Dienstag, Dezember 27, 2011

Kreativität

Was ist denn das?

Ich sitze einmal mehr auf dem Beifahrersitz im Minibus. Das ist auch im Winter mein liebster Platz, ausser wenn die Windschutzscheibe nicht zu schliessen ist – dann ist es nämlich schlicht zu kalt.

Ungläubig sehe ich das Ding am Rückspiegel an: das ist kein Rückspiegel, sondern ein Bildschirm von vielleicht 20 auf 12 Zentimetern und da drin bewegen sich Menschen! Ein Video! Da läuft doch tatsächlich ein Film! Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Fahrgäste hinter uns amüsieren sich prächtig und das tut auch der Fahrer.

Anspruchsvoll muss das sein, Bus fahren, sich auf den Verkehr konzentrieren, auf Verlangen anhalten, um Fahrgäste ein- und aussteigen zu lassen und gleichzeitig einen Videofilm verfolgen. Aber für Ägypter kein Problem!

Während ich mir darüber Gedanken mache und mir überlege, was wohl die Polizei dazu zu sagen hat, braust der Bus an einer wichtigen Abzweigung vorbei. Sekunden später bemerkt der Chauffeur sein Missgeschick, bremst und fährt an den Strassenrand. Kurzerhand legt er den Rückwärtsgang ein, fährt dem Verkehr rückwärts entgegen in eine Einbahnstrasse, kehrt dort um und fährt in der falschen Fahrtrichtung zurück zur Abzweigung, die er vorher verpasst hat.

Alles kein Problem. Fantasie und Kreativität gehören in Ägypten zum Alltag.


Mittwoch, Dezember 21, 2011

Elf Monate später

Während den vergangenen Wochen und Monaten ist Schreckliches in Ägypten geschehen. Seit dem 25. Januar ist es nur bergab gegangen.

Ich verfolge die Ereignisse aus der Nähe und habe hie und da die Gelegenheit, mit Ägyptern zu diskutieren. Trotzdem fällt es mir schwer, einen Überblick zu bekommen. Mein Kopf ist voller Fragen und Unverständnis, oft konnte ich gar nicht darüber schreiben. Ausserdem ist das hier ja kein Blog für Politik.

Aber ich erzähle hier von meinem Leben in Ägypten und deshalb versuche ich heute, einen Überblick aus meiner ganz persönlichen Sicht zu geben.

Hoffnung
Der Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 war für liberal denkende Menschen ein Freudenereignis und mit viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Elf Monate später ist von der Freude nichts mehr übrig. Es fühlt sich wie ein Kater nach einer ausgelassenen Feier mit Unfällen und Katastrophen an. Man merkt plötzlich, was man anders hätte machen– oder was man besser hätte sein lassen sollen.



Freitag, Dezember 16, 2011

Diesmal das Militär

Wieder brutale Angriffe auf Demonstranten. Wieder stehen Menschen auf Dächern und werfen Steinblöcke, Glas, Molotowcocktails und Möbel auf Demonstranten hinab. Wieder Schüsse. Wieder gibt es Verletzte und Tote. Wieder meldet das staatliche Fernsehen, dass das Militär von den Demonstranten angegriffen wurde (sic)!

Doch es gibt auch Neues: die (unabhängigen) Medien nennen den Angreifer beim Namen: das Militär. Bisher war es die Polizei, die Sicherheitspolizei oder angeheuerte Kriminelle. Jetzt ist es das Militär! Bilder und Augenzeugen berichten, wie auch Frauen jeden Alters, auch Kopftuchträgerinnen und ganz verschleierte, brutal zusammen geschlagen werden.

Und das, nachdem der soeben ernannte Übergangsministerpräsident El-Ghanzouri versprach: die Demonstranten würden nicht mehr gewaltsam vertrieben! Und angeblich hat er doch sämtliche Vollmachten erhalten – ausser jenen über das Militär. Eben.

Wieder bleiben Fragen: was will das Militär? Was will das SCAF? Was folgt als Nächstes in diesem Land, das mit jedem Sonnenaufgang schneller in den Abgrund stürzt?

