Seit ich zum ersten Mal nach Ägypten gekommen bin, habe ich
mich und die Ägypter gefragt: warum steht Ihr nicht auf? Warum wehrt Ihr Euch
nicht? Habt Ihr keine Opposition im Untergrund oder im Ausland, die einen
Aufstand organisieren kann?
Die Antwort lautete immer ähnlich: nein – wir haben die
Muslimbrüder – Mubarak überwacht alles – wir sind geduldig. Laut über
Ex-Präsident Mubarak zu reden, war lebensgefährlich: meine Gesprächspartner liessen
den Blick jeweils ängstlich nach rechts und links schweifen und flüsterten nur
noch. 30 Jahre Diktatur, 60 Jahr Militärmacht, kombiniert mit Unterdrückung,
Einschüchterung und Armut, haben jegliche politische Entwicklung im Keim erstickt.
Wie anders ist es jetzt. Es sieht so aus, als ob die im
Januar begonnene Revolution nun endlich durchgezogen wird. Die Forderungen sind
klarer geworden, die Aktivisten, Gruppierungen und politischen Parteien haben
dazu gelernt und sind reifer geworden. Heute finden in Kairo drei verschiedene
Demonstrationen statt: jene gegen den Obersten Armeerat, dann demonstrieren relativ
unbeachtet die Muslimbrüder und schlussendlich eine Gruppe, die sich „Schweigende
Mehrheit“ nennt und für den Obersten Armeerat einsteht (und auch für Mubarak
und das alte Regime).
Wie gross diese „Schweigende Mehrheit“ ist, weiss ich nicht.
Einer meiner Bekannten gehört dazu und ich habe unzählige Stunden mit ihm
diskutiert, gestritten und Tränen über seine unsäglich verwickelten
Argumentationen vergossen. Diese Menschen klammern sich an eine Vergangenheit,
die nicht mehr existiert und deren Verfallsdatum schon längst abgelaufen ist.
In dieser gab es „Sicherheit“ (die Polizei stand ja an jeder Strassenecke!),
jeden Tag sprach ihr „Vater Mubarak“ im Staatsfernsehen zu ihnen und „Mama
Suzanne“ sorgte mit karitativen Werken für ihre „Kinder“. Es war klar, wie die
Wahlen ausgehen würden: seit 30 Jahren gleich. Armut, Korruption, Diktatur,
Folter, Zensur, Unterdrückung, Willkür und weitere Verbrechen an der Menschheit
wurden ignoriert. Genauso ignorieren diese Menschen nun die heutige Situation.
Kann man es ihnen verargen? Sie sehen die Gewaltübergriffe von Polizei und
Armee. Sie wissen, dass Tausende von Verbrechern von Angehörigen des Regimes
frei gelassen wurden, um Chaos und Angst zu verbreiten und Demonstranten
anzugreifen. Sie lesen die Berichte über die unglaubliche Korruption im Land.
Trotzdem wünschen sie sich die alten Zeiten zurück! Stehen sie unter Schock?
Ein Abwehrreflex aus Angst vor einer unbekannten, bedrohlichen Zukunft? Ich
glaube, für einen in einem liberalen Umfeld aufgewachsenen Menschen ist das
unbegreiflich. Ich kenne aber auch viele Ägypter, die das nicht begreifen
können.
Gestern hat mich eine weitere Aussage eines Bekannten entsetzt:
auf dem Tahrir Platz wären nur Muslimbrüder und Hirnlose, die keine Arbeit
hätten und sonst nichts zu tun hätten. Das sind die Worte des Staatsfernsehens.
Dabei haben ja genau die Muslimbrüder nun ein riesiges Problem, weil sie eben nicht
auf den Tahrir Platz gingen! Mein Arabischlehrer hat uns gestern eine
sensationelle (Politik-)Lektion erteilt. Am Schluss meinte er, die Muslimbrüder
hätten mit diesem Entscheid viel Wohlwollen verspielt.
Ich möchte betonen, dass solche Ansichten und Äusserungen
quer durch alle Bevölkerungsschichten schwirren. Es ist völlig egal, ob jemand
gebildet ist oder nicht! Das empfinde ich umso erschreckender!
Niemand hat eine Ahnung wie es weitergeht. Angeblich sollen
die Wahlen am Montag beginnen (auch hier in Hurghada). Die Demonstranten haben
unter Führung von El Baradei ihre eigene „Rettungsregierung“ aufgestellt und
den vom Obersten Armeerat ernannten Premierminister (ein Gefährte Mubaraks) abgelehnt.
Der Oberste Armeerat wird kaum noch weitere Eingeständnisse machen. Eine
Pattsituation – scheint es. Gewalt ist (hoffentlich) keine Option mehr. Doch
wie lange lässt die Lösung oder der Kompromiss auf sich warten? Inzwischen geht
das Land nämlich wirtschaftlich noch weiter bachab…
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