Montag, Dezember 31, 2012

Gutes Neues Jahr Ägypten

Eigentlich wollte ich nicht nochmals Wünsche zum Jahreswechsel veröffentlichen. Doch mit den vielen katastrophalen Nachrichten, die momentan aus Ägypten kommen, wünsche ich mir und Ägypten von ganzem Herzen:

Möge das Neue Jahr Ägypten ein Wunder bringen!

Ein Ausweg aus der desolaten wirtschaftlichen und verfahrenen politischen Situation ist für normal denkende Menschen nicht mehr vorstellbar. Ägypter sehen das anders. Zwei meiner ägyptischen Bekannten (eine davon Aktivistin) und ein bekannter Blogger und Aktivist haben während den vergangenen drei Wochen das gleiche ausgedrückt: sie erwarten, nein, sie rechnen mit dem Unerwarteten, mit einer Überraschung, wie sie für Ägypten typisch ist. Und sie zählen auf den zweiten Jahrestag des 25. Januar 2011.

Wundern würde mich auch das nicht mehr...



Sonntag, Dezember 23, 2012

Verfassungs-Referendum beendet

Vergangene Nacht ist der zweite Teil der Abstimmung über die umstrittene Verfassung abgeschlossen worden.


Noch bevor das offizielle Ergebnis bekannt gemacht wird, hat Mursi bereits 90 Mitglieder des Shura Councils (Ratsversammlung) bestimmt; er hätte dies erst danach tun dürfen. Die Mitglieder des Shura Council dürfen Gesetze erlassen, solange noch kein Parlament gewählt worden ist. Für mich und viele andere ist das ein weiterer Hinweis, dass das Ergebnis über die Abstimmung von vornherein klar war.

Die Abstimmung verlief gemäss Augenzeugen so regelwidrig wie noch nie in Ägypten; dabei hat das Land reiche Erfahrung mit gefälschten Wahlresultaten. Doch alle Beweise von Manipulation, Stimmenkauf, Zwang, Verhinderung, Drohung, Einschüchterung, zu spät geöffneten oder zu früh geschlossenen Wahlbüros, falschen und fehlenden Aufsehern nützen nichts. Es gibt keine Möglichkeit, Recht und Gerechtigkeit einzufordern, denn Ägypten ist zu einem rechtslosen Staat geworden: es herrscht die Willkür der Muslimbrüder.

In diesem Vakuum brodelt es in der Gerüchteküche: Mursi sei schwer krank, ist zu lesen; der Chef der Zentralbank sei letzte Nacht zurück getreten. Dieser Rücktritt wurde allerdings wieder dementiert. Wo Rauch ist, ist auch Feuer, heisst ein Sprichwort. Deshalb wundert mich überhaupt nichts mehr. Ich wäre nicht überrascht, wenn Mursi als psychisch krank erklärt würde und endlich Khairat El Shater ans Ruder käme. Er ist derjenige, der ursprünglich als Präsident der MB kandidiert hatte und dann nicht zugelassen wurde. Einen Vize-Präsidenten gibt es nicht mehr, der ist bereits vorgestern zurückgetreten. Mich würde auch nicht mehr wundern, wenn die Position des Zentralbank-Präsidenten und andere Schlüsselstellen in Finanz und Wirtschaft durch MB Leute ersetzt würden. Was jetzt abläuft, dient nur noch dem Schein nach als „rechtlich korrekt“.

Aber noch sind das ja Gerüchte und meine persönlichen Spekulationen. Letztere waren auch schon völlig falsch, wie z.B. jene, dass das Militär die MB niemals an der Macht dulden würde. Sie dulden, weil sie Garant dafür sind, dass die Pfründe des Militärs nicht angetastet werden. Werden sie auch dulden, dass das Land noch weiter abstürzt und damit ihre Pfründe in Gefahr geraten?

Ägypten wird sich bald entsetzt die Augen reiben, wenn es sieht, was da auf sie zukommt und was um es herum geschieht. Der Präsident (ich sage nun bewusst nicht Mursi) hat mehr Macht in seinen Händen, als Mubarak je hatte! Wehret den Anfängen…

… ich glaube, es ist zu spät.

Donnerstag, Dezember 13, 2012

Muslimbrüder zeigen ihr wahres Gesicht

„Wir müssen ihm eine Chance geben“ sagten die Ägypter nach der Wahl Mursis zum Präsidenten Ägyptens. Sie wollten nicht sehen, was sich da anbahnte.


