Mittwoch, Juli 24, 2013

Vorahnung?

Wie ungewöhnlich: Verteidigungsminister El-Sisy hat heute zu einer Massendemonstration gegen „den Terrorismus“ für kommenden Freitag aufgerufen. Offenbar will er die „Zustimmung“ der Ägypter für einen schon lange nötigen Schlag gegen den sich in Windeseile ausbreitenden Terror.


Zum ersten Mal habe ich Angst um Ägypten.

Die Muslim Brüder setzen ihre Drohung (Morsi oder Ägypten versinkt im Terror) um: Seit 30. Juni haben sich Angriffe auf Soldaten und Armee-Einrichtungen vervielfacht; in den vergangenen Tagen wurden sogar Bombenanschläge ausgeübt. Viele Zivilisten sind in den vergangenen Wochen umgekommen. Die einen sagen, durch Soldaten, andere hingegen meinen, durch angeheuerte Scharfschützen seitens der MB u.a. in gefälschten Armee-Uniformen. Im Sinai wimmelt es von „Jihadisten“: Al-Qaida Kämpfer, Syrier und Palästinenser befinden sich unter den Kämpfern und Schützen auf Seiten der MB und täglich kommen Soldaten um.

Erstmals seit dem 25. Januar 2011 habe ich ein mieses Gefühl für Ägypten.

Die Armee zögert, gegen den herrschenden und sich ausbreitenden Terror hart vorzugehen. Gibt es Verhandlungen im Hintergrund? Warum schweigt der sonst so vorlaute Westen dazu? Was fordern die Muslim Brüder für die Niederlegung der Waffen? Drei Wochen sind seit dem bewegenden Aufmarsch der 30 Millionen Ägypter verstrichen… wertvolle Zeit, die sich die Muslim Brüder zu Nutzen machten.

Ägypten ist mitten in einer Revolution, die in einen hässlichen Krieg zu kippen droht. Ägypten will kein zweites Afghanistan oder Pakistan werden. Um dies zu vermeiden, braucht es kluges Vorgehen und beherztes Eingreifen. Ungewöhnliche Situationen fordern ungewöhnliche Handlungen.

El-Sisy braucht die Legitimität des Volkes. Warum? Um der Welt zu zeigen, dass es nicht um eine Machtergreifung des Militärs geht? Möglich. Aussergewöhnlich… Was geht nur hinter den Kulissen vor? Ich befürchte, dass noch mehr Menschen in diesem sinnlosen Rachefeldzug der Muslim Brüder ihr Leben lassen werden.

Ich habe Angst, dass es am Freitag zu verbreiteten Anschlägen kommen könnte. Ich habe erstmals Angst, dass Ägypten in einen Bürgerkrieg gedrängt wird. Ich habe ein unendlich schlechtes Gefühl…

Samstag, Juli 20, 2013

Vom Alltag

Du weisst, dass du in Ägypten lebst, wenn:
  • um ein Uhr früh die Bohrmaschine dröhnt
  • dich der Handwerker um ein Messer bittet und auf Stuhl und Tisch klettert, weil er weder Werkzeug noch Leiter mitbringt
  • du tagelang im zwei-Sekunden-Takt dumpfe Schläge hörst und feststellst, dass eine frisch gemauerte und verputzte Hauswand nachträglich Fensteröffnungen bekommt

  • du auf der Strasse gehst, weil das Trottoir mit Baumaterial, Sandhaufen und zum Verkauf ausgeschriebenen Autos verstellt ist
  • du gewohnt bist, über Sandhaufen und Gräben zu steigen, um zur Strasse zu gelangen
  • deine Fusssohlen beim barfuss Gehen grau vor Staub sind, obwohl du vor einer halben Stunde den Boden nass gewischt hast
  • du um 12 Uhr 30 Mittagessen möchtest, aber sämtliche Restaurants und Take-aways noch geschlossen sind
  • nachts um 11 Uhr die Warteschlangen vor den Kassen am Supermarkt länger sind, als mittags um 12 Uhr
  • du weisst, ob dein Gegenüber nun „Ja“, „Nein“ oder „Vielleicht“ meint, obwohl er nur „Inscha’allah“ sagt
  • du als Frau dein Gesicht zur Maske erstarren lässt, sobald du öffentlichen Raum betrittst
  • du Lebensmittelpackungen vor dem Einkauf schüttelst um zu prüfen, ob die Packungen ganz sind
  • du weisst, dass du vor 11 Uhr vormittags niemanden anrufen solltest
  • du aber noch nach Mitternacht geschäftliche Anrufe erhältst


Das ist meine momentane Liste, die ich während einer Nacht mit Bohrmaschinen-Hintergrund-Geräusche erstellt habe. Sie ist nie vollständig und darf nach Belieben ergänzt werden. Mit einem Augenzwinkern ;)


Dienstag, Juli 09, 2013

Hurghada ist eine Insel

Es erreichen mich wieder besorgte Anfragen, ob Hurghada denn noch sicher sei für Ferien. Die Antwort ist: Ja!

