Ohne Velofahren kann ich nicht sein. Schon seit Jahren schleppe ich entweder mein Mountainbike oder mein Rennvelo samt Zubehör überall dorthin, wo ich mich länger als fünf Tage aufhalte. So haben mich meine Zweiräder schon nach Sizilien, nach Südfrankreich und in alle möglichen Ecken Italiens begleitet und ich habe damit wunderbare Aussichten und Erlebnisse genossen.
Die Welt lässt sich vom Fahrradsattel aus ganz anders betrachten, denn sie entwischt dem Blickfeld nicht so rasch wieder wie zum Beispiel beim Zug- oder Autofahren. Sie lässt sich aber auch riechen und fühlen, was ganz angenehm, unter Umständen aber auch ziemlich mühsam sein kann. Rückblickend bleiben jedoch immer beglückende Erinnerungen, egal wie kalt, heiss, stürmisch oder anstrengend es während der Fahrt gewesen sein mag.
Rennvelofahren in Ägypten kann ich mir – alleine als Frau – ausser in Hurghada absolut nirgends vorstellen. Trotzdem bietet es allerhand Herausforderungen, die bestimmt nicht Jedermanns oder Jederfraus Sache ist.
Woran ich mich zuerst gewöhnen musste, ist die unerwünschte und allgegenwärtige, allumfassende Aufmerksamkeit, die ich ständig errege. Anfangs hat mich das genervt, inzwischen kann ich damit umgehen. Die Männer - Frauen sehe ich praktisch keine und wenn, dann lächeln sie mir zu oder starren durch mich hindurch - hupen wie wild, rufen und schreien mir aus dem Fenster etwas zu – es ging lange bis ich begriff, dass sie damit ihre Bewunderung ausdrücken! Das machen aber nicht nur Autofahrer sondern auch die Chauffeure der schweren langen Lastwagen. Und jene der kleinen Lastwagen, den langsamen und den schnellen. Und die Pickup-Fahrer. Und die Töff-Fahrer. Wenn sie wüssten, wie sehr mich diese Huperei und Schreierei erschreckt und stört! Oft strecken die Fahrer ihre Faust mit erhobenem Daumen aus dem Fenster oder winken damit im Auto, sodass ich es durch die Rückscheibe sehen muss. Am Strassenrand winken sie, klatschen, zeigen ebenfalls den Daumen und rufen von weitem „Hallo“ oder „Mabrouk“! Manchmal muss ich lächeln, nicke jemandem zu… manchmal denke ich aber einfach, dass ich diese Kommentare gar nicht brauche, nicht danach gefragt, nicht darum gebeten habe und eigentlich nur meine Ruhe will. Das sind dann die Momente, wo mir wieder bewusst wird, dass ich in einer anderen Kultur lebe und etwas mache, was für Frauen äusserst ungewöhnlich ist.
Wo fahre ich? Gewiss nicht im Zentrum, wo der Verkehr hektisch und unübersichtlich ist. Ich bemühe mich frühmorgens aus dem Bett und fahre hinaus auf die Überland- und Ringstrassen oder Autobahnen – wie man will. Dort sind die Fahrzeuge zwar schneller unterwegs, doch es ist bei weitem weniger gefährlich als nahe den Siedlungen, Kreuzungen und Abzweigungen. Natürlich gibt es Wahnsinnige, die mit 150 km/h und schneller an mir vorbei rasen, dumme Überholmanöver an meiner Seite, sodass ich schier im Sand (Strassengraben gibt es nicht) lande und erst mal ein paar Verwünschungen ausstosse. Trotzdem fühle ich mich dort sicher und oft fahre ich längere Zeit einsam durch die Wüste, lasse meinen Blick zu den nahen Bergen, den sich in der Ferne drehenden Windmühlen, dem silbern glitzernden Meer oder dem plötzlich auftauchenden Grün schweifen. Es gibt allerhand zu entdecken: wildernde oder überfahrene Hunde, Tonnenweise Abfall aller Art, brennende Öl- oder Gasfackeln, ein Grundwassersee, an dem zahlreiche Vögel leben, Brackwasser, wo sich Schilf im Wind wiegt, pinkelnde Lastwagenfahrer, masturbierende Buschauffeure, arbeitende und campierende Geologen, wunderschöne Hotelkomplexe, Altmetallsammler auf Eselkarren, einen Checkpoint mit viel Personal und Panzersperren, Lastwagen, die alle paar Meter ihre Abfallsäcke abwerfen, Privatwagen, die unter dem aufs Dach aufgetürmten Gepäck fast zusammenknicken, Pickups voller Bananenstauden und vieles Undenkbares mehr.