Donnerstag, Dezember 15, 2011

Schatten der Nacht

Der Sand schluckt die zielstrebigen, festen Schritte. Mondlos. Stockdunkel. Nur zaghaft lassen sich die Schatten der Mauern erahnen. Nach einer Weile erhalten sie Formen: Dächer, Balkone, Fenster, Türen. Irgendwo bellt ein Hund grundlos, bis ein weiterer Hund in das sinnlose Gebell einstimmt.

Sonst ist es still. Am schwarzen Nachthimmel leuchten funkelnde Punkte. Unbekümmert und beständig hängen sie dort oben und verschwenden ihre zeitlose Pracht wahllos an alle, die ihnen den Blick zuwenden. Die Schritte zögern… halten an, um dieses zauberhafte Bild einzufangen.

Abseits bewegt sich etwas… Unklares… Dunkles. Mitten im Dunkeln. Der Atem stockt, die Schritte beschleunigen, der Blick lässt die Himmelspracht fallen und klammert sich unsicher am Dunkeln fest. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Doch der Schatten kommt näher. Zwei Schatten. Viele Schatten. Der Puls rast, die Schritte bleiben fest und bestimmt.

Die langen, schmalen Schatten schweben tanzend über den unebenen Grund. Der Sand schluckt ihre Schritte, ihre langen flatternden Gewänder verschmelzen mit dem Dunkel der Nacht. Sie verschwinden hinter einer Mauer… tauchen wenige Sekunden später wieder hervor. Sie kommen näher und verschwinden wieder im zwielichtigen Dunkel.

Die befestigte Strasse ist fast erreicht, die Strassenlaterne wirft bereits ihr warmes Licht ins Dunkel. Aufatmen.

Doch dort im Dunkeln?

Die Schatten bewegen sich munter hin und her. Leises Gelächter erklingt… Spiel der Jungen im Dunkel. Lange Kaftane und Fangen, ein Kinderspiel. Was sonst? Wie töricht!


Dienstag, Dezember 06, 2011

Zusatzschlaufe

Sie steigen aus. Deutsche oder Schweizer, vermute ich. Sie wohnen in meiner Nähe. Sie fahren Minibus wie ich.


Kurz darauf steigt ein Ägypter ein und reicht dem Fahrer eine Tasche nach vorne, die da liegen geblieben ist. Ich sage zum Fahrer, – ich sitze mal wieder vorne – dass sie sicher von den Ausländern sei. Er bremst sofort, kehrt um und fährt eilig die kurze Strecke zurück, dahin, wo sie ausgestiegen sind. Ich meine, sie seien in jene Richtung gegangen. Der Fahrer fährt weiter, sucht, hupt, ändert die Richtung und siehe da: das Paar wird auf die Huperei aufmerksam und läuft erleichtert dem Minibus entgegen.


Sie bekommen ihre Tasche – der Fahrer kriegt fünf Pfund. Ich schäme mich innerlich über diesen mickrigen Finderlohn. Aber ich glaube, die Ausländer waren zu überrascht, um anders zu reagieren.


Der Fahrer kehrt auf seine Route zurück und erzählt aufgeregt, wie kürzlich eine Tasche mit Geld, Telefon und Pässen liegen blieb – und er sie nach ein paar Stunden den Eigentümern wieder übergeben konnte. Er erzählt, als ob es das Normalste der Welt sei, Wertsachen seinem Eigentümer zurück zu geben. Ist es ja auch, oder? Auch in Ägypten…

Angst

Seit die Wahlergebnisse der ersten Runde bekannt geworden sind, geht die Angst um. Angst, dass Ägypten zu einem radikalislamischen Staat nach dem Muster Irans oder Saudi Arabiens werden könnte. Die Vorstellung, dass sich Muslimbrüder (40% der Stimmen) und Salafisten (rund 20% der Stimmen) zusammen tun könnten, ist mehr als nur haarsträubend.

Ägypter sind religiös, aber sie sprühen vor Lebensfreude und wollen sich von niemandem dreinreden lassen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Ein Musikverbot für Menschen, die überall und bei jeder Gelegenheit anfangen zu singen, zu klatschen und zu tanzen? Zuletzt gesehen am Gemüsemarkt: die Bauern sangen und klatschten an ihren Ständen am helllichten Nachmittag!

Angst haben auch die Kopten vor noch mehr Einschränkungen und Schikanen. Und die Frauen, welche sich ihre Rechte seit den zwanziger Jahren mühsam erkämpfen mussten. Erneut betrogen fühlen sich all jene, die für den Sturz des Regimes gekämpft haben.

