zurückgebe!

Die Menschen sind innerlich zerrissen. Für wen sollen sie sich denn auch entscheiden? Welcher ist das kleinere Übel (es geht gar nicht darum, wer der Bessere ist!). Viele Ägypter wählen deshalb überhaupt nicht oder geben einen ungültigen Stimmzettel ab, oft schreiben sie darauf „Nieder mit dem Militärregime“ und „Nieder mit den Muslimbrüdern“.

Munter geht der Wahlbetrug inzwischen weiter. Da wurden Stimmzettel entdeckt, auf denen  bereits ein Kreuz für Mohamed Mursi aufgedruckt  war. Offiziell sprach man von einem „Druckfehler“ und die Wahlzettel wurden ersetzt.

Die lustigste Nachricht ist aber die Folgende: angeblich wurden in den Stimmlokalen Stifte verwendet, deren Farbe nach einer gewissen Zeit unsichtbar werden soll! An Fantasie fehlt es in Ägypten tatsächlich nicht – sei es, dass die Meldung stimmt oder einfach eine Zeitungsente ist.

Die Muslimbrüder haben inzwischen den Entscheid des Verfassungsgerichts angefochten, wonach das Parlament verfassungswidrig sei. SCAF hat dessen Auflösung angeordnet und Soldaten vor die Eingänge des Parlamentsgebäudes postiert, um den Parlamentariern den Zugang zu verweigern.

Ehrlich sind auch diese Wahlen nicht. Aber das ist ja eigentlich völlig egal. Möglicherweise sind es die letzten für eine lange Zeit. In Diskussionen höre ich oft, bei den nächsten Wahlen in vier Jahren werde es dann anders. Ich habe meine Zweifel, dass es überhaupt zum „nächsten Mal“ kommen wird. Das Spiel „Demokratie in Ägypten“ ist vorerst beendet, die Spieler sind weggeräumt, die Spielregeln zerrissen, das Spielbrett im Nil versenkt. Jetzt werden noch die letzten Reste weggewischt und dann geht der Alltag weiter wie vor dem 25. Januar 2011.


Donnerstag, Juni 14, 2012

Was für ein Chaos

Das Verfassungsgericht hat heute entschieden, dass das Gesetz betreffend Parlamentswahlen verfassungswidrig ist. Das heisst, das Parlament, welches im November vergangenen Jahres gewählt wurde, muss aufgelöst werden.

Trotzdem sind alle vom (ungültigen) Parlament erlassenen Gesetze gültig. Also auch jenes, Diener des alten Regimes während zehn Jahren vom Recht als Präsidenten zu kandidieren, auszuschliessen.

Doch genau dieses Gesetz hat das Verfassungsgericht nun ungültig erklärt – und somit Ahmed Shafiq grünes Licht gegeben.

Was für ein Chaos! Ägypten lebt seit Februar 2011 ohne gültige Verfassung – es gibt nur eine Übergangsbestimmung – und ohne gültiges Parlament. Eine verfassunggebende Kommission ist schon einmal auseinander gebrochen, weil die Islamisten die Verfassung diktieren wollten. Eine neue Kommission wurde unter Druck des Militärrates vor ein paar Tagen einberufen – sie droht aber ebenfalls schon wieder auseinander zu fallen.

Die Übergangsbestimmungen geben dem Obersten Militärrat gesetzgebende Macht. Die vom Militärrat eingesetzte Übergangsregierung ist faktisch machtlos und nun ist auch noch die Bahn frei für einen regime- und militärtreuen Präsidenten.

Und wie durch ein Wunder fällt wieder alle Macht ans Militär! Klug orchestriert, clever inszeniert! Die Islamisten sind kurz vor Erreichung ihres Zieles mit einer einzigen Handbewegung von der Bühne gewischt worden.

Nur: wie geht es jetzt weiter? Werden die Präsidentschaftswahlen verschoben? Wird die Verfassung vorher geschrieben? Werden die Parlamentswahlen zuerst oder später wiederholt? Oder ist alles gar nicht mehr nötig?

Das Militär darf seit gestern auch wieder Zivilisten ohne Haftbefehlt festnehmen – Aufhebung des Notstandsgesetzes hin oder her. Alles deutet auf eine klare Strategie hin: der Status Quo von vor dem 25. Januar 2011 wird mit aller Gewalt wieder hergestellt. Mit aller Gewalt, möchte ich betonen.

Ich habe nie ernsthaft daran geglaubt, dass die Islamisten ihr Ziel erreichen – das Militär würde das nie zulassen. Sie lassen überhaupt keine andere Macht zu. Ich glaube auch weiterhin an Überraschungen, wie diese heute. Und wieder frage ich mich, weshalb es nicht innerhalb des Militärs zu einem Putsch kommt?

Allerdings graut mir beim Gedanken, was nun all den Aktivisten bevorsteht. Die Berichte über die gezielten und organisierten sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen vor ein paar Tagen auf dem Tahrir Platz lassen erahnen, wie es weiter gehen wird.

Was für ein Chaos – auf den ersten Blick. Aber wenn man näher hinsieht stellt man fest: alles hat seinen Grund, alles seinen Zweck.

Ägypten ist nicht reif für eine Demokratie - weil es der Militärrat nicht will.

Samstag, Juni 09, 2012

Unerwartete Begegnung auf dem Meer

Ich habe sie gesehen: silbergrau schimmern sie durch die Wasseroberfläche, holen Anlauf und hüpfen dann in einem eleganten Bogen über die Wellen, wieder hinein ins tiefblaue Meer; verschwinden aus dem suchenden Blickfeld des hoffenden Beobachters und tauchen dann plötzlich woanders wieder auf, ihr scheinbares Spiel für einige Minuten wiederholend.


Delfine. Ich habe heute Delfine gesehen. Echte Delfine im Roten Meer vor Hurghada. Ihr Anblick war für mich wie ein überraschendes Geschenk. Freudentränen kullerten mir über die heissen Wangen, während die Rückenfinnen der Delfine mit den silbernen Wellenkronen in der Ferne verschmolzen.