Anderes

Mittwoch, Mai 16, 2012

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen (I)

Meine Hausaufgabe im Arabischunterricht lautete: schreib über die wichtigste Sache, die dir in der Woche widerfahren ist.

Hab ich gemacht.

Als Gegenstück erzählte mir meine Lehrerin, was für sie momentan die seltsamste Sache ist. Sie wird ständig gefragt: „Madam, wen werden Sie wählen?“

So eine seltsame Frage ist das für mich gar nicht. Ich stelle mir vor, dass es eher die einfachen, ungebildeten Leute sind, welche sich Rat von der Frau Lehrerin erhoffen. Doch halt! Oh nein, erzählt sie mir, nein, auch sehr gebildete Leute, solche aus der Oberschicht stellen diese Frage. Ich muss noch hinzufügen, dass meine Arabischlehrerin politisch aktiv ist und immer schon war.

Sie ist schockiert darüber, wie wenig die Ägypter sich für einen der dreizehn Kandidaten entscheiden können.

Und doch ist es nicht verwunderlich. Dreissig (30!!!!!!) Jahre das gleiche politische System. Dreissig Jahre musste sich niemand Gedanken über Verfassung, über Menschenrechte, über politische Rechte und Pflichten, über Gesetze, über Parlament, über Wahlen und über Politiker machen. Dreissig Jahre lang war alles klar: es gab eine Partei, einen Präsidenten. Die verfügten über alle Macht und wer nicht drin war, der war draussen. Draussen hiess: im Knast, im Ausland, im Untergrund oder zu arm, um an mehr zu denken, als daran, was es morgen zu essen geben würde. Dreissig Jahre, das ist eine gesamte Generation. Über 30% der Bevölkerung sind jüngerals 14 Jahre, d.h. gegen 50% der Bevölkerung kannten nie etwas anderes. Man muss sich das mal in Ruhe vorstellen!

Und wen wird sie wählen? Ich habe nicht gefragt, denn es ist völlig unwichtig. Was nützt ein Präsident ohne Verfassung? Welche Rechte hat er? Ohne Verfassung ist er eine Marionette wie das jetzige Parlament. Darüber sind wir uns einig.

Auch darüber, wer der nächste Präsident wird. Und dann? Dann wird es noch schwärzer in Ägypten, sagt sie. Und ich krieg wieder dieses schlechte Gefühl im Bauch, das mich jedes Mal befällt, wenn ich mit meinen Schülern über die aktuelle Situation diskutiere.

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