Kürzlich sah ich weit von der Strasse, mitten im Sand, einen Mann mit einem Kind. Hand in Hand gingen sie einher, wer weiss wo hin. Mir war schleierhaft, was sie dort draussen taten, denn dort gibt es weit und breit weder eine Behausung noch Arbeit, allenfalls ein paar Dornbüsche. Trotzdem berührte mich der Anblick. Als mich das Kind entdeckte, rief und winkte es, der Vater hob es hoch, damit ich es auch bemerken würde. Ich winkte zurück und hatte das Gefühl, das Kind hatte eine Riesenfreude. Eine Sekundenbegegnung zweier fremder Welten, die sich nie werden berühren…
Eine Zeit lang begegnete mir der immer gleiche Eselkarren: der Vater hielt die Zügel des knochigen Grauen, der schielende Junge sass dahinter auf dem Karren zwischen grossen Plastiksäcken. Er lachte mir entgegen und wir winkten einander wie alte Bekannte zu, wenn ich vorbei fuhr.
Letzten Winter und Frühling hauste auf dem sandigen Mittelstreifen, gegenüber dem Nil-Krankenhaus, ein Obdachloser. Seine wenigen Habseligkeiten hatte er immer in einem Halbkreis um sich aufgebaut. Je nach Uhrzeit sass er neben seinem Gaskocher oder lag noch in Decken gehüllt in der Welt der Träume. Plötzlich wurde genau dort die Strasse aufgerissen und eine provisorische Umleitung eingerichtet. Inzwischen ist die Strasse längst wieder normal befahrbar, aber der Obdachlose ist verschwunden. Ich denke noch oft an ihn und frage mich, was wohl aus ihm geworden ist.
Im Frühjahr war ich wie oft schon, auf der Verbindungsstrasse zwischen Innerer und Äusserer Ringstrasse unterwegs. Das mache ich besonders dann, wenn der Nordwind gar stürmisch bläst, denn die Verbindungsstrasse verläuft Ost-Westwärts, oder wenn ich zu faul bin, um mehr als eineinhalb Stunden zu fahren. Damals im Frühling also, bereits auf dem Rückweg, sah ich doch tatsächlich… nein, unmöglich…. aber doch: da kam mir doch tatsächlich ein… ja! ein Velofahrer entgegen! Ich traute meinen Augen kaum, verlangsamte mein Tempo, querte die Strasse und fuhr dem Velofahrer entgegen. Dieser entpuppte sich als Velofahrerin mit einem roten langen geflochtenen Haarzopf: eine Schwedin auf ihrem Triathlon-Rad! Ich weiss nicht, was grösser war: meine Überraschung oder meine Freude. Auf jeden Fall freundeten wir uns rasch an und bestritten von da an einige Ausfahrten gemeinsam. Sussie verliess Hurghada wieder im Juni, kehrte aber im Oktober zurück und nun strampeln wir hie und da wieder miteinander durch die Wüste. Das macht nicht nur mehr Spass, sondern wir haben auch festgestellt, dass wir zu zweit mehr Gewicht im Verkehr haben. Somit ist zum Beispiel das Wechseln der Strassenseite zu zweit viel einfacher. Und auffallen, tja, das tun wir ja sowieso.
Doch das ist natürlich nicht alles. Da gibt es noch die wilden Hunde. Sie erschrecken mich nach wie vor, wenn sie plötzlich hinter einem Sandhaufen oder aus einem Mauerschatten laut bellend hervorstieben. Insgesamt komme ich aber klar mit ihnen: wenn sie gar zu aggressiv sind, halte ich an, steige ab – dann ziehen sie nämlich den Schwanz ein und verduften. Doch während der ersten paar Monate hatte ich mich jeweils mit zwei Steinen bewaffnet, um mich wehren zu können. Ich habe gelernt, dass sie mehr Angst vor mir haben, wenn ich zu Fuss gehe. Allerdings ist ihr Tempo äusserst beeindruckend, wenn sie beinahe über die Wüste fliegen, einem mir unbekannten Ziel entgegen, niemals einsam, immer im Rudel.
Eine weitere Herausforderung stellen die Scherben dar. Zu allem Abfall, der illegal deponiert wird, gesellen sich unzählbare Scherben: von Bier-, Wein- und Sektflaschen. Oder ganzen Fensterscheiben. Nicht selten ist sogar erkennbar, wo der Alkohol getrunken worden war, wer die Flaschen „entsorgt“ hat und manchmal möchte ich mich fast dafür schämen, denn es sind auch europäische Einrichtungen. Ich muss höllisch aufpassen, um nicht alle paar Kilometer mit einem platten Reifen zu stranden.