Nicht alle teilen jedoch diese Befürchtungen. Denn erst ist ein Drittel der Unterhauswahlen erfolgt. Theoretisch kann sich noch vieles ändern. Möglich, dass die Liberalen es schaffen, beim einfachen Volk mehr Gehör zu finden und deren Stimmen zu erhalten – dafür ist die Zeit jedoch sehr knapp und sie erhalten weder von Katar (Muslimbrüder), noch von Saudi Arabien (Salafisten) Millionen von Dollars an Unterstützung. Möglich, dass die Wahlbetrügerei unterbunden wird – im derzeit herrschenden Chaos unwahrscheinlich. Möglich, dass die Muslimbrüder mit ihrer Stimmenmehrheit eine Koalition mit den Liberalen eingehen und sich damit klar von den radikalen Salafisten distanzieren. Bei den gestern und heute stattfindenden Nachwahlen bekämpfen sie sich jedenfalls erbittert. Das kann sich auch wieder ändern, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Muslimbrüder sich mit den Salafisten einigen können.

Vor lauter Islamophobie geht ein bisschen unter, dass Ägypten ganz andere Probleme hat, als Alkoholverbot, Kopftuchzwang und Bekleidungsvorschriften für Touristen. Das Land braucht dringend Investitionen; das setzt Rechtssicherheit und Stabilität voraus. Es braucht eine Intensivierung der Landwirtschaft (Ägypten ist der grösste Weizenimporteur der Welt!). Die Korruption muss ausgemerzt werden. Das Notstandsgesetz muss abgeschafft werden. Das Bildungssystem muss dringend verbessert werden. Unternehmen müssen privatisiert werden. Die falsch verteilten Subventionen müssen abgeschafft werden. Die Umweltverschmutzung muss bekämpft werden. Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden, denn sämtliche Bereiche des Staates sind während der 30jährigen Diktatur verrottet…

Die Salafisten kriegen das kaum auf die Reihe. Sie haben ihren Stimmenanteil dank Drohung, Beeinflussung und Geschenken erhalten. Langfristig ist das keine Option in der Politik. Es würde voraus setzen, dass die Menschen weiterhin arm und ungebildet blieben.

Besonnene Menschen geben zu bedenken, dass die Muslimbrüder am ehesten fähig sein werden, die gewaltigen Probleme Ägyptens anzugehen. Sie haben eine achtzigjährige Erfahrung und viele von ihnen sind erfolgreiche Geschäftsleute und Unternehmer – auch im Tourismus.

Letzte Woche wurde mein Visum um ein Jahr verlängert und ich freute mich riesig darüber. Besonders, weil während den vergangenen Monaten immer wieder bekannt wurde, dass die Aufenthaltsgenehmigung einzelner Ausländer nicht erneuert wurde. Nach den Wahlergebnissen dachte ich einen Moment auch „wenn die Islamisten ans Ruder kommen, gehe ich; das brauche ich nicht“. Dann könnte ich ja nicht mehr Rennradfahren! Aber so weit ist es noch lange nicht. Mitte Januar wissen wir mehr und vorerst geht das Chaos weiter. Ebenso die Angst, auch wenn die Muslimbrüder sich bemühen, mit ihrer liberalen politischen Einstellung zu überzeugen.

Mittwoch, November 30, 2011

Muslimbrüder vorne?

Es scheint, dass nach der ersten von drei Etappen der Parlamentswahlen die Muslimbrüder die meisten Stimmen erhielten. Sicher ist, dass sie kräftig manipuliert haben – aber wohl nicht nur sie alleine. Die Ergebnisse werden offiziell morgen bekannt gegeben.


Es scheint…, denn es ist erst ein Drittel der Wahlen vorüber und in den kommenden zwei Monaten und an den nächsten zwei Wahl-Etappen kann noch viel geschehen. Die einen jubeln jetzt – vielleicht zu früh? Die anderen strengen sich nun vielleicht etwas mehr an – und jubeln zuletzt?


Eine Freundin rief heute verzweifelt aus: was soll ich denn machen, wenn ich mich plötzlich verschleiern soll???? Sie bezeichnet sich als „eigentlich wäre ich Muslimin“ – ist aber eine ganz normale, säkular eingestellte, moderne Ägypterin.


