Seit die Wahlergebnisse der ersten Runde bekannt geworden
sind, geht die Angst um. Angst, dass Ägypten zu einem radikalislamischen Staat
nach dem Muster Irans oder Saudi Arabiens werden könnte. Die Vorstellung, dass
sich Muslimbrüder (40% der Stimmen) und Salafisten (rund 20% der Stimmen)
zusammen tun könnten, ist mehr als nur haarsträubend.
Ägypter sind religiös, aber sie sprühen vor Lebensfreude und
wollen sich von niemandem dreinreden lassen, wie sie ihr Leben zu führen haben.
Ein Musikverbot für Menschen, die überall und bei jeder Gelegenheit anfangen zu
singen, zu klatschen und zu tanzen? Zuletzt gesehen am Gemüsemarkt: die Bauern
sangen und klatschten an ihren Ständen am helllichten Nachmittag!
Angst haben auch die Kopten vor noch mehr Einschränkungen
und Schikanen. Und die Frauen, welche sich ihre Rechte seit den zwanziger
Jahren mühsam erkämpfen mussten. Erneut betrogen fühlen sich all jene, die für
den Sturz des Regimes gekämpft haben.
Nicht alle teilen jedoch diese Befürchtungen. Denn erst ist
ein Drittel der Unterhauswahlen erfolgt. Theoretisch kann sich noch vieles
ändern. Möglich, dass die Liberalen es schaffen, beim einfachen Volk mehr Gehör
zu finden und deren Stimmen zu erhalten – dafür ist die Zeit jedoch sehr knapp
und sie erhalten weder von Katar (Muslimbrüder), noch von Saudi Arabien (Salafisten)
Millionen von Dollars an Unterstützung. Möglich, dass die Wahlbetrügerei
unterbunden wird – im derzeit herrschenden Chaos unwahrscheinlich. Möglich,
dass die Muslimbrüder mit ihrer Stimmenmehrheit eine Koalition mit den
Liberalen eingehen und sich damit klar von den radikalen Salafisten
distanzieren. Bei den gestern und heute stattfindenden Nachwahlen bekämpfen sie
sich jedenfalls erbittert. Das kann sich auch wieder ändern, aber ich kann mir
einfach nicht vorstellen, dass die Muslimbrüder sich mit den Salafisten einigen
können.
Vor lauter Islamophobie geht ein bisschen unter, dass
Ägypten ganz andere Probleme hat, als Alkoholverbot, Kopftuchzwang und Bekleidungsvorschriften
für Touristen. Das Land braucht dringend Investitionen; das setzt
Rechtssicherheit und Stabilität voraus. Es braucht eine Intensivierung der
Landwirtschaft (Ägypten ist der grösste Weizenimporteur der Welt!). Die
Korruption muss ausgemerzt werden. Das Notstandsgesetz muss abgeschafft werden.
Das Bildungssystem muss dringend verbessert werden. Unternehmen müssen
privatisiert werden. Die falsch verteilten Subventionen müssen abgeschafft werden.
Die Umweltverschmutzung muss bekämpft werden. Die Liste kann beliebig
fortgesetzt werden, denn sämtliche Bereiche des Staates sind während der
30jährigen Diktatur verrottet…
Die Salafisten kriegen das kaum auf die Reihe. Sie haben
ihren Stimmenanteil dank Drohung, Beeinflussung und Geschenken erhalten.
Langfristig ist das keine Option in der Politik. Es würde voraus setzen, dass
die Menschen weiterhin arm und ungebildet blieben.
Besonnene Menschen geben zu bedenken, dass die Muslimbrüder
am ehesten fähig sein werden, die gewaltigen Probleme Ägyptens anzugehen. Sie
haben eine achtzigjährige Erfahrung und viele von ihnen sind erfolgreiche
Geschäftsleute und Unternehmer – auch im Tourismus.
Letzte Woche wurde mein Visum um ein Jahr verlängert und ich
freute mich riesig darüber. Besonders, weil während den vergangenen Monaten
immer wieder bekannt wurde, dass die Aufenthaltsgenehmigung einzelner Ausländer
nicht erneuert wurde. Nach den Wahlergebnissen dachte ich einen Moment auch „wenn
die Islamisten ans Ruder kommen, gehe ich; das brauche ich nicht“. Dann könnte
ich ja nicht mehr Rennradfahren! Aber so weit ist es noch lange nicht. Mitte
Januar wissen wir mehr und vorerst geht das Chaos weiter. Ebenso die Angst,
auch wenn die Muslimbrüder sich bemühen, mit ihrer liberalen politischen
Einstellung zu überzeugen.
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