Das EDA (Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten, Schweiz) empfiehlt, die Reisetätigkeit in Ägypten auf die Region des Roten Meeres zu begrenzen.

Also: herfliegen, Sonne, Meer und Wind geniessen und sich von Menschenansammlungen fern halten.

Hurghada ist in jeder Beziehung eine Insel. Weder ist es „typische ägyptisch“, noch spricht man hier nur Arabisch und es leben auch viele Ausländer hier. Vielleicht ist es deshalb auch sicherer als anderswo.

Gestern war ich zufällig im Regierungsviertel, wo die Morsi-Anhänger demonstrierten. Ich kam von hinten heran und ging an der Polizei-Kaserne vorbei. Sie ist voller Polizei-Fahrzeuge und Polizisten. Sie standen dicht gedrängt um die Demonstrierenden. Nicht die „netten“ Tourismus-Polizisten in Weiss, sondern die schwarz gekleideten, schwer bewaffneten und gut ausgebildeten. Ich war beruhigt: gut zu wissen, sie sind vorbereitet, falls etwas geschehen sollte.



Ich wünsche euch schöne Ferien!

Montag, Juli 08, 2013

Militärstreich oder Staatsstreich?

Es ist schon wieder vier Tage her und ich hätte diesen Blog früher geschrieben, wenn ich nicht noch immer schwach auf den Beinen wäre.

Was Ägypten am 4. Juli geleistet hat, ist weder ein Staatsstreich noch ein Militärstreich. Wenn 30 Millionen Menschen auf die Strasse gehen, um einen Tyrannen und ein Terroristen-Regime loszuwerden, ist das ein demokratischer Akt, von mir aus ein Volksstreich. Auf jeden Fall ist es eine unüberhör- und unübersehbare Willenskundgebung.

Ich bin enttäuscht von den westlichen Regierungen, die sich da sehr weit aus dem Fenster gelehnt haben und sogar verlangten, Morsi müsse wieder eingesetzt werden, weil er „legitimer“ Präsident sei.

Wo waren denn all diese Rufer, als Morsi mit gefälschten Wahlen zum Präsidenten gewählt wurde? Wieso meckerte niemand, als er die Verfassung verdrehte und sich über den Staat stellte? Wo waren all diese Demokratie-Aufpasser, als Morsi Gesetze erliess, die gegen die Menschenrechte verstossen und eindeutig gegen Minderheiten zielt? Wo waren sie, als Aktivisten, Journalisten, Blogger, Atheisten und weitere anders Denkende wegen „Blashemie“ oder „Beileidung des Präsidenten“ angeklagt, gefoltert und hinter Gitter gebracht wurden? Wo waren sie, als Morsi Gouverneurs- und Ministerposten mit seinen Muslimbrüdern besetzte?

Ich bin der Meinung, dass das ägyptische Volk der Welt vormacht, was Demokratie ist und dass es nicht mehr gewillt ist, sich sein Schicksal von Tyrannen, Diktatoren und ihren westlichen Geldgebern vorschreiben zu lassen. Ich habe riesige Achtung vor der Leistung der Tamarod-Bewegung, die innert weniger als zwei Monaten 22 Millionen beglaubigte Unterschriften gesammelt hat und anschliessend 30 Millionen Menschen auf die Strasse brachte. Irgendwo las ich von einem sogenannten „Spezialisten“, dass das ja nicht mal die Hälfte der Bevölkerung (85 Millionen) sei. Ok, richtig. Aber es ist viel mehr, als Morsi Stimmen erhielt und ein Vielfaches dessen, das an den gefälschten Parlamentswahlen und der Abstimmung über die Verfassung abgegeben wurden. Ägypter lebten über 30 Jahre lang in einer Diktatur, in der der Ausgang der Wahlen von Anfang an bekannt war. Woher sollen sie jetzt plötzlich Vertrauen in ein System haben, das bisher gezinkt war? Und trotzdem gingen 30 Millionen auf die Strasse. Jetzt wissen sie wieder, dass ihre Stimme zählt!