Spannend, wie es weiter geht. Aber ich bin viel zuversichtlicher als noch vor ein paar Wochen!



Sonntag, November 27, 2011

Kurz vor den Wahlen (V)

Kurz vor den Wahlen ist kurz nach den Wahlen. Oder wie oder was?


Obwohl die Wahlen erst morgen beginnen, gibt es bereits abgestempelte Wahlzettel! Ägypten schafft es wieder nicht, freie und faire Wahlen zu organisieren.


Auf diesem Link vom Guardian ist eine aufschlussreiche Darstellung vom aktuellen Parteiendschungel zu sehen. Eindrücklich. Doch was nützt es, wenn die Wahlen wieder gefälscht werden? Schade um den Einsatz all jener, die Ägypten wirklich weiterbringen wollen.

Freitag, November 25, 2011

Jetzt ist Revolution

Seit ich zum ersten Mal nach Ägypten gekommen bin, habe ich mich und die Ägypter gefragt: warum steht Ihr nicht auf? Warum wehrt Ihr Euch nicht? Habt Ihr keine Opposition im Untergrund oder im Ausland, die einen Aufstand organisieren kann?

Die Antwort lautete immer ähnlich: nein – wir haben die Muslimbrüder – Mubarak überwacht alles – wir sind geduldig. Laut über Ex-Präsident Mubarak zu reden, war lebensgefährlich: meine Gesprächspartner liessen den Blick jeweils ängstlich nach rechts und links schweifen und flüsterten nur noch. 30 Jahre Diktatur, 60 Jahr Militärmacht, kombiniert mit Unterdrückung, Einschüchterung und Armut, haben jegliche politische Entwicklung im Keim erstickt.

Wie anders ist es jetzt. Es sieht so aus, als ob die im Januar begonnene Revolution nun endlich durchgezogen wird. Die Forderungen sind klarer geworden, die Aktivisten, Gruppierungen und politischen Parteien haben dazu gelernt und sind reifer geworden. Heute finden in Kairo drei verschiedene Demonstrationen statt: jene gegen den Obersten Armeerat, dann demonstrieren relativ unbeachtet die Muslimbrüder und schlussendlich eine Gruppe, die sich „Schweigende Mehrheit“ nennt und für den Obersten Armeerat einsteht (und auch für Mubarak und das alte Regime).

Wie gross diese „Schweigende Mehrheit“ ist, weiss ich nicht. Einer meiner Bekannten gehört dazu und ich habe unzählige Stunden mit ihm diskutiert, gestritten und Tränen über seine unsäglich verwickelten Argumentationen vergossen. Diese Menschen klammern sich an eine Vergangenheit, die nicht mehr existiert und deren Verfallsdatum schon längst abgelaufen ist. In dieser gab es „Sicherheit“ (die Polizei stand ja an jeder Strassenecke!), jeden Tag sprach ihr „Vater Mubarak“ im Staatsfernsehen zu ihnen und „Mama Suzanne“ sorgte mit karitativen Werken für ihre „Kinder“. Es war klar, wie die Wahlen ausgehen würden: seit 30 Jahren gleich. Armut, Korruption, Diktatur, Folter, Zensur, Unterdrückung, Willkür und weitere Verbrechen an der Menschheit wurden ignoriert. Genauso ignorieren diese Menschen nun die heutige Situation. Kann man es ihnen verargen? Sie sehen die Gewaltübergriffe von Polizei und Armee. Sie wissen, dass Tausende von Verbrechern von Angehörigen des Regimes frei gelassen wurden, um Chaos und Angst zu verbreiten und Demonstranten anzugreifen. Sie lesen die Berichte über die unglaubliche Korruption im Land. Trotzdem wünschen sie sich die alten Zeiten zurück! Stehen sie unter Schock? Ein Abwehrreflex aus Angst vor einer unbekannten, bedrohlichen Zukunft? Ich glaube, für einen in einem liberalen Umfeld aufgewachsenen Menschen ist das unbegreiflich. Ich kenne aber auch viele Ägypter, die das nicht begreifen können.

