Während den vergangenen Wochen und Monaten ist Schreckliches
in Ägypten geschehen. Seit dem 25. Januar ist es nur bergab gegangen.
Der Aufstand im Januar war führungslos. Es war ein einziges Aufbegehren, ein Aufschrei gegen das ungerechte, korrupte Regime, das einige Wenige blödsinnig reich machte und bevorteilte und die grosse Mehrheit am Existenzminimum siechen liess. Infrastruktur, Bildung, Medizin, Umwelt usw. wurden sträflich vernachlässigt. Allein Zugang zu sauberem Trinkwasser ist für ca. die Hälfte der Menschen hier nicht Alltag, sondern Traum.
Update
Ich verfolge die Ereignisse aus der Nähe und habe hie und da
die Gelegenheit, mit Ägyptern zu diskutieren. Trotzdem fällt es mir schwer,
einen Überblick zu bekommen. Mein Kopf ist voller Fragen und Unverständnis, oft
konnte ich gar nicht darüber schreiben. Ausserdem ist das hier ja kein Blog für
Politik.
Aber ich erzähle hier von meinem Leben in Ägypten und
deshalb versuche ich heute, einen Überblick aus meiner ganz persönlichen Sicht
zu geben.
Hoffnung
Der Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 war für liberal
denkende Menschen ein Freudenereignis und mit viel Hoffnung auf eine bessere
Zukunft verbunden. Elf Monate später ist von der Freude nichts mehr übrig. Es
fühlt sich wie ein Kater nach einer ausgelassenen Feier mit Unfällen und
Katastrophen an. Man merkt plötzlich, was man anders hätte machen– oder was man
besser hätte sein lassen sollen.Der Aufstand im Januar war führungslos. Es war ein einziges Aufbegehren, ein Aufschrei gegen das ungerechte, korrupte Regime, das einige Wenige blödsinnig reich machte und bevorteilte und die grosse Mehrheit am Existenzminimum siechen liess. Infrastruktur, Bildung, Medizin, Umwelt usw. wurden sträflich vernachlässigt. Allein Zugang zu sauberem Trinkwasser ist für ca. die Hälfte der Menschen hier nicht Alltag, sondern Traum.
Wider besseren Wissens und weil ja keine
Führungspersönlichkeit oder –gruppe bestand, übergab das Volk die Macht an den
Obersten Armeerat (SCAF). Und damit zurück in die Hände des Regimes! Was für
ein krasser Fehler das war, stellen die Aktivisten spätestens seit der
Gewaltorgie am 9. Oktober fest.
Fremde Mächte?
Viele Ägypter glauben das, was das SCAF und die Vertreter
des alten Regimes seit eh und je bei jedem Aufstand predigen: fremde Mächte
stehen dahinter, wollen das Land destabilisieren und entzweien. Ein Komplott
gegen die arabische Welt sei das, als Beispiel wird der Fall Tunesiens, der
Angriff auf Libyen, die Aufstände in Syrien, Jemen und Bahrein genannt. Die
sogenannte „schweigende Mehrheit“ oder „Sofa Partei“ unterstützt nach wie vor
das alte Regime und trauert Mubarak nach. Die meisten davon passiv – eben schweigend.
Ihnen wäre ein Leben in relativer Sicherheit und beschönigenden Worten und
Gesten lieber. Dafür hätten sie Korruption, Zensur, Unterdrückung von
Minderheiten, Gewalt und Folter, Armut und so vieles mehr gerne weiterhin schweigend
akzeptiert.
Das Muster wiederholt sich
Irgendwann ist es aber klar geworden, dass das SCAF nicht
gewillt ist, seine starke Machtstellung in Ägypten abzugeben. Zu verteidigen
gilt ein riesiges, korruptes Imperium von Fabriken, Unternehmen, Wohnsiedlungen,
Ferienressorts, Strassen, Brücken – ein Staat im Staat - und einen schönen
Batzen Geld aus den USA.
Ich wähle nur einige Schreckenstaten auf: die Anschläge auf
die Koptische Kirche in der Neujahrsnacht (31.12.2010) in Alexandria, die
„Kamelschlacht“ am 2. Februar in Kairo, die beschämenden Übergriffe an Frauen
am 8. März (bekannt geworden als „Jungfrauentest“), das Massaker an Kopten am
9. Oktober, die Schlacht Ende November in einer Seitenstrasse des Tahrir
Platzes und die nun schon seit sechs Tagen andauernde Schlacht in einer anderen
Strasse Kairos. Täter waren zuerst Kriminelle, vom Innenministerium bzw. dem
alten Regime angeheuert. Dann war es die Staatssicherheitspolizei, die kurz
darauf offiziell umgebaut wurde – in Wirklichkeit wurde nur der Name geändert.
Zuletzt war es das Militär selber, das Demonstranten gezielt tötet. Unterstützt
immer durch zahlreiche Berufsverbrecher, wobei die eingesetzte Gewalt immer
brutaler wurde.
Die Reaktion vom SCAF? Erstens: schweigen. Zweitens:
die Angriffe auf unbekannte Mächte aus dem Ausland abschieben und eigenes
Verschulden leugnen. Seit neuestem wird auch „Beweismaterial“ dazu geliert:
Strassenkinder seien bezahlt worden, Unruhe zu stiften. Drittens:
Versprechen, die Gewalt würde eingestellt. Viertens: Versprechen, eine
Untersuchung seitens des Militärs würde eingeleitet und die Schuldigen zur
Rechenschaft gezogen. Fünftens: Entschuldigungen. Entschuldigung, dass
wir ein paar von Euch abgeknallt haben? Entschuldigung, dass wir ein bisschen
gefoltert haben? Gestern entschuldigten sie sich über die Gewaltanwendung an
Frauen – aber nicht an Männern… Sechstens: Schuldige werden angeklagt
und wegen Mangel an Beweisen (!) freigelassen. Oder: ein Sündenbock wird zu
einer langen Haftstrafe verurteilt.
