„Hallo, ich komme fünf Minuten zu spät, bitte entschuldige“ sagte
einer meiner „Schüler“ und ich wunderte mich. Er rief extra an, schrieb nicht
nur ein sms oder kam einfach zu spät!
Er ist eine Ausnahme. Ich bin ganz anderes gewohnt…
Da gibt es Schüler, die 10 Minuten oder 15 Minuten verspätet
sind und wenn ich frage, was passiert ist, ist der Verkehr schuld oder es gibt weder
eine Erklärung, noch eine Entschuldigung. Oder sie kommen überhaupt nicht,
haben verschlafen oder sonst irgendetwas gehabt – das erfahre ich aber erst
beim nächsten Termin.
Werde ich alt? Bin ich altmodisch? Oder gar beides
miteinander? Nein, wie Gespräche mit Bekannten und Freunden zeigen. Aber Benimm
und Anstand scheinen nicht in zu sein.
Als ich heute bei meiner Französischlehrerin vor der Türe die
Schuhsolen putzte, meinte sie dankbar, ich sei die Einzige, die das mache!
Wofür liegt denn so ein Schuhabstreifer sonst vor oder neben der Wohnungstüre? Bei
mir liegt auch so ein Ding: schwarz, gross, unübersehbar, der einzige auf
meinem Stockwerk. Er wirkt einladend, finde ich zumindest. Trotzdem muss ich 9
von 10 Leuten, die zu mir kommen, bitten, die Schuhe zu putzen. Das ist so
unendlich peinlich, schliesslich sind unter meinen Kunden Ärzte, Manager,
Banker usw., … und doch ist es so furchtbar nötig. Die Strassen hier sind immer
sandig, es liegt immer irgendein „grusiger“ Abfall herum, Wassertankwagen
verschütten ihr wertvolles Gut und so bleibt oft eine klebrige Masse… an den
Schuhen kleben.
Ich mag die Hand zur Begrüssung nicht reichen.
Es ekelt mich vor der mangelnden Hygiene. Da gibt es Leute, die
während des Unterrichts in der Nase bohren, ihre Pickel ausdrücken, in die
Hände niessen und dabei kein Taschentuch benützen, obwohl eine Schachtel davon
auf dem Tisch steht. Und dann soll ich Hände schütteln?
Und dann gibt es Leute, die ihre benützten Papiertücher, leeren
Cola-Flaschen, abgebrochenen Bleistiftspitzen und anderes auf meinem Tisch
liegen lassen – Abfall, den ich entsorgen darf. Bin ich die Müllentsorgung?
Andere wiederum verlangen nach einem zweiten, dritten oder
vierten Glas Wasser, anstatt ihre eigene Flasche mitzubringen, obwohl sie vom
Sport kommen und logischerweise grösseren Durst haben. Bin ich ein Café?
Und es gibt auch noch jene, die ungefragt ihr Telefon oder
ihr Notebook an mein Stromnetz hängen, um die Batterien aufzuladen. Bin ich
denn ein Kraftwerk?
Auf die Füsse getreten fühle ich mich, wenn ich Emails von
mir unbekannten Personen erhalte, in denen ich mit dem familiären „du“
angesprochen werde. Respektlos finde ich das. Es käme mir niemals in den Sinn,
eine mir unbekannte Person mit „du“ anzuschreiben. Konsequenterweise beantworte
ich solchen Schriftverkehr stur mit dem höflichen „Sie“ – dabei bleibt es dann
meist auch. Ob sie’s gemerkt haben?
Je länger ich mich als „Lehrerin“ betätige und je mehr ich
mit unterschiedlichen Menschen zu tun habe, umso mehr bin ich darüber erstaunt,
wie wenig Wert auf Anstand, Höflichkeit und Benimm gelegt wird. Mit kulturellen
Unterschieden hat das nichts zu tun, meine Erfahrungen gehen durch alle
Schichten, alle Nationalitäten. Ich kann sehr wohl unterscheiden: Wenn meine
Koreaner beim Wassertrinken schlürfen, habe ich Verständnis. Aber ein einfacher,
junger Reiseleiter, für den seine Stunden bei mir viel Geld kosten, zeigt mehr
Anstand, bringt mir sogar ein Geschenk mit, wenn er von seiner Heimatstadt
zurückkommt. Hingegen liegt der Arzt und Klinikbesitzer halb quer auf dem
Tisch, der hypernervöse Zahnarzt steht auf und geht in der Wohnung hin und her,
weil er keine Stunde ruhig sitzen bleiben kann. Bücher und Papiere des
Tauchlehrers sehen aus, als ob sie ein Jahr lang im Strassengraben gelegen
hätten und er verlangt jedes Mal einen Stift, weil er nie seinen eigenen dabei
hat.
Umso grösser wird „das Kränzlein“, das ich jener Person
widme, die mir Anstand, Benimm und Höflichkeit beigebracht hat: meine Mutter.
Sie hat die Basis gelegt, anderes habe ich auf Reisen und im Geschäftsleben
erkannt.
Ganz ausgestorben ist „Kinderstube haben“ noch nicht: einige
meiner Schüler bedanken sich genauso für den Unterricht, wie ich mich für ihre
Aufmerksamkeit bedanke. Sie nehmen diskret ihren Abfall mit oder fragen mich, ob sie ihn in den Abfallkübel tun dürfen. Es sind kleine Aufmerksamkeiten, wenige Worte und
einfache Gesten, die so viel Wohlwollen und Wohlbefinden im Umgang miteinander
schaffen. Ich frage mich ehrlich, weshalb das nicht weiter verbreitet ist.
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