Fünf Monate lang tat Mursi nichts für Ägypten. Er reiste in der Welt herum, bettelte um Geld,  Investitionen und Vertrauen. Er erzählte, dass in Ägypten eine neue Zeit angebrochen sei, in der Demokratie und Gerechtigkeit herrsche und dass es dem Volk bald besser gehen werde.

Ende November schlug er, bzw. schlugen die Muslimbrüder zu. Morsi gab sich mit einer Verfassungserklärung weitreichende Befugnisse, die ihn über das Gesetz und über die Gerichtsbarkeit hob. Damit widerstiess er gegen einen Grundpfeiler der Demokratie und gegen Rechtsstaatlichkeit: Gewaltentrennung.

Montag, Dezember 10, 2012

Nochmals nach El Quesir

Im November machten wir uns nochmals auf nach El Quesir, mein Velo-Gspänli und ich. Die Fahrt verlief ruhig, der Rückenwind unterstützte uns erneut und wir erreichten unser Ziel wieder nach rund vier Stunden (reiner) Fahrzeit.

Wir duschten und erholten uns in einem sehr einfachen Camp. Ich weiss nicht, wie es Taucher hier längere Zeit aushalten, denn die Einrichtung ist wirklich äusserst bescheiden. Es gibt Hütten aus Schilfrohr und Palmwedeln, gemeinschaftliche sanitäre Anlagen mit fliessend Wasser; als wir dort waren, gab es grad keinen Strom. Am Strand hat es ebenfalls Hütten und ich kann mir vorstellen, dass es romantisch ist, frisch verliebt eine Nacht direkt am Strand in solch einer Hütte zu verbringen und dem Meeresrauschen zu lauschen… sofern man die Moskitos fern halten kann. Die Lage ist beeindruckend und der Blick auf Berge, Wüste und Meer hinreissend. Hier sind einige Bilder:







Mein Verlangen nach Abwechslung, Wissen und Kultur trieb mich dazu, diesmal mehr von El Quesir sehen zu wollen. Es war mir schon länger bekannt, dass hier Phosphat abgebaut wird und dass Italiener in den Bergbau investiert hatten. Ich wollte das Gelände sehen, welches von den Italienern vor rund 100 Jahren erbaut worden war (heute erfolgt der Phosphatabbau ca. 25 km nördlich von El Quesir). Zwei in El Quesir lebende Deutsche führten uns auf verschlungenen Wegen und durch staubige Gassen zum Werksgelände.

Voller Neugier, erstaunt und verwundert traten wir vorsichtig in die zerfallene Werkshalle, lugten durch zerbrochene Fensterscheiben, querten den riesigen Platz zwischen Werksgelände, Verwaltungsgebäude, Villen und Kirche. Heute ist es eine Geisterstadt, scheint hastig verlassen; aber ich stellte mir vor, wie hier einst Betriebsamkeit geherrscht hat, italienische Sprache und Kultur, ägyptische Hilfskräfte, laue Abende auf den Veranden mit einem Glas Rotwein, schweisstreibende Hitze tagsüber. Ein farbiger Stummfilm spielte sich vor meinem inneren Auge ab. 
Im Verwaltungsgebäude sind noch ausgestopfte Jagdtrophäen zu sehen, verstaubt, dem Zerfall preisgegeben. Besonders angetan hat es mir eine Villa im toskanischen Stil: hohe Räume, Veranden, leuchtend gelb, Palmen, ein grosser Garten, Blick aufs Meer… Das einzige Gebäude, das renoviert und heute noch verwendet ist, ist die Kirche, die nun koptisch ist. Hier sind einige Eindrücke:







Ich war überglücklich, endlich mal wieder etwas „Hirnnahrung“ erhalten zu haben und fühle mich einmal mehr darin bestätigt, dass diese Gegend weit mehr bietet, als nur Sonne, Strand, Meer und Tauchen. Der Tag verlief ganz nach meinem Geschmack: Sport, Kultur, nette Menschen und zum Abschluss Fischessen direkt auf dem Strand unter dem Sternenhimmel.



Übrigens war El Quesir in der Antike und im Mittelalter ein wichtiger Hafen und da und dort gibt es noch Funde zu bestaunen…

Samstag, Dezember 08, 2012

Städte erklären Unabhängigkeit

Mehrere Städte, darunter Alexandria und das durch seine Streiks berühmt und zum Vorbild für Unbeugsamkeit gewordene Mahalla El-Kobra, haben heute Nacht ihre Unabhängigkeit von einem durch die Muslim Brüder geführten Ägypten erklärt und die MB-getreuen Gouverneure verjagt.

