Freitag, Oktober 25, 2013

Getrübter Blick

Die El-Sissy-Mania wächst unaufhaltsam. Der Armee-Chef wird zum Helden hochgejubelt und auf gleiche Stufe wie die ehemaligen Präsidenten Gamal Abd El Nasser und Anwar El Sadat gestellt. Sein Bild ziert Geschäfte, Autos, Busse und Häuser. Kaum einer fragt sich, was er denn bisher geleistet hat (ok, er hat Ägypten vor einem Muslimbruder-Kaliphat bewahrt, das ist viel wert), kaum einer nimmt wahr, dass Menschenrechte weiterhin mit klobigen Stiefeln hart niedergetreten werden.

Aus der Armee und aus dem Volk erklingen unüberhörbar Stimmen, El Sissy solle Präsident werden. Bisher hat er diese Forderungen abgelehnt, allerdings nicht sehr überzeugend. Der Armeechef könnte diese Forderungen und dieses Anhimmeln mit einer klaren Aussage beenden, tut das aber nicht. Der Mann ist sehr klug.

So klug, dass ich mich inzwischen frage, ob das, was im Januar 2011 geschah, überhaupt eine Revolution war. Es war wohl eher ein Aufstand, der vom Militär dazu genützt wurde a) Kronerben Gamal Mubarak samt seinem seit einer Generation am Thron klebenden Vater loszuwerden und b) die Muslimbrüder ans Messer zu liefern. Das macht Sinn, denn damit hat das Militär seine Machtposition gestärkt.

Das wäre an und für sich ja nicht schlecht, wenn es dem Volk dadurch besser ginge. Ägypten gleicht jedoch immer mehr einem rechtlosen Staat, in dem sich weder die staatlichen Institutionen, noch der Bürger an das Recht halten. Das fängt im Strassenverkehr an und geht weiter zum Tragen von Waffen und deren Einsatz bei kleinsten Meinungsverschiedenheiten bis hin zu Überfällen und Angriffen auf Polizeistationen. Was tut der kleine Mann? Wenn er kann, bewaffnet er sich auch. Er tut, was ihm passt.

Gleichzeitig schlagen  Innenministerium und Polizei knallhart zu. Letztere ist gestärkt, neu ausgerüstet und in grosser Zahl aus dem Nichts plötzlich wieder überall präsent. Ich beschränke mich mal nur auf Hurghada:

-        Plötzlich stehen überall wieder Polizeihäuschen, blau angemalt und grösser als die gemauerten, weiss getünchten Hütten von früher; die Polizisten sitzen da und tun nichts, wie früher. Weder bringen sie Ordnung in den Wildwest-ähnlichen Strassenverkehr, noch beschützen sie Touristen und Spaziergänger vor Anmache und Belästigungen durch Verkäufer.

-        Kürzlich wurden mitten in der Nacht Häuser und Wohnungen durchsucht; Menschen wurden aus dem Schlaf gerissen, halb angekleidet auf die Strasse gezerrt und zur Polizeistation gebracht. Die Polizei nahm alle fest, die keinen „Heiratsvertrag“ (gemischte Paare, bei denen einer Ägypter ist), keine Arbeitserlaubnis (Ägypter) und kein gültiges Visum (vor allem Russen) vorweisen konnten. Festgenommen wurden auch Drogenhändler und Prostituierte.

-        Einer meiner Studenten schildert mir eine haarsträubende Geschichte, wonach eine Frau – sie rief „Er ist mein Mann! Er ist mein Mann!“ -  nur in ein Bettlaken gehüllt auf die Strasse gezerrt wurde; der Besitzer einer Whisky-Flasche musste ebenfalls mit zur Polizei.

Auch wenn die betroffenen Menschen gegen das gültige Gesetz verstossen haben (wer schert sich denn in dem rechtlosen Land darum?), haben sie es nicht verdient, so behandelt zu werden. Wie es in den Gefängnissen aussieht, kann man im Internet nachlesen. In den vergangenen Wochen sind mehrere Ausländer in ägyptischen Gefängnissen gestorben, haben sich angeblich das Leben genommen oder wurden nach mehrwöchigem Gefängnisaufenthalt frei gelassen und haben darüber berichtet.