Gestern hat mich eine weitere Aussage eines Bekannten entsetzt: auf dem Tahrir Platz wären nur Muslimbrüder und Hirnlose, die keine Arbeit hätten und sonst nichts zu tun hätten. Das sind die Worte des Staatsfernsehens. Dabei haben ja genau die Muslimbrüder nun ein riesiges Problem, weil sie eben nicht auf den Tahrir Platz gingen! Mein Arabischlehrer hat uns gestern eine sensationelle (Politik-)Lektion erteilt. Am Schluss meinte er, die Muslimbrüder hätten mit diesem Entscheid viel Wohlwollen verspielt.

Ich möchte betonen, dass solche Ansichten und Äusserungen quer durch alle Bevölkerungsschichten schwirren. Es ist völlig egal, ob jemand gebildet ist oder nicht! Das empfinde ich umso erschreckender!

Niemand hat eine Ahnung wie es weitergeht. Angeblich sollen die Wahlen am Montag beginnen (auch hier in Hurghada). Die Demonstranten haben unter Führung von El Baradei ihre eigene „Rettungsregierung“ aufgestellt und den vom Obersten Armeerat ernannten Premierminister (ein Gefährte Mubaraks) abgelehnt. Der Oberste Armeerat wird kaum noch weitere Eingeständnisse machen. Eine Pattsituation – scheint es. Gewalt ist (hoffentlich) keine Option mehr. Doch wie lange lässt die Lösung oder der Kompromiss auf sich warten? Inzwischen geht das Land nämlich wirtschaftlich noch weiter bachab…


Mittwoch, November 23, 2011

Eskalation

Obwohl der Oberste Armeerat gestern Zugeständnisse gemacht hat, obwohl eine Untersuchung der Ereignisse stattfindet und der Gesundheitsminister klar von scharfer Munition gegen Demonstranten spricht – geht das Massaker weiter. Die Polizei wird nicht zurück gepfiffen, im Gegenteil…

Es scheint, als ob die Demonstranten zermürbt oder entzweit werden sollten. Falsch kalkuliert. Das wird nicht geschehen.

So schlimm es in vielen Städten Ägyptens zugehen mag, ich kann meinen Lesern versichern: Hurghada ist ruhig, wie es sich für einen Ferienort gehört. Angeblich gab es Sympathiekundgebungen in Dahar – aber friedlich.




Macht des Volkes

Grauenhafte Szenen spielen sich überall in Ägypten ab, die Polizeigewalt ist unglaublich. Trotzdem sind Plätze und Strassen zum Bersten voll.

Inzwischen hat der Oberste Armeerat einige Zugeständnisse gemacht. Das Vorgehen und die Bilder gleichen sich mit jenen von Januar und Februar: das Volk fordert, die Führung gibt häppchenweise nach, macht Versprechungen, lügt, geht aber nicht auf die zentrale Forderung ein. Gleichzeitig werden die Demonstranten weiterhin brutal mit Tränengas (und angeblich Nervengas) und Gummigeschossen durch die Strassen gehetzt und schwerstens verprügelt. Der einzige Unterschied gegenüber Januar/Februar scheint zu sein, dass die Gewalt seitens der Polizei diesmal viel grösser ist. Und: die Soldaten sind verschwunden! Feldmarschall Tantawi sagte, die Armee habe nie auf einen Zivilisten geschossen und komme seiner Hauptaufgabe nach, das ägyptische Volk zu schützen - lässt aber die Sicherheitspolizei weiter wüten.

Die Menschen sind zornig und wollen nur noch eines: Tantawi soll gehen. Sie werden nicht aufgeben, genauso wenig wie sie es im Februar taten. Die Macht des Volkes ist gross, auch Tantawi wird sich ihr noch beugen müssen.

Inzwischen haben politische Parteien und Gruppierungen sich auf ein Vorgehen nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Essam Sharaf geeinigt. Irgendwie muss es ja weiter gehen, muss das Land endlich zur Ruhe kommen.

Vorhin rief mich eine Freundin schluchzend an, jetzt würde auch in den Tahrirplatz Tränengas geschossen (nein, es kommt aus den Seitenstrassen, wo die Schlachten stattfinden und womöglich aus den U-Bahn-Zugängen). Sie wäre gerne auf dem Tahrirplatz – aber ihr Mann ist schon in Kairo, das Risiko wäre zu gross, denn sie haben Kinder.