Ferner sind jene „Militärstreich“-Rufer offenbar leicht gläubig. Das Militär hat gar nie wirklich die Macht abgegeben! Es ist nach wie vor ein Staat im Staat und hütet diese Position mit allen Mitteln. Je länger je mehr glaube ich, dass sie den Deal mit den Muslimbrüdern nur eingegangen sind, um die MB zu entlarven.

Die jetzige Situation ist nicht lösbar ohne das Militär. Es muss auf der Seite des Volkes stehen und es muss gegen die Terroristen und Verbrecher des „legitimen“ Präsidenten vorgehen. Der Übergang zu einem Zivilstaat mit einer „echten“ gewählten Regierung braucht Zeit. Ob das Militär sein Wort hält, wird sich weisen. Doch vor zu schnellem Urteil würde ich zurück schrecken. Ägypten steht seit Januar 2011 in einer Revolution, die noch nicht zu Ende ist, die jetzt vielleicht einen ihrer Höhepunkte erlebt. Das wird nicht ohne Verluste geschehen, aber je schneller umso besser. Ich habe hier auf meinem Blog immer wieder gefragt, wann das Militär eingreift, denn es kann ja nicht tatenlos zusehen, wie ein ganzes Land – und mit ihm ihre eigenen Pfründe – in den unausweichlichen Abgrund stürzt.

Immerhin hat das ägyptische Volk erkannt, was die Muslimbrüder wirklich sind. Und die Welt sieht es nun auch auf den Bildschirmen – ausser sie sieht grad CNN oder Al Jazeera.

Noch mehr enttäuscht bin ich, wie sehr der Westen diese Verbrecherorganisation unterstützt hat. Die westlichen Regierungen verstecken sich hinter einem Etikett, auf dem „Demokratie“ steht. In Wahrheit werden Taliban, Al-Qaida und andere Terroristen unterstützt, damit der Nahe Osten (und andere Regionen) ganz sicher nie stabil werden kann und niemals so etwas wie eine „Demokratie“ entstehen kann.

Ägypter haben das verstanden. Sie werden sich ihre eigene Demokratie erschaffen und wieder ein Vorbild für die Region, vielleicht sogar für andere Länder werden, die sich mit der Bezeichnung „Demokratie“ schmücken.

Lieber Westen: Demokratie findet nicht nur an den Wahlurnen und an Konferenztischen statt. Sie kann auch auf der Strasse stattfinden, wenn die Menschen sonst keine Möglichkeit haben, ihren Willen zu äusser!



Mittwoch, Juli 03, 2013

Morsi abgesetzt

Was für ein Volk, was für eine Jugend!
Zuerst sammeln sie 22 Millionen Unterschriften.
Dann bringen sie 30 Millionen Menschen auf die Strasse, um gegen ihren Präsidenten zu demonstrieren.
Und nun schaffen sie es, innert weniger als zweieinhalb Jahren gleich zwei Präsidenten zum Teufel zu jagen.

Ich will nicht an einen erneuten Staatsstreich glauben. Zu zersplittert und am Boden ist das Land. Jede Partei, jeder Politiker und jeder Bürger hat während den vergangenen 29 Monaten eine bittere Lektion gelernt. Ausserdem haben die Ägypter nun die Gewissheit, dass ihre Stimme zählt, dass sie etwas erreichen können, wenn sie zusammen halten.

Ich freue mich, ich bin glücklich für dieses Volk, das so viel Leid ertragen muss…. Ich kann es gar nicht in Worte fassen…. Endlich können sie daran gehen, ihr Land so zu gestalten, wie sie es sich wünschen.

Mögen sie es endlich schaffen.


Gestern Abend in Hurghada: fertig Party

Ich ging auf die Strasse, weit kam ich aber nicht. In Sekalla stellte ich fest, dass ich noch zu schwach war, um länger auf den Beinen zu bleiben. Meine Freundin wollte schon gar nicht erst weiter nach Dahar zum Sitzstreik, sie hatte Angst.

Noch bevor wir uns entschlossen, nach Hause zu gehen, fanden wir uns mitten in einer anderen Demo: Pro-Morsi-Demonstranten. Aber was für eine wilde Horde war das: sie rannten und schrien, sie liefen im Eiltempo zwei oder dreimal um die gleichen Häuserblocks. Ob sie wohl pro Runde bezahlt würden, fragte ich mich. Ich schaute in ihre Gesichter, beobachtete ihre Bewegungen und musterte ihre Kleidung. Und jetzt hatte ich nur noch Mitleid: Männer – und ganz wenige schwarz verschleierte Frauen – der aller untersten Schicht demonstrierten hier für ihren „legitim gewählten“ Präsidenten Morsi. Wie viel Geld hatten sie wohl dafür erhalten?

