Dienstag, Dezember 27, 2011

Kreativität

Was ist denn das?

Ich sitze einmal mehr auf dem Beifahrersitz im Minibus. Das ist auch im Winter mein liebster Platz, ausser wenn die Windschutzscheibe nicht zu schliessen ist – dann ist es nämlich schlicht zu kalt.

Ungläubig sehe ich das Ding am Rückspiegel an: das ist kein Rückspiegel, sondern ein Bildschirm von vielleicht 20 auf 12 Zentimetern und da drin bewegen sich Menschen! Ein Video! Da läuft doch tatsächlich ein Film! Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Fahrgäste hinter uns amüsieren sich prächtig und das tut auch der Fahrer.

Anspruchsvoll muss das sein, Bus fahren, sich auf den Verkehr konzentrieren, auf Verlangen anhalten, um Fahrgäste ein- und aussteigen zu lassen und gleichzeitig einen Videofilm verfolgen. Aber für Ägypter kein Problem!

Während ich mir darüber Gedanken mache und mir überlege, was wohl die Polizei dazu zu sagen hat, braust der Bus an einer wichtigen Abzweigung vorbei. Sekunden später bemerkt der Chauffeur sein Missgeschick, bremst und fährt an den Strassenrand. Kurzerhand legt er den Rückwärtsgang ein, fährt dem Verkehr rückwärts entgegen in eine Einbahnstrasse, kehrt dort um und fährt in der falschen Fahrtrichtung zurück zur Abzweigung, die er vorher verpasst hat.

Alles kein Problem. Fantasie und Kreativität gehören in Ägypten zum Alltag.


Mittwoch, Dezember 21, 2011

Elf Monate später

Während den vergangenen Wochen und Monaten ist Schreckliches in Ägypten geschehen. Seit dem 25. Januar ist es nur bergab gegangen.

Ich verfolge die Ereignisse aus der Nähe und habe hie und da die Gelegenheit, mit Ägyptern zu diskutieren. Trotzdem fällt es mir schwer, einen Überblick zu bekommen. Mein Kopf ist voller Fragen und Unverständnis, oft konnte ich gar nicht darüber schreiben. Ausserdem ist das hier ja kein Blog für Politik.

Aber ich erzähle hier von meinem Leben in Ägypten und deshalb versuche ich heute, einen Überblick aus meiner ganz persönlichen Sicht zu geben.

Hoffnung
Der Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 war für liberal denkende Menschen ein Freudenereignis und mit viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Elf Monate später ist von der Freude nichts mehr übrig. Es fühlt sich wie ein Kater nach einer ausgelassenen Feier mit Unfällen und Katastrophen an. Man merkt plötzlich, was man anders hätte machen– oder was man besser hätte sein lassen sollen.



Freitag, Dezember 16, 2011

Diesmal das Militär

Wieder brutale Angriffe auf Demonstranten. Wieder stehen Menschen auf Dächern und werfen Steinblöcke, Glas, Molotowcocktails und Möbel auf Demonstranten hinab. Wieder Schüsse. Wieder gibt es Verletzte und Tote. Wieder meldet das staatliche Fernsehen, dass das Militär von den Demonstranten angegriffen wurde (sic)!

Doch es gibt auch Neues: die (unabhängigen) Medien nennen den Angreifer beim Namen: das Militär. Bisher war es die Polizei, die Sicherheitspolizei oder angeheuerte Kriminelle. Jetzt ist es das Militär! Bilder und Augenzeugen berichten, wie auch Frauen jeden Alters, auch Kopftuchträgerinnen und ganz verschleierte, brutal zusammen geschlagen werden.

Und das, nachdem der soeben ernannte Übergangsministerpräsident El-Ghanzouri versprach: die Demonstranten würden nicht mehr gewaltsam vertrieben! Und angeblich hat er doch sämtliche Vollmachten erhalten – ausser jenen über das Militär. Eben.