Ich würde gerne schlafen gehen, kann aber nicht. Es muss noch etwas geschehen… Die Armee hat völlig versagt und ihre Anerkennung und Verehrung durch das Volk komplett verloren. Und diese Abschlachterei kann doch nicht noch weitere vier Tage weitergehen!


Dienstag, November 22, 2011

Unterstützung für die Revolution

Einer meiner „Studenten“ hat den Unterricht abgesagt. Er ist Chirurg und fährt noch heute Abend nach Kairo, um die Ärzte dort zu unterstützen.

Von einem anderen Freund, von dem ich zu lange nichts mehr gehört habe, erhielt ich heute endlich die Nachricht, dass er schon seit einer Woche in Alexandria ist. Er bereitete das vor, was jetzt im Fernsehen zu sehen ist. Er ist auf der Strasse und sucht im Internet nach Möglichkeiten, wie sie sich gegen die fürchterliche Wirkung des Tränengases schützen können. Die Nachricht erreicht mich zu einem Zeitpunkt, wo ich mir Gedanken gemacht habe, was ich tun würde… Ganz bestimmt wäre ich als Ägypterin schon vor Jahren im Untergrund aktiv geworden, um die schreiende Ungerechtigkeiten des Regimes aufzudecken und bekannt zu machen.

Ich bin stolz auf alle, die für ihre Zukunft kämpfen.


Rückeroberung der gestohlenen Revolution

Eigentlich bin ich sprachlos. Zuviel Gewalt, zu viele schreckliche Nachrichten. Nach wenigen Stunden Schlaf weckte mich der Wecker, nur um ein SMS einer Ägypterin zu lesen: sie komme nicht zum Unterricht, sie habe die ganze Nacht die Ereignisse im Fernsehen verfolgt… Tja, was soll ich sagen?

Im gleichen Mass wie die Polizei brutal dreinschlägt, strömten den ganzen Tag weitere Demonstranten in den Städten zusammen, bereit, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Aktivisten und politischen Parteien formulieren klar ihre Forderungen. Feldlazarette sind eingerichtet worden. Die Demonstrationen nehmen wieder organisierte Formen an, so, wie im Januar und Februar. Für mich ist es tatsächlich der zweite Aufstand. Zehn Monate sind verloren, Ägypten hat bitter dafür bezahlt. Ich verstehe den Begriff „gestohlene Revolution“ immer besser. Aber ich glaube, die Ägypter holen sie sich zurück.

Angeblich hat das Kabinett geschlossen seinen Rücktritt eingereicht – welcher vom Obersten Armeerat jedoch zurückgewiesen wurde. Ich bin überzeugt, dass innerhalb der nächsten 36-48 Stunden die Weichen neu gestellt werden. Sorry, wenn ich mir Erlaube, Prophezeiungen zu formulieren – aber ich kann es mir nicht mehr verkneifen.




Montag, November 21, 2011

Weg von Ägypten

Gestern hatte ich einen neuen „Studenten“ (so nenne ich meine erwachsenen Kunden, die bei mir eine Sprache erlernen wollen). Ich kannte ihn von früher, er war einerseits mein Nachbar und andererseits schon einmal wegen Deutsch bei mir. Doch nun will er Französisch lernen.

Ausgerechnet Französisch? Er murmelte etwas von neuen Möglichkeiten, von veränderter Situation. Doch rasch wurde mir klar: er will wohl auch weg von Ägypten. Als er dann bei mir war, sagte er klipp und klar: ich will nach Québec, Kanada.

Ägypten biete keine Zukunft mehr. Was solle er noch in diesem Land? In den letzten Monaten habe sich alles nur noch verschlimmert. Seine Frau lerne nun in Ismailia Französisch und er hier bei mir. Er habe Verwandte in Québec, es sei ein gutes Land, biete gute  Möglichkeiten.

Er ist nicht der Erste und sicher nicht der Letzte aus meinem Bekanntenkreis. Ein anderer hat eine Schweizerin geheiratet, lernt eifrig Deutsch. Sein Ziel: Deutschland oder die Schweiz.

Ein weiterer Freund ist Libanesischer Abstammung – wo Christen auch verfolgt werden – und plant ebenfalls, nach Kanada auszuwandern. Seine Worte werde ich wohl nicht wieder vergessen: ich geh besser, bevor sie mich noch umbringen.