Hunderttausende sind in Kairo auf dem Tahir-Platz und vor dem Präsidentenpalast, um gegen Mursi und die Muslim Brüder zu protestieren. Sie haben immerhin erreicht, dass das Referendum verschoben wird.

Ägypten bewegt sich, Ägypten schreibt weiter an seiner Geschichte auf dem langen, beschwerlichen Weg zu Demokratie. Und die westlichen Medien berichten … nichts oder nur nebenbei! NZZ online, meine „Referenz-Quelle“ spricht von „Tausenden“ demonstrierenden Ägyptern. Was ist los? Was ist anders als im Januar/Februar 2011?


Donnerstag, Dezember 06, 2012

Krawalle in Kairo

Erneut Krawalle in Kairo. Das sind wieder die Schlagzeilen, die um die Welt gehen. Wer hinter den Krawallen steht, erfährt man von den meisten Medien nicht.


Al Jazeera berichtete Frühling 2011 praktisch rund um die Uhr von den Ereignissen in Kairo. Seit die MB an der Macht sind, hält sich der Sender zurück. Warum? Qatar unterstützt die MB und Al Jazeera gehört dem Emir. Doch gestern hat Al Jazeera wieder ausführlich berichtet. Nicht nur mir fällt auf, dass die westlichen Medien mit Kritik gegenüber den Muslimbrüdern sehr zurückhaltend sind. Wie Fähnchen im Wind...

Seit die Muslimbrüder und Salafisten demonstrieren gibt es Schwerverletzte und Tote. Sie sind wieder mit Bussen herangekarrt worden und scharf bewaffnet. Oppositionelle wurden einzeln aus der Menge geschleppt, hinein in die Menge der Islamisten und dort brutal zusammen geschlagen. Muslimbrüder und Salafisten, das sind die ganz „Heiligen“, die sich hinter ihrer Religion verstecken, die ihren „demokratisch gewählten“ Präsidenten mit Gewalt verteidigen! So haben sie‘s angekündigt und sie haben ihr Wort gehalten. Was die Ägypter schon seit ein paar Tagen befürchteten, ist eingetroffen.

Wo ist der Präsident? Gestern liess er seinen Vize mitteilen, dass er zu einem Kompromiss betreffend Verfassungsstreit bereit sei. Weshalb hat er sich nicht selbst vor die Medien gestellt? Hat er Angst? Weigert er sich, die Linie der MB weiter zu vertreten? Weshalb muss er in der Krise mit dem Führungsgremium der MB eine dringliche Sitzung abhalten? Er ist doch offiziell von den MB ausgetreten!

Ägypten wird nicht von einem „demokratisch“ gewählten Präsidenten regiert, sondern von den Muslimbrüdern. Denen sind das Volk und deren Demokratie-Gelüste egal; sie wollen ihr eigenes Reich aufbauen und ausdehnen. Mit Gewalt, mit Repression, mit Diktatur. Typisch für diese Strategie:  El Baradei, Amr Moussa, Hamdeen Sabbahi und zwei weitere Personen sind angeklagt worden, sie wollten das Regime stürzen und seien Spione; das ist Staatsverrat. Die drei genannten kandidierten in den letzten Präsidentschaftswahlen und stehen der „Nationalen Rettungsfront“ vor, welche die Opposition vereint und anführt.

Die Ägypter haben die Schnauze voll von Diktatur und scheinheiligem Getue und werden nicht aufgeben.

Update: angeblich soll Mursi heute vors Volk treten.

Mittwoch, Dezember 05, 2012

Opposition vereint

Gestern Nachmittag und in der Nacht wurde in jeder Stadt Ägyptens demonstriert. Ich bin beeindruckt und ich freue mich. Die Opposition hat sich zusammengeschlossen und dem Präsidenten ein Ultimatum mit drei Forderungen gestellt: die Verfassungserklärung zurücknehmen, das Referendum über die Verfassung absagen und eine neue, das Volk repräsentierende, Verfassunggebende Versammlung ist einsetzen.


Als gestern Abend bekannt wurde, dass Mursi den Präsidentenpalast verlassen hat, brach riesiger Jubel aus. Die Leute um mich herum tobten… dabei hat das ja noch gar nichts zu bedeuten. Beeindruckt war ich gestern auch vom Marsch inmitten der Frauen und Männer. Viele hielten selbst gezeichnete Plakate hoch, am häufigsten las ich „Verschwinde“. Und das war auch der häufigste Ruf. „Nieder mit dem Regime Mursi“ und „Freiheit“ waren andere. Die Forderungen sind überall gleich, die Sprüche, Sätze und Gesänge erklangen in Alexandria, Kairo, Luxor und Assiut nicht anders als in Hurghada.