Wieder bleiben Fragen: was will das Militär? Was will das SCAF? Was folgt als Nächstes in diesem Land, das mit jedem Sonnenaufgang schneller in den Abgrund stürzt?

Donnerstag, Dezember 15, 2011

Schatten der Nacht

Der Sand schluckt die zielstrebigen, festen Schritte. Mondlos. Stockdunkel. Nur zaghaft lassen sich die Schatten der Mauern erahnen. Nach einer Weile erhalten sie Formen: Dächer, Balkone, Fenster, Türen. Irgendwo bellt ein Hund grundlos, bis ein weiterer Hund in das sinnlose Gebell einstimmt.

Sonst ist es still. Am schwarzen Nachthimmel leuchten funkelnde Punkte. Unbekümmert und beständig hängen sie dort oben und verschwenden ihre zeitlose Pracht wahllos an alle, die ihnen den Blick zuwenden. Die Schritte zögern… halten an, um dieses zauberhafte Bild einzufangen.

Abseits bewegt sich etwas… Unklares… Dunkles. Mitten im Dunkeln. Der Atem stockt, die Schritte beschleunigen, der Blick lässt die Himmelspracht fallen und klammert sich unsicher am Dunkeln fest. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Doch der Schatten kommt näher. Zwei Schatten. Viele Schatten. Der Puls rast, die Schritte bleiben fest und bestimmt.

Die langen, schmalen Schatten schweben tanzend über den unebenen Grund. Der Sand schluckt ihre Schritte, ihre langen flatternden Gewänder verschmelzen mit dem Dunkel der Nacht. Sie verschwinden hinter einer Mauer… tauchen wenige Sekunden später wieder hervor. Sie kommen näher und verschwinden wieder im zwielichtigen Dunkel.

Die befestigte Strasse ist fast erreicht, die Strassenlaterne wirft bereits ihr warmes Licht ins Dunkel. Aufatmen.

Doch dort im Dunkeln?

Die Schatten bewegen sich munter hin und her. Leises Gelächter erklingt… Spiel der Jungen im Dunkel. Lange Kaftane und Fangen, ein Kinderspiel. Was sonst? Wie töricht!


Dienstag, Dezember 06, 2011

Zusatzschlaufe

Sie steigen aus. Deutsche oder Schweizer, vermute ich. Sie wohnen in meiner Nähe. Sie fahren Minibus wie ich.


Kurz darauf steigt ein Ägypter ein und reicht dem Fahrer eine Tasche nach vorne, die da liegen geblieben ist. Ich sage zum Fahrer, – ich sitze mal wieder vorne – dass sie sicher von den Ausländern sei. Er bremst sofort, kehrt um und fährt eilig die kurze Strecke zurück, dahin, wo sie ausgestiegen sind. Ich meine, sie seien in jene Richtung gegangen. Der Fahrer fährt weiter, sucht, hupt, ändert die Richtung und siehe da: das Paar wird auf die Huperei aufmerksam und läuft erleichtert dem Minibus entgegen.


Sie bekommen ihre Tasche – der Fahrer kriegt fünf Pfund. Ich schäme mich innerlich über diesen mickrigen Finderlohn. Aber ich glaube, die Ausländer waren zu überrascht, um anders zu reagieren.


Der Fahrer kehrt auf seine Route zurück und erzählt aufgeregt, wie kürzlich eine Tasche mit Geld, Telefon und Pässen liegen blieb – und er sie nach ein paar Stunden den Eigentümern wieder übergeben konnte. Er erzählt, als ob es das Normalste der Welt sei, Wertsachen seinem Eigentümer zurück zu geben. Ist es ja auch, oder? Auch in Ägypten…

Angst

Seit die Wahlergebnisse der ersten Runde bekannt geworden sind, geht die Angst um. Angst, dass Ägypten zu einem radikalislamischen Staat nach dem Muster Irans oder Saudi Arabiens werden könnte. Die Vorstellung, dass sich Muslimbrüder (40% der Stimmen) und Salafisten (rund 20% der Stimmen) zusammen tun könnten, ist mehr als nur haarsträubend.