Da die Strasse verstopft war, gingen wir zu Fuss Richtung Central weiter und wurden zwei Mal von der Horde überholt. Bei der Sherry-Strasse bogen sie ab. Ich ahnte nicht, was noch geschehen würde. Ich informierte lediglich ein paar Bekannte über die Demo.

Etwas erschöpft zuhause angekommen, klebte ich mich ans Internet – ich habe ja seit dem Stromunterbruch noch immer keinen Fernseher – um zu erfahren, was im Land los ist. Um Viertel nach Elf ruft mich ein Freund und Schüler an und fragt, ob ich in Dahar sei. Ich verneinte. Dann „bitte, bitte bleib wo du bist und geh nicht raus!“ sagte er. Seine Stimme schwankte voller Angst. Die Muslimbrüder sind unterwegs nach Dahar und erreichen gleich die Anti-Morsi-Demonstranten. Durchs Telefon hörte ich Luftschüsse. Das war keine Party mehr wie an den vorangegangenen Abenden.

Ich rief meine Freundin S. an, die mitten drin stand. Sie war aufgeregt und angespannt, hielt nach ihren Söhnen und nach der Polizei Ausschau. „Wir sind sicher, die Polizei ist da.“

Es kam trotzdem zu einer Schlägerei, die mehrere Verletzten zur Folge hatte, darunter ein Polizei-Offizier. Die Schlägerei mit Holzknüppeln dauerte knapp eine Stunde.

Wie ich heute aus zahlreichen Gesprächen erfuhr, hatte sich die Polizei gedeckt gehalten und hat sofort eingegriffen, als die MB zuschlugen. Tränengas wurde versprüht und die Angreifer flohen. „Sie kämpfen nicht für ihren Glauben, sonst würden sie weiter kämpfen. Sie kämpfen für Geld.“ Diese Aussage hörte ich heute zwei Mal. Ich hatte mich am Abend schon gewundert, woher plötzlich so viele Morsi-Anhänger auftauchten. Sie waren von Safaga und anderen kleinen Ortschaften heran gefahren worden und um Mitternacht mussten sie wieder in ihre Busse steigen! Folglich kehrte am Protest-Ort wieder Ruhe ein, viele Demonstranten übernachteten dort.

Was sich abgespielt hat, ist nichts Neues. Neu ist es nur in Hurghada. Die Muslimbrüder besitzen hier Hotels und Touristikunternehmen. Wie dumm oder verbissen müssen sie sein, auch hier Blut fliessen zu lassen? Sie tun sich damit ja selbst weh! Trotzdem behaupte ich, dass Hurghada momentan einer der sichersten Orte Ägyptens ist.

Viel mehr schockiert hat mich eine andere Nachricht. Ein bekannter Geschäftsmann und Politiker, der eine Buchhandlung führt, von der ich oft Unterrichtsbücher bezogen habe, hat sich in den letzten Tagen offen als MB-Aktivist bekannt und er hat die gestrige Demo angeführt! Seine deutsche Frau hat er vor wenigen Tagen nach Deutschland ausfliegen lassen. Er erwartete wohl das Schlimmste in Hurghada. Ein Schläfer sei er gewesen, sagt man. Die Bücher für meine Schüler werde ich künftig woanders besorgen, obwohl es viel aufwändiger und komplizierter wird; doch so Jemanden will ich nicht unterstützen. Nicht nur ich, sondern viele in meinem Bekanntenkreis sind gleichfalls schockiert. Um meine Freundin S. zu trösten, sagte ich, „in Zeiten wie diesen lernt man seine Gegner kennen.“ „Und ich werde ihn bekämpfen, ich habe keine Angst vor ihm, er wird Angst vor mir bekommen.“

In 80 Minuten läuft das Ultimatum der Armee ab. Morsi hat in seiner mitternächtlichen Rede geschworen und gepoltert, dass er nicht zurücktreten werde. Die Armee verlangt seinen Rücktritt oder wird ihn fest nehmen. Wenn ich Morsi wäre, würde ich mir eine Kugel in den Kopf jagen. Die Armee hat bereits das staatliche Medienzentrum MASPERO übernommen, wir warten auf eine Ansprache und wir hoffen alle auf gute Nachrichten. Die Armee heute auch in Hurghada eingetroffen, um die Polizei zu unterstützen.

Vielleicht bin ich auch jetzt wieder naiv, aber ich erwarte nur noch, dass es endlich aus ist mit der MB-Diktatur und die Ägypter endlich ihr Land so aufbauen können, wie sie es sich vorstellen und wünschen. Stolz bin ich auf all jene, die noch vor einem Jahr sagten „was können wir denn tun?“ und jetzt demonstrieren, aktiv für ihre Zukunft kämpfen und realisiert haben, dass sie etwas tun können.