Einer meiner Freunde ist momentan in Alexandria. Er sagt, die Menschen hätten grosse Angst. Angst vor noch mehr Anschlägen der Islamisten, nun wieder Angst vor der Polizei und Angst vor der Zukunft. Seit drei Jahren hoffen die Menschen vergeblich auf Gerechtigkeit, Brot für alle und ein Leben in Würde und Anstand.

Die dritte (oder ist es die vierte?) Übergangsregierung seit 25. Januar 2011 arbeitet an einem Gesetz, welches das Demonstrationsrecht massiv einschränken soll. Sollte das Gesetz wirklich erlassen werden, gleicht das einem Pulverfass. Die Menschen haben mehr als die Nase voll und wenn sie ihrem Frust Luft verschaffen wollen, riskieren sie ihr Leben. Das ist das einzig Nennenswerte, das die jetzige Übergangsregierung zustande gebracht hat. Offenbar, ist es das grösste Problem Ägyptens!

Es gibt keine wirkliche Regierung, es gibt keine wirkliche Opposition: Es gibt nur noch El Sissy. Irgendwie kann ich die Ägypter ja verstehen: Sie klammern sich an einen starken Mann, an jede Hoffnung. Irgendwie verstehe ich sie aber auch nicht: Wie können sie vergessen, was die Armee ihnen alles angetan hat? Der nächste Aufstand ist vorprogrammiert – es sei denn, El Sissy nimmt nicht nur ein paar kosmetische Korrekturen vor, sondern bewirkt echte Verbesserungen für alle Ägypter.


Samstag, Oktober 19, 2013

El Minya – eine Provinz in Angst

In Mittelägypten leben viele Christen (Kopten und Anglikaner); ihr Bevölkerungsanteil liegt gemäss Schätzungen bei 35 %. Schon lange werden sie von Islamisten drangsaliert und eingeschüchtert. Besonders nach dem Freitagsgebet ziehen die Islamisten durch El Minyas Strassen, skandieren Drohungen und beschmieren Hauswände, Kirchenmauern und –türen mit christenfeindlichen Parolen. Ab 19 Uhr wagen sich Christen und auch viele Muslime nicht mehr aus dem Haus.


Während den Racheakten auf die Absetzung Morsis in den Monaten August und September haben sie landesweit dutzende von Kirchen angezündet und zerstört. Wohnungen, Häuser und Geschäfte von Christen wurden gebrandschatzt. Das reich bestückte Nationalmuseum in Mallawi wurde geplündert; was die Räuber nicht mitnehmen konnten, haben sie zertrümmert. Die Region ist archäologisch und geschichtlich von grosser Bedeutung – doch der Touristenstrom geht an ihr vorbei.

Kein Wunder. Die Polizei unternimmt sehr wenig, um die Christen vor den Pogromen zu schützen, oder unterstützt sie sogar.

Einer meiner Studenten, M.A., kommt aus El Minya. Er war zwei Wochen auf „Zwangsurlaub“ in seiner Heimat und als er zurückkam, hat er mir Bilder von dort gezeigt und erzählt:

„Meine ehemalige Schule und das Waisenhaus liegen in Schutt und Asche, nur die verkohlten Aussenmauern stehen noch. Als ich noch in El Minya lebte, habe ich mich um die Waisenkinder gekümmert. Wo sie jetzt sind? Ich weiss es nicht… irgendwo… überall verstreut.“

*****

„Die Islamisten haben christlichen Familien gedroht: entweder bezahlten sie Schutzgeld oder sie würden verjagt oder umgebracht. Jenen, die das Schutzgeld bezahlten, haben die Islamisten ein Metallschild auf die Haustüre genagelt – klar sichtbar.“

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„Einer meiner Freunde, ein Familienvater und Besitzer einer Apotheke, wurde auf einer Überlandstrasse gekidnappt: ein Auto hat ihm aus einem Seitenweg fahrend den Weg abgeschnitten. Fliehen war sinnlos, ein Gewehr wurde ihm auf die Brust gesetzt. Die Kidnapper verlangten ein Lösegeld von 300‘000 Pfund (ca. 30‘000 Euro). Die Angehörigen wandten sich an die Polizei und baten um Hilfe. Die Polizei meinte jedoch, sie könne nichts tun, die Familie solle das Lösegeld bezahlen. Verwandte und Bekannte trieben das Geld auf.

