Geburtstag (Teil I + Teil II)

Geburtstag (Teil I)

Es war ein schöner Abend. Es war lustig. Es war unterhaltsam. Wir haben viel getrunken und noch mehr gelacht. Geschichten erzählt von damals.

Damals, als wir noch Träume hatten.

Mit dem Wattebausch tupfe ich die Wimperntusche weg. Im klaren Licht des Badezimmers sehe ich aus, wie ich bin: fünfzig. Viele Falten um die Augen – vom Lachen. Viele Falten auf der Stirn – vom Kummer. Noch mehr Falten von noch mehr Erlebnissen. Ich betrachte mich im Spiegel. Ja, das ist das Gesicht einer Frau, die ihren fünfzigsten Geburtstag feucht-fröhlich gefeiert hat. Es gibt nichts zu tadeln, mir ging’s gut. Viele gute Freunde, einen aufmerksamen Ehemann, ein guter Job.

Trotzdem. War das alles? War da nicht noch was anderes? Ich zupfe ein graues Haar aus dem Scheitel, reinige mein Gesicht.

Doch, da war was anderes. Micky und Melanie haben mich heute Abend wieder daran erinnert. Ich hatte es verdrängt. Erfolgreich verdrängt. Jahrelang. Und wenn mich das Verlangen zu sehr packen wollte, habe ich mich in den Sport oder in die Arbeit hinein gestürzt. So konnte ich damit umgehen, leben, ohne meinem Wunsch nachzugeben. Nur ein- oder zweimal pro Jahr bin ich fast durchgedreht.

Ich nehme die Anti-Falten-Crème für reife Haut und trage sie auf. Nützt eh nichts, denke ich. Trotzdem kaufe ich das teure Zeugs. Du siehst gut aus, sagten sie heute Abend. Ja, danke, es geht mir gut.

Innerlich zerreisst es mich. Doch davon weiss niemand. Ich habe nie jemandem davon erzählt, nicht mal meinem Mann. Es ist mein grosses Geheimnis.

Wie oft habe ich mir früher überlegt, es endlich zu tun. Endlich DAS zu tun, wonach mich so sehr drängt. Ich hatte den Mut nicht. Habe mich lieber in eine Scheinwelt einlullen lassen, die von Oberflächlichkeiten getragen wird. Arrangiert habe ich mich. Basta.

Aus der Dusche ertönt das fröhliche Pfeifen meines Mannes. Wenn er zufrieden ist, singt oder pfeift er beim Duschen.

Was würde er sagen, ... wenn ich ... ?

Ich sehe in mein Gesicht. Fünfzig Jahre. Wäre es nicht an der Zeit, endlich das zu tun, wovon ich ein halbes Leben lang nur träume? Verdrängt habe ich es, ja, aber es ist immer noch da. Ich habe alles im Kopf, was es dazu braucht. Ich müsste nur Handeln.

Nein. Genug!

Ich streife mir den Bademantel über und will zur Tür hinaus, hinüber ins Schlafzimmer. Nochmals bleibt mein Blick im Spiegel hängen. Langsam wende ich mich diesem Blick zu, komme mir nochmals näher. Ich prüfe dieses Gesicht, diese Frau, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Ich sehe mich an, als ob ich jemanden Fremden betrachten würde. Das bin gar nicht ich! Das ist eine schlechte Kopie, was mir da entgegen blickt.

Das genüssliche Schnurren dringt durch die geschlossene Türe. Er schnarcht nicht, er schnurrt wie ein zufriedener Kater. Was würde er sagen, wenn ... ? Wie würde er reagieren? Was würde aus ihm werden?

Die Frau im Spiegel gibt mir überraschend Antwort: er würde weiterschnurren und unter der Dusche singen oder pfeifen.

Erschreckt starre ich in das Gesicht der Frau im Spiegel! Ha, jetzt lächelt sie! Sie lächelt, weil sie weiss, dass sie recht hat!

Natürlich hat sie das. Mein Mann käme auch ohne mich zurecht. Meine Freunde auch. Und ich wäre ja nicht ganz fort. Nur nicht mehr ganz hier.

Und überhaupt!

Wenn es mir gut tut?

Die Frau lächelt mich immer noch an. Sie strahlt Gewissheit aus. Gewissheit und Ruhe.