Zudem sind die meisten Gerichtsverhandlungen, insbesondere
über Mubarak, seinen Kumpeln und seinen Söhnen, immer wieder verschoben worden.
Das ist eine der Ohrfeigen ans ägyptische Volk.
Sackgasse
Das Muster von Gewalt und Leugnung hat vor fünfzig Jahren
vermutlich funktioniert. Dank Internet klappt das heute nicht mehr: Beweise in
Form von Bildern, Videos, Augenzeugenberichten von Gefangenen und Folteropfern,
von Aktivisten, von Ärzten und Anwohnern werden in Windeseile verbreitet. Auch
die Strategie „teile und herrsche“ ist bisher gut aufgegangen: die Ägypter sind
sich uneins. Säkulare gegen Religiöse, Liberale gegen Konservative, Gebildete
gegen Ungebildete, Ehefrauen gegen Ehemänner. Mit einer Ausnahme: wenn die
Gewalt zu gross wird, strömen sie alle wieder zusammen, vereint gegen das SCAF.
Mit den Übergriffen gegen Frauen ist das Mass erreicht - es ist genug. Das SCAF
und seine Helfershelfer stehen mit dem Rücken zur Wand. Glaube ich. Was bleibt
ihnen denn jetzt noch: ein Vorgehen wie in Syrien?
Warum Wahlen?
Da frage ich mich: weshalb denn der ganze Aufwand, um „die
ersten freien Wahlen Ägyptens“ abzuhalten? Die Wahlfarce wäre ja gar nicht
nötig, denke ich. Denn wer meint, diese Wahlen seien ehrlich und fair, der
träumt. Die radikalen Islamisten können nicht plötzlich aus dem Nichts 20-25%
der Wählerstimmen gewinnen, auch wenn sie im Geld schwimmen und viele Ägypter
ihre Stimme aus religiöser Pflicht den Salafisten gegeben haben. Eine Theorie
ist, dass die Salafisten ein Gegengewicht gegen die Muslimbrüder sind – denn
die sind offenbar die Einzigen, die dem SCAF gefährlich werden können. Die
Salafisten wären eine Macht im Parlament, vor der das SCAF nichts zu fürchten
hätte. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die Muslimbrüder mit dem
SCAF einen Pakt geschlossen haben. Ich weiss es nicht. Ich sehe nur, dass die
jetzigen Wahlen völlig sinnlos sind. Allein die eingereichten Klagen wegen
Unregelmässigkeiten, verlorene und weggeworfene (!) Stimmzettel und Wahlurnen
müssten genügend, die Wahlen zu annullieren. Die neu erstanden liberalen
Parteien haben schon deshalb (nicht nur wegen ihrer Unerfahrenheit und
Zersplitterung) keine Chance in diesen Parlamentswahlen.
Wirtschaft
All die Ereignisse haben die Wirtschaft arg beeinträchtigt.
Die Devisenreserven sind gesunken; einen Kredit vom IMF lehnt die Führung
jedoch ab. Die Tourismuseinnahmen sind um ein Drittel eingebrochen. Die Hotels
sind jetzt – es ist Weihnachten! – zu rund 60% ausgelastet. Investoren halten
sich zurück. Dabei hätte das SCAF und das Interimskabinett in den vergangenen
elf Monaten genügend Zeit gehabt, das Vertrauen in den ägyptischen Markt wieder
herzustellen. Mit den Schreckensnachrichten, die um die Welt gehen, ist das
aber nicht möglich. Doch vielleicht liegt das gar nicht im Interesse des SCAF?
So wird das Volk weiter entzweit. Viele Menschen haben die Nase von der
Revolution voll, sie wollen Essen und ein Dach über dem Kopf. Sie wollen Arbeit
und Sicherheit.
Jahrestag 25. Januar
Viele haben die Nase voll, aber viele geben nicht auf. Immer
mehr Parteien und Gruppierungen - mit Ausnahme der Salafisten und nur leise die
Muslimbrüder - stellen sich gegen das SCAF, die Kritik wird immer lauter. Unfähigkeit
und zögerliches Handeln wird ihnen vorgeworfen. Sie fordern ein Ende der Gewalt
und eine Übergabe an eine Zivilregierung u.a.m…
Und nun naht der Jahrestag
des 25. Januar. Wenn das SCAF nicht ganz klar und glaubwürdig spricht und
handelt, wird es am 25. Januar erneut einen Massenaufstand geben. Die Ägypter
haben unendlich Geduld und ertragen vieles. Sie wurden belogen und um ihre
Revolution betrogen. Ich glaube nicht, dass sie das auf sich sitzen lassen
werden.
Momentan sieht es schwarz aus, doch noch ist die Revolution
nicht begraben.
Update
Was ich noch hinzufügen wollte: schon seit Monaten erwarte
ich einen Putsch innerhalb des Militärs. SCAF ist nicht gleich Militär. Doch
immer, wenn ich Ägypter darauf angesprochen habe, sagten sie, das würde nie
geschehen. Inzwischen wird diese Variante aber auch in Blogs und Fachkreisen
diskutiert.
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