Niemand war aber bereit, den Kidnappern das Lösegeld zu übergeben und den Familienvater zu erlösen. Alle hatten Angst, ebenfalls entführt zu werden. Ein junger Mann von 21 Jahren bot sich in der Diskussion mit Familienangehörigen, Dorfbewohnern und dem Priester an, das Risiko auf sich zu nehmen. Ob er denn keine Angst hätte, fragten sie ihn. Er erwiderte, dass sein Leben in Gottes Händen liege und er deshalb keine Angst hätte.

Er fuhr mit dem Auto zum vereinbarten Ort und übergab das Lösegeld. Doch den gekidnappten Mann sah er nicht. Es hiess, er würde ihn antreffen, wenn er da und da hinfahren würde. Das machte er und mitten auf einem Feldweg fand er den Gesuchten.

Als ich den Mann später anrief, antwortete er überglücklich und erleichtert: Gott sei Dank, Gott sei Dank, Gott sei Dank bin ich am Leben und wieder bei meiner Familie. Alles andere ist unwichtig.“

*****

Eine der Städte El Minyas, Delga, wurde im September in einem Grosseinsatz von Polizei und Militär von den schwer bewaffneten Islamisten gesäubert. Andere Städte und Dörfer leben weiter mit den Drohungen, Verleumdungen, Angriffen und Schikanen.

*****

„Meine Mutter wollte mich nach sieben Uhr abends nicht mehr auf die Strasse gehen lassen! Aber ich bin doch kein Kind! Ich kann doch nicht so eingesperrt leben! Ich bin so froh, bin ich wieder in Hurghada, auch wenn ich kaum etwas verdiene. Aber hier ist es verglichen mit meiner Heimat wie im Paradies!“

M.A. rief mich mehrmals während seinem Aufenthalt an, er wollte mich dorthin einladen. Es gibt dort ein neues Viersternehotel. Ich hoffe, ich habe noch die Gelegenheit, diese geschichtsträchtige Region zu besuchen.

Hier die Bilder von M.A.:

Waisenhaus

Konsumgüter Komplex

El-Amir Tadros Kirche

verbranntes Auto nahe der Kirche

verbranntes Auto nahe der Kirche

Waisenhaus

 (Die inländischen Medien haben zur zögerlich über die Anschläge von August und September berichtet; völlig geschwiegen haben lange Zeit die westlichen Medien.)

Ergänzung:
M.A. hat mir einen Video und ein Bild der betroffenen Person, Dr. Hany Mona, mit der Bemerkung geschickt, die Welt solle erfahren, was hier geschieht. Der Video ist leider nur in Arabisch:

http://www.youtube.com/watch?v=Ie3KJHlVOHo&feature=youtu.be


Samstag, Oktober 05, 2013

Flüchtlingsdrama

„Weltweite Bestürzung über Flüchtlingsdrama vor der Insel Lampedusa“ lautet eine der Nachrichten von gestern.

Was die Flüchtlinge durchmachen ist ein Drama; die Reaktion der europäischen Länder und ihrer Politiker ist scheinheilig. Denn:

  • Die Flüchtlinge wären nicht ertrunken, wenn nicht auf sie geschossen worden wäre.
  • Es wäre nicht auf sie geschossen worden, wenn es dazu keine Befehle seitens der Regierungen der EU-Länder gäbe.
  • Es gäbe keine Schiessbefehle auf Flüchtlinge und auch keine Flüchtlinge, wenn in ihrer Heimat ein friedliches und anständiges Leben möglich wäre.
  • Ein friedliches Leben wäre möglich, wenn die Grossmächte die Kriegsparteien nicht finanziell und materiell unterstützen würden, um ihre eigenen Interessen zu schützen.
  • Wenn die Grossmächte nicht ihre eigenen Interessen schützen würden, sondern die Menschen, dann könnten Syrer und andere Völker in ihrem Land bleiben und würden nicht von Regierungstruppen, Rebellen oder Bootspatrouillen auf Hoher See, bei Angriffen auf Einkaufszentren oder Protesten erschossen.