Ja, sie hat recht. Ich bin fünfzig. Es wird Zeit für einen Neuanfang. Nein, es IST Zeit für einen Neuanfang.

Meine Gedanken rasen, tragen mich fort. Morgen. Um neun und um elf geht ein Zug. Wenn ich gemütlich frühstücke, das Nötigste packe, kann ich ohne Hetze den Elf-Uhr-Zug nehmen. Mein Puls überschlägt sich, dröhnt mir durch den Kopf. Aber ich kann ganz klar denken. Schliesslich habe ich mir diesen Schritt jahrelang ausgemalt.

Und mein Mann? Ich werde es ihm beim Frühstück sagen. Ganz ruhig. Er wird einfach nur mit dem Kopf nicken und antworten: pass auf Dich auf Liebes!

Jetzt lächle ich. Beide – die Frau im Spiegel und ich – beide lächeln wir. Ich lösche das Licht und freue mich auf Morgen.


*****



Geburtstag (Teil II)

Weinberge fliegen an mir vorbei, die Blätter der Weinstöcke leuchten in der Sonne. Im Hintergrund stehen allmächtig die Alpen mit ihren weissen Hauben, über allem spannt sich ein blauer Himmel. Schäfchenwölkchen dekorieren das Bild. Ich sitze an einem wunderschönen Spätfrühlingsmorgen im TGV nach Südfrankreich.

Für die Fahrt habe ich es mir bequem gemacht: ein Buch meines französischen Lieblingsautors, mein MP3-Player, ein paar Früchte und etwas zu trinken habe ich vor mir ausgebreitet. Ein Schal dient mir als Kopfstütze, falls ich mal die Augen schliessen möchte oder als Schutz gegen die Klimaanlage. Ich geniesse den Blick auf die mir bekannte Landschaft. Unzählige Stunden habe ich da draussen schon verbracht: auf dem Fahrrad, im Schnee, in den Bergen, unten am See, alleine, mit Freunden, mit meinem Mann.

Ich lasse mit der Landschaft Erinnerungen vorbei ziehen und spüre eine tiefe Ruhe in mir. Die Gewissheit, das Richtige zu tun und eine unendliche Freude bewegen mich schon seit Wochen.


Die letzten paar Wochen waren ausgefüllt mit Vorbereitungen für meinen Aufenthalt. Als ich beim Frühstück nach der Geburtstagsfeier meinem Mann von meinen Plänen erzählte, hörte er aufmerksam, aber völlig erstaunt zu. Er sah mich liebevoll an und fragte: „Warum hast du mir nie davon erzählt? Hätte ich es gewusst, hätte ich dich unterstützt. Ich hätte Verständnis gehabt, dass du etwas anderes machen möchtest!“

Ich war erstaunt über seine Reaktion gewesen und wir haben an jenem Morgen lange diskutiert. Ich hatte wohl selber nie den Mut gehabt, mir diesen Wunsch einzugestehen. Wie hätte ich es Joël mitteilen sollen? Wie hätte ich ihm überhaupt sagen können, dass ich für einige Zeit etwas tun möchte, woran er nicht teilnehmen könne? Einmal mehr spürte ich jedoch, wie verständnisvoll und einfühlsam er ist. Der Blick aus seinen dunklen, warmen Augen sagte genug. Ich spürte, dass er mich trug – egal was ich machen würde, egal wie alles heraus kommen würde.

Gemeinsam machten wir einen Plan – denn noch gleichentags abfahren, war ziemlich unrealistisch. Ich musste meinen Job kündigen oder um Beurlaubung bitten. Ich wollte meine Eltern und meine engsten Freunde einweihen. Ich musste Kontakte auffrischen…

Wie ein Kind auf die Weihnachtszeit freute ich mich auf den Tag X und nahm all die Vorbereitungen mit Eifer in Angriff. Immer wieder stiess ich zu meiner grossen Überraschung auf Verständnis. Mein Arbeitgeber bot mir eine Beurlaubung für sechs Monate an, meine Eltern gratulierten mir zu meinem Entscheid und meine Freunde motivierten mich.