Was geht im Kopf eines Menschen vor, der zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident eines vor Problemen beinahe erstickenden Landes verspricht, er werde ein Präsident für alle sein, er werde die Forderungen der Revolution schützen, er werde die Lebensbedingungen verbessern, gegen die Korruption kämpfen und so weiter… und kurz darauf entpuppt er sich zum schlimmsten Diktator aller Zeiten? Ist das Politik?

Auch in Hurghada waren gestern noch mehr Menschen auf der Strasse. Und diesmal auch auf den Balkonen. Die jungen Frauen vor mir fuchtelten wild in Richtung einiger Balkone und halb geöffneter Fenster, zeigten ihre Schilder und riefen „Freiheit“. Ich folgte ihren Blicken und sah diese schwarz verhüllten Geister im Halbdunkel… mich schauderte… die Gespenster dort oben bewegten ihre Fäuste nach unten. Die Frauen vor mir schrien umso lauter „Freiheit“.

Wie geht’s weiter? Wird Mursi dem Druck nachgeben oder gar zurück treten? Wenn er nur nachgibt, ist zwar eine kleine, wichtige Schlacht gewonnen, aber der Weg zu „Brot und Freiheit“ bleibt noch lang. Sollte er zurück treten: wer oder was folgt dann? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bärtigen klein beigeben. Sie kämpfen mit allen Tricks, um ihr Reich auszubauen. Ich hoffe, die Ägypter geben nicht auf.

Dienstag, Dezember 04, 2012

Hurghada heute Abend



Zu Deutsch: Befreit Ägypten von Morsy und seinen Muslimbrüdern.

Medien im Ausstand

Ich wollte soeben die (ägyptischen) Nachrichten im Internet abrufen. Heute gibt es jedoch keine Nachrichten, denn einige Medien protestieren mit einem eintägigen Ausstand gegen die fortdauernde Einschränkung der  Medienfreiheit, „besonders nachdem Hunderte von Ägyptern ihr Leben für Freiheit und Würde gelassen haben“ Egypt Independent):

Ahram Online


Egypt Indipendent


Tahrir News


Sonntag, Dezember 02, 2012

Mitten aus einer Demonstration

Die Opposition hat vergangenen Freitag erneut zu Demonstrationen aufgerufen und die Menschen folgten dem Aufruf in ganz Ägypten.


Ich war wieder in Hurghada dabei. Die Aktivisten haben aufgerüstet: ein kleiner roter Lastwagen führte den Protestzug an. Auf ihm waren Lautsprecher befestigt und zwei oder drei Männer wechselten sich darin ab, durchs Megaphon die Parolen durchzugeben. Flaggen, Spruchbänder, Tafeln und Blätter mit den Slogans wurden vor dem Abmarsch verteilt.




Ein bisschen argwöhnisch betrachten mich die Wartenden. Als meine Arabischlehrerin S. kommt, ist das vergessen. M., einer meiner Schüler ist da und eine weitere Ausländerin gesellt sich dazu. Ich bin nicht mehr die Einzige! I., eine weitere Aktivistin, erinnert sich an mich und schüttelt mir die Hand.

Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Vorne der Lastwagen, dahinter Männer mit einem grossen Spruchband und der ägyptischen Flagge, dann wir Frauen, dahinter die Gruppe der Männer.

Frauen jeden Alters marschieren lauthals rufend neben, vor und hinter mir her. Sie halten Spruchbänder oder Flaggen hoch, recken im Rhythmus der Sprüche ihre Fäuste in die Luft. Mir wird auf die Füsse getreten, ich werde von hinten und von rechts und links gestupst. Eine Ägypterin hakt sich bei mir unter und sagt, sie wisse, dass ich eine Freundin von S. bin. Das gibt mir Legitimation, ich bin anerkannt.






Es ist heiss, viel zu heiss für diese Jahreszeit und es ist absolut windstill. Die meisten sind der Jahreszeit – und nicht den Temperaturen entsprechend – angezogen, also viel zu warm. Entsprechende Gerüche hängen in der Luft und vermischen sich mit dem Abgas des kleinen Lastwagens.

Ich trete anderen auf die Füsse, lächle, entschuldige mich, versuche eine Lücke zu finden, um das zu vermeiden. Dafür weht mir jetzt eine Fahne um den Kopf und versperrt mir den Blick. Zwischendurch stockt der Zug und ich drehe mich um, um Fotos zu machen. Da entdecke ich einen anderen Freund und winke ihm.