Ägypter sind religiös, aber sie sprühen vor Lebensfreude und wollen sich von niemandem dreinreden lassen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Ein Musikverbot für Menschen, die überall und bei jeder Gelegenheit anfangen zu singen, zu klatschen und zu tanzen? Zuletzt gesehen am Gemüsemarkt: die Bauern sangen und klatschten an ihren Ständen am helllichten Nachmittag!

Angst haben auch die Kopten vor noch mehr Einschränkungen und Schikanen. Und die Frauen, welche sich ihre Rechte seit den zwanziger Jahren mühsam erkämpfen mussten. Erneut betrogen fühlen sich all jene, die für den Sturz des Regimes gekämpft haben.

Nicht alle teilen jedoch diese Befürchtungen. Denn erst ist ein Drittel der Unterhauswahlen erfolgt. Theoretisch kann sich noch vieles ändern. Möglich, dass die Liberalen es schaffen, beim einfachen Volk mehr Gehör zu finden und deren Stimmen zu erhalten – dafür ist die Zeit jedoch sehr knapp und sie erhalten weder von Katar (Muslimbrüder), noch von Saudi Arabien (Salafisten) Millionen von Dollars an Unterstützung. Möglich, dass die Wahlbetrügerei unterbunden wird – im derzeit herrschenden Chaos unwahrscheinlich. Möglich, dass die Muslimbrüder mit ihrer Stimmenmehrheit eine Koalition mit den Liberalen eingehen und sich damit klar von den radikalen Salafisten distanzieren. Bei den gestern und heute stattfindenden Nachwahlen bekämpfen sie sich jedenfalls erbittert. Das kann sich auch wieder ändern, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Muslimbrüder sich mit den Salafisten einigen können.

Vor lauter Islamophobie geht ein bisschen unter, dass Ägypten ganz andere Probleme hat, als Alkoholverbot, Kopftuchzwang und Bekleidungsvorschriften für Touristen. Das Land braucht dringend Investitionen; das setzt Rechtssicherheit und Stabilität voraus. Es braucht eine Intensivierung der Landwirtschaft (Ägypten ist der grösste Weizenimporteur der Welt!). Die Korruption muss ausgemerzt werden. Das Notstandsgesetz muss abgeschafft werden. Das Bildungssystem muss dringend verbessert werden. Unternehmen müssen privatisiert werden. Die falsch verteilten Subventionen müssen abgeschafft werden. Die Umweltverschmutzung muss bekämpft werden. Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden, denn sämtliche Bereiche des Staates sind während der 30jährigen Diktatur verrottet…

Die Salafisten kriegen das kaum auf die Reihe. Sie haben ihren Stimmenanteil dank Drohung, Beeinflussung und Geschenken erhalten. Langfristig ist das keine Option in der Politik. Es würde voraus setzen, dass die Menschen weiterhin arm und ungebildet blieben.

Besonnene Menschen geben zu bedenken, dass die Muslimbrüder am ehesten fähig sein werden, die gewaltigen Probleme Ägyptens anzugehen. Sie haben eine achtzigjährige Erfahrung und viele von ihnen sind erfolgreiche Geschäftsleute und Unternehmer – auch im Tourismus.

Letzte Woche wurde mein Visum um ein Jahr verlängert und ich freute mich riesig darüber. Besonders, weil während den vergangenen Monaten immer wieder bekannt wurde, dass die Aufenthaltsgenehmigung einzelner Ausländer nicht erneuert wurde. Nach den Wahlergebnissen dachte ich einen Moment auch „wenn die Islamisten ans Ruder kommen, gehe ich; das brauche ich nicht“. Dann könnte ich ja nicht mehr Rennradfahren! Aber so weit ist es noch lange nicht. Mitte Januar wissen wir mehr und vorerst geht das Chaos weiter. Ebenso die Angst, auch wenn die Muslimbrüder sich bemühen, mit ihrer liberalen politischen Einstellung zu überzeugen.