Ich schwebte. Ich war glücklich. Nie hätte ich gedacht, dass es so leicht gehen würde. Ich dachte immer, alle würden meinen, ich spinne. Doch das Gegenteil war der Fall und manchmal schwang auch etwas Neid mit, dass ich mich zu diesem Schritt entschlossen hatte.

*****

Wir sitzen zu viert um einen grossen Holztisch im hellen Atelier und diskutieren über Bildkomposition. Jeder bringt seine Erfahrungen ein und wir machen uns eifrig Notizen. Marie, die Leiterin oder besser: unsere Mentorin, gibt uns wertvolle Tipps bevor wir hinaus schwärmen.

Ich verbringe viele Stunden in der Natur. Ich sitze unter einem Baum und lasse die Landschaft der Provence auf mich wirken. Ich sitze auf einem Hügel unter einem Sonnenschirm. Oder unter dem Vordach einer Veranda eines verfallenen Bauernhofs. Ich skizziere zuerst mit Bleistift, dann mit Farbstiften, was sich vor mir auftut: das immense Blau des Himmel, der sich in einem Bogen über die hügelige Landschaft spannt, das saftige Grün der Bäume und Büsche, das strahlende Rot der Mohnblumen, das dunkle Lila des Lavendels und später das dezente Goldgelb des reifen Weizens. Ockerfarbene Bauernhöfe, tief in die Macchia geduckt, bunte mittelalterliche Dörfer mit dicht aneinander gedrängten Häusern, um einen Hügel geklebt. Quirlige Bächlein und Kanäle, welche die Erde vor dem Austrocknen bewahren. Knorrige, geduckte Weinreben, Köstlichkeiten versprechend. Ich atme die intensiven Düfte ein, lasse meinen Blick über die Landschaft schweifen, lausche der leeren Stille, die nur selten unterbrochen wird.

Und ich male. Die Skizzen übertrage ich später im Atelier auf eine Leinwand. Marie übt sanfte Kritik, ermuntert und findet tröstende Worte. Ich verzweifle. Ich freue mich. Mir kommen Tränen der Wut, aber auch Tränen der Freude. Ich arbeite mit Hingabe. Ich komponiere die Bilder zu dem, was mir die Natur gezeigt hat: ein Kunstwerk. Pinsel und Palette in der Hand, die Leinwand vor mir, bin ich in Gedanken wieder draussen inmitten der Natur und sehe, höre, rieche und fühle nochmals diese Landschaft.

Es vergehen Tage und Wochen. Ich versinke in meiner Arbeit und vergesse alles um mich herum. Es gibt nichts Wichtigeres mehr, als zu malen.

Joël besucht mich und ist begeistert von meinen Arbeiten. Ich sehe, wie er stolz auf mich ist. Er will einige meiner Bilder mitnehmen, um sie einem befreundeten Gallerist zu zeigen. Ich willige ein. Auch mein Chef verbringt ein paar Tage mit seiner Frau bei uns und wir werden Freunde.

Die Monate ziehen ins Land und die Schatten werden wieder länger. Der Herbst naht mit riesigen Schritten. Die Natur bäumt sich nochmals mit aller Kraft auf, zeigt nochmals ihre volle Schönheit im sanften Licht dieser Jahreszeit. Es wird Zeit für mich, nach Hause zurück zu kehren. Es fällt mir schwer.

*****

Die Menschen stehen dicht gedrängt, elegant oder extravagant gekleidet. Sie lauschen dem Redner, meinem ehemaligen Chef. Er hält eine Ansprache zu meiner ersten Vernissage. Meine Bilder hängen an der Wand, wunderschön inszeniert und ziehen die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Sogar einige Journalisten haben sich unter die Besucher gemischt.

Lächelnd begrüsse ich Bekannte, beantworte Fragen. Ich drehe mich um und stosse versehentlich an ein Glas. Es fällt klirrend zu Boden…

*****

Das Geklirr will nicht aufhören… es scheppert weiter…  

Mein Wecker… scheppert.

Verwirrt drehe ich mich erneut um.

Aus der Dusche höre ich Joël pfeiffen. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ein Traum… es war nur ein Traum.

Ich habe den Mut nicht.

In eineinhalb Stunden muss ich im Büro sein, eine wichtige Sitzung.
Schwerfällig stehe ich auf und gehe ins Bad.


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