Die grösste Gefahr droht jedoch von den ägyptischen Fahrzeug-Fahrern. Mit Ausnahme der Flughafenstrasse, wo täglich scharfe Radarkontrollen erfolgen und empfindliche Bussen verteilt werden, fahren sie schlichtweg wie Vollidioten. Es wird „geblocht“, was der Motor hergibt. Es werden Geschwindigkeitsrennen veranstaltet, egal, wie viele Passagiere in einem Bus sitzen. Da fahren Minibusse oder Lastwagen mit einem Abstand von nur einem Meter bei weit über 100 km/h hintereinander oder parallel zueinander her – und haben eine Riesengaudi dabei. Wechselt ein Fahrzeug die Spur, wird überholt, von einer Seitenstrasse ein-, oder von der Hauptstrasse abgebogen – keiner kümmert sich um den restlichen Verkehr, keiner sieht in den Rück- oder Aussenspiegel. Überholt wird rechts, links oder mitten durch – grad so, wie es sich ergibt. Der Stärkere zählt und das ist derjenige mit der lautesten Hupe und den meisten PS. Hupen ist deshalb so wahnsinnig wichtig. Im Schnitt hupt ein Taxi- oder Minibusfahrer alle fünf Sekunden. Für Rennvelofahrerinnen ist deshalb überlebenswichtig: vorausschauend fahren, d.h. auch für die Ägypter mitzudenken und ihre überraschende Fahrweise und abrupten Bremsmanöver abzuschätzen, obwohl dies eigentlich unmöglich ist (zumindest für ein europäisch geschultes Hirn). Nur deshalb hat mich nicht schon längst ein blinder Buschauffeur seitwärts über den Haufen gefahren und konnte ich bisher knapp einem Zusammenprall mit einem drei Meter vor mir stoppenden Taxi oder Minibus vermeiden. Übrigens habe ich festgestellt: die besten und rücksichtsvollsten Fahrer sind die Überland-Lastwagenfahrer. Die gefährlichsten sind die Touristenbusse…. Leider.
Natürlich gibt es auch „anständige“ Autofahrer… doch sie gehen in dem Chaos leider unter und deshalb verallgemeinere ich hier und werfe alle Ägypter in den gleichen Topf.
Und das Wetter? Im Sommer ist es heiss und ich versuche dem auszuweichen, indem ich spätestens um sechs Uhr früh auf dem Velo sitze, was nicht immer einfach ist. Frühling und Herbst sind angenehm von den Temperaturen und im Winter kann es schon mal bitter kalt werden, besonders wenn der eklige Nordwind bläst. Dann trage ich auch mal zwei warme Sportunterhemden, ein Halstuch, Wintertrikot und Dreiviertelhosen sowie einen Kopfschutz. Letzten Winter, am Tag des grossen Regens, tröpfelte es morgens leicht aus dunkelgrauen schweren Wolken. Ich musste lachen, hörte die Tropfen auf meinem Helm, spürte sie in meinem Gesicht und hatte diesen bekannten Duft in der Nase, ein Gefühl wie zuhause! Der heftige Wind kann manchmal auch ein Nachteil sein: ich musste schon wegen Sandhosen und Sandstürmen umkehren und die herumfliegenden Plastiksäcke sind manchmal auch eine Gefahr.
Trotz allem tut es gut: ich bewege mich, kann meine Gedanken fliessen lassen, kenne Hurghada auf einer Strecke von ca. 60 km bestens. Ich habe auch eine absolute Lieblingsstrecke: zum Checkpoint hinauf, weiter über die Hochebene, Richtung Safaga. Die gute Strasse zieht sich schnurgerade südwärts. Von dort oben sieht man auf das ruhige Meer hinab und landeinwärts zieht sich eine Bergkette parallel zur Strasse hin. Einen markanten Berg habe ich „Matterhorn“ getauft. Ich war mit dem Rad schon in El Gouna, in Makadi und in Sahl Hasheesh, wurde ohne Probleme eingelassen. Für die kühlere Jahreszeit und sofern die Windverhältnisse passen, habe ich mir weitere Ziele gesetzt; Sussie wird mich begleiten. Manchmal kann ich es noch immer nicht glauben, dass wir hier zu zweit als Frauen seelenruhig durch die Wüste rollen…
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