So logisch ist das und deshalb sind es nicht die ersten Flüchtlinge, die in der Hoffnung auf ein anständiges Leben umgekommen sind, und sie werden auch nicht die letzten sein, solange die Prioritäten auf geopolitischen Strategien liegen und nicht auf Humanität. 

Scheinheiligkeit.


Fahrrad-Reparatur

Viele Wege führen nach Rom… oder: Geduld bringt Rosen… oder: Was lange währt, wird endlich gut. Unsere Sprache hält sinnige Redewendungen bereit, die alle zu meinem Thema passen.

Im Frühling kam ich hier mit einem teilweise neuen Rennrad an. Ich baute es nach dem Flug zusammen und alles funktionierte bestens. Doch genau dann, als ich mit anderen Radlern verabredet war, blockierte ein Schalthebel: ich konnte die Gänge nicht mehr wechseln. Eine monatelange Leidenszeit für mich und für mein Rad begann.

Mein Radkamerad baute das defekte Teil aus und wir schickten es zusammen mit meinem alten Rennrad nach Alexandria. Dorthin habe ich es verkauft. Der Verkaufspreis entsprach meiner Wohnungsmiete; in meiner Heimat hätte ich neben einem mitleidigen Lächeln zusätzlich noch abwertende Bemerkungen dafür erhalten.

Wie verschickt man ein ganzes Rennrad in Ägypten? Und wie erhält man das Geld? Die günstigste Variante ist mit einer lokalen Transportfirma. Wir fuhren zu so einer, lieferten Rad und Schalthebel ab und nach einem kurzen Telefongespräch mit dem Käufer erhielt ich den Verkaufspreis bar ausbezahlt! So sieht das Firmenlokal von Aussen und von Innen aus:



Einige Tage später suchte ich den Ort nochmals auf, um den reparierten Schalthebel wieder in Empfang zu nehmen. Nach einigem Suchen übergaben mir die Herren das kleine Päckchen. Mein Radkollege montierte den Hebel wieder an den Lenker, doch die Feineinstellung der Schaltung gelang nicht. Ich konnte leider nicht alle Gänge verwenden. Mein Rad-Mechaniker in der Schweiz meinte, da brauche es halt einen Fachmann und keinen Bastler! Tja, so einfach ist das eben nicht, wenn man in Ägypten lebt und der Fachmann nicht herfliegen will…

Also bestellte ich Ersatzteile in meiner Heimat. Eine Kollegin hätte sie mitbringen sollen, doch die Dinger kamen am Tag nach ihrer Abreise bei ihr an. Erst mehrere Monate später gelangten die Ersatzteile zu mir. Während all der Zeit suchte ich hier einen fähigen Mechaniker, fand aber niemanden. Also musste ich Rad und Ersatzteile erneut nach Alexandria schicken. Bei der Vorstellung, dies mit derselben Firma zu bewerkstelligen, graute mir. Wenn ich nur schon an das „Puff“ in dem Lokal dachte, an die Kleintransporter, in die alles wie Kraut und Rüben hineingeworfen, und ebenso ausgeladen wird…

Ich fand eine Transportfirma, die Lieferungen von Tür zu Tür macht, klärte Versicherungsfragen ab und bestellte sie nach einigem Zögern. Mein Rad legte ich eigenhändig in den Bus und nahm es zehn Tage später wieder heraus.

Wohl war mir während der Zeit nicht, ich schwankte zwischen Angst und Bange einerseits und ruhigem Zureden andererseits. Allein die Vorstellung, dass der Bus durch Kairo musste und dort Strassenschlachten zum Alltag gehören…

Umso grösser war meine Freude, als ich mein Zweirad wieder in Händen hielt: Sattel und Lenker zum Schutz vor Transportschäden fein säuberlich mit einer Plastikfolie umwickelt, Bremsen und Schaltung perfekt eingestellt. Hut ab, vor dem ägyptischen Mechaniker, der das so wunderbar gerichtet hat. Ein Fachmann - auch er!

Seither bin ich wieder unterwegs:




Es gibt immer eine Lösung, manchmal braucht sie einfach lange...