Und ich möchte endlich wieder fit sein, um wieder auf die Strasse zu können.


Montag, Juli 01, 2013

Erfolgreiche „Tamarod“ Kampagne

Gestern sah die Welt die grösste (gemäss BBC) Demonstration mit geschätzten 15 Millionen Menschen auf den Strassen in Ägypten und im Ausland. In Hurghada waren es angeblich 50‘000.

Obwohl die lokalen und internationalen Medien heute eifrig über diese riesige, meist friedliche, Willenskundgebung berichten, habe ich das Gefühl, ich sollte etwas dazu sagen. Leider musste ich alles via Internet verfolgen, denn ich war zu schwach, um auszugehen. Eine Infektion…

Trotzdem war ich überglücklich zu sehen, dass der eifrige Einsatz der „Rebel“-Kampagne belohnt wurde. Die Aktivisten haben über zwei Monate hinweg fleissig und unermüdlich 22 Millionen Unterschriften gesammelt – das ist ein Viertel der Gesamt-Bevölkerung! - und die Menschen davon überzeugt, am 30. Juni auf die Strasse zu gehen, um neue Präsidentschaftswahlen zu fordern. Ein Freund berichtete mir heute Morgen, dass auch viele arme, einfache Leute und viele verschleierte, Frauen auf der Strasse waren; ein anderer zeigte mir Bilder von Plakaten und meinte stolz: „Schau, dir die jungen Männer an, das sind Taxi-Fahrer, Bazaar-Verkäufer und Kellner, keine Reichen und Gebildeten“; eine Freundin erzählte, „sogar Hotelbesitzer und Manager waren dabei, alle waren da“. Aus dem Internet habe ich erfahren, dass Stämme in Oberägypten (einer meiner Freunde sagte einst: „Oberägypten wird nie eine Revolution machen“) der „Rebel“-Kampagne ihre Unterstützung geben. Alle zeigten sie Morsi gestern die Rote Karte und forderten ihn auf zu verschwinden. Dazu tanzten und sangen sie und skandierten „Hau ab!“. Es war eine typisch ägyptische Party.

Tage vor dem 30. Juni wurde ich gefragt, was ich erwarte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war zu enttäuscht von den vergangenen 12 Monaten, enttäuscht von der Opposition. Sie war zerstritten, egoistisch und hat das Ziel aus den Augen verloren. Und ich wusste um die MB-Milizen und den weitverbreiteten Waffenbesitz. Bis die „Rebel“-Kampagne startete. Die dahinter stehenden Leute haben geschafft, was die politischen Parteien nicht geschafft haben: die Ägypter wieder zusammen zu führen. Nicht alle, aber eine klare Mehrheit. Und Morsi und seine Freunde von den MB haben den Ägyptern innert nur einem Jahr die Augen über die Bruderschaft geöffnet und dank ihrer Machtgier sich selbst den Todesstoss versetzt.

Seit heute Morgen wage ich wieder, Erwartungen und Hoffnungen zu formulieren. Die Muslimbrüder werden verschwinden, sang- und klanglos abhauen; feig, wie sie sind. Beobachter meinen zwar, man werde Morsi die Möglichkeit geben, mit Anstand zurück zu treten. Das wird er kaum machen, er hält sich ja jetzt schon versteckt. Drei Tage brauche es noch, meinen die Einen, das Militär gibt den Lagern noch 48 Stunden. Die Leute der Kampagne haben einen Plan für den Übergang zu Präsidentschaftswahlen erstellt, das Militär bietet an, vorübergehend die Regierung zu übernehmen. Lieber nicht, meine ich, lasst das lieber die Leute von der „Rebel“-Kampagne machen, aber schützt das Land, sucht die MB-Milizen auf und bringt sie wieder hinter Schloss und Riegel.

Die sehe ich als grosse Gefahr: sie werden die Drecksarbeit verrichten, während der Kopf der Organisation sich ins Ausland absetzt. Angeblich sind Mitglieder der Milizen Angehörige der Hamas (keine Ägypter!). Das lässt nicht viel Gutes erhoffen.

Vor ein paar Tagen sagte ich, ich wünschte mir, die MB würden vor dem Volk feig davonrennen und im Roten Meer ersaufen. Vielleicht kommt es im übertragenen Sinn soweit. Vielleicht habe ich auch schon wieder zu viel Hoffnung für Ägypten?
Egal, morgen gehe ich auch wieder auf die Strasse.