Anderes

Samstag, Januar 02, 2010

Am Heiligen Abend

Es ist schon lange dunkel, nur ein leichter Wind weht, er hat im Verlaufe des Tages immer mehr nachgelassen. Zeitweise war sogar windstill und noch lange nach Sonnenuntergang war es mild gewesen, zwanzig Grad vielleicht. Jetzt aber ist es  kühl geworden.

Achmed, Naguib, Magdy und Mohammed sitzen eng nebeneinander auf einer zweistufigen staubigen, grauen Marmortreppe. Die Stufen führen zu einer Reihe von neuen Läden: zwei Boutiquen mit westlicher Damenbekleidung, eine Apotheke, ein Spielzeuggeschäft, ein Blumenladen mit frischen Schnittblumen in wunderschönen Farben, ein einladender Fruchtsaftladen. Weitere Geschäfte werden in den nächsten Monaten hinzu kommen, denn hier wird gebaut.

Achmed, Naguib, Magdy und Mohammed sitzen vor einer bald zu eröffnenden bekannten ägyptisch-arabischen Bank. Durch die verstaubten Fenster ist in den taghell erleuchteten Räumen schon edles dunkles Holztäfer und ein Empfangstisch zu erkennen. Um die Ecke und in den Stockwerken darüber ist noch Rohbau.

Dort arbeiten Achmed, Naguib, Magdy und Mohammed tagsüber: sie schaufeln Sand, tragen diesen in die oberen Stockwerke hinauf, schaufeln Steine, tragen diese in die oberen Stockwerke hinauf, werfen Ziegelsteine in Schubkarren, ziehen diese am Flaschenzug in die oberen Stockwerke hinauf. Sie schichten Ziegelsteine, rühren Zement an, holen Wasser, binden zittrige Holzgerüste zusammen. Tag für Tag, bei jedem Wetter, in der Kälte des Winters, in der Hitze des Sommers. Und hier leben sie auch: bei ihrer Arbeit.

Naguib hat sich mit seinem weissen Tuch einen riesigen Turban gewickelt, so breit, dass er mindestens zehn Zentimeter über seinen Kopfrand hinaus ragt. Naguib’s Turban überragt auch jene seiner Freunde. Alle tragen sie dicke Kaftane, darunter Hemden und lange Hosen, warme Schals um den Hals geschlungen. Mohammed trägt kniehohe weisse Gummistiefel, die anderen nur Gummisandalen. Es sind dieselben Kleidungsstücke, die sie tagsüber bei der schweisstreibenden Arbeit tragen und mit denen sie sich nachts in ihre schweren Decken rollen. Im Hintergrund, zwischen den rohen Betonpfeilern, zucken die Flammen eines Feuers in einem aufgebrachten alten Blechfass und wärmen Sameh’s blosse Füsse. Er bleibt lieber in der Nähe des Feuers, denn die Nacht wird noch kalt genug werden.

Naguib, der mit dem riesigen Turban, hält die Augen geschlossen, sein Kinn auf den verschränkten Armen über den Knien aufgestützt. Sein Gesicht ist zerfurchte Wildnis von Gräben, Falten und Erhebungen, welche Sonne, Wind, Freuden und Entbehrungen über die Jahre entstehen hatten lassen. Aber jetzt wirkt sein Antlitz irgendwie entspannt. Er und seine Kameraden sitzen eng aneinander gedrängt, aufgereiht wie Schulbuben, die soeben eine besondere Belohnung erhalten.

Heute ist Heiligabend. Gegenüber, im Zelt vor dem grossen Hotel, wird für die Gäste orientalische Musik gespielt. Achmed, Naguib, Magdy und Mohammed geniessen diese Musik, als ob sie zuhause im Kreise ihrer Familien ums Feuer sässen. Diese Gelegenheit gibt es nur heute. Vielleicht nochmals an Sylvester. Doch möglicherweise sind sie dann wieder in den nächsten Rohbau weiter gezogen.

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