Die Jungen, gut Ausgebildeten versuchen, das Land auf legale Weise zu verlassen. Und dann gibt es noch jene, die es auf illegale Weise versuchen. Doch: was machen all die anderen, die nicht weg können? Jene, die zu alt sind, keine Fremdsprachen sprechen, Verpflichtungen haben oder es sich schlicht nicht leisten können?

Ägypter lieben ihr Land. Typisch südländisch, ist die Bindung an ihr Land und an ihre Familien enger als es wir Westeuropäer vielleicht empfinden. Wie ausweglos müssen sie sich denn fühlen, um all das hinter sich zu lassen.


Sonntag, November 20, 2011

Kurz vor den Wahlen (IV)

Die Demo wird Folgen haben, schrieb ich gestern spät. Sie ist heute weiter gegangen und wird nicht so rasch wieder abebben. Die von Polizei und Militärpolizei eingesetzte massive Gewalt gegenüber den Protestierenden ist unglaublich. Gleichzeitig heisst es von offizieller Seite, dass die Polizei sich grösstmöglich zurück gehalten hätte! Über Tausend Verletzte und mindestens sechs Tote innert 48 Stunden, zahlreiche Bilder und Videos in Internet und Fernsehen sprechen Bände. Riesige Mengen von Tränengas wird eingesetzt, das den Betroffenen Blut aus Nase und Mund rinnen lässt; manche sind dem Ersticken nahe. Das nennt man Zurückhaltung???

Landesweit sind die Menschen auf der Strasse: Alexandria, Port Suez, Ismailia, Minya, Tanta, Asiut, Qena… und überall die gleichen Bilder: Demonstranten fordern den Abgang der Militärjunta und Polizisten wenden brutale Gewalt an.

Wie weiter? Die Demonstranten fordern, dass Feldmarschall Tantawi abtritt und eine zivile Übergangsregierung eingesetzt wird, um die Forderungen der Revolution umzusetzen. Das ist momentan gar nicht möglich. Die Ägypter werden sich aber nicht mehr mit irgendwelchen Versprechen abfertigen lassen – sie warten schon zu lange auf Tatsachen. Die Demonstranten mit noch mehr Gewalt vertreiben? Ich glaube nicht, dass sie sich vertreiben lassen: sie sind entschlossen, endlich reinen Tisch zu machen.

Und die Wahlen? Ich kann’s mir nicht vorstellen…

Erdbeben

Ein, nein, zwei wirkliche Erdbeben. Gestern früh zitterte das Gebäude, in dem ich wohne, eine kleine Ewigkeit. Genug lange, um mir zu überlegen, was ich tun soll. Hinauslaufen? Auf den Balkon stehen – zu dumm. Ich dachte auch an jene Menschen, die viel stärkere Erdbeben erlebt haben und dabei alles, Hab und Gut und Familienmitglieder, verloren haben. Doch dann hörte das seltsame Scheppern und Zittern von allen sonst so stabil erscheinenden Gegenständen wieder auf.

Ich vergass es, denn die Ereignisse der vergangenen Nacht beschäftigten mich sehr.

Doch heute Morgen – ich lag noch im Bett – spürte ich erneut dieses bekannte Vibrieren; diesmal war es aber weniger stark und weniger lang. Trotzdem hielt ich einen Moment den Atem an… lauschte… spürte… würde es stärker werden?... würde es lange dauern?.... Nein.

Dafür ist die brutale Gewalt von Polizei und Militär gegenüber den Demonstranten wieder voll zutage getreten.


Samstag, November 19, 2011

Kurz vor den Wahlen (III)

Gestern Freitag fand in Kairo die grösste Demonstration seit Monaten statt. Unterstützt wurde sie in weiteren Städten des ganzen Landes. Gefordert wurde eine rasche Machtübergabe des Militärs an eine gewählte zivile Regierung und Präsidentenwahlen vor April 2012.

Zuerst waren die Islamisten präsent (direkt nach dem Freitagsgebet), dann gesellten sich aber alle möglichen Aktivisten, Zivilisten und politische Gruppierungen hinzu. Gegen Abend war die Menschenmasse auf 50‘000 angeschwollen.

Die meisten verliessen den Tahrir Platz in der Nacht, einige wenige Aktivisten blieben aber und campierten über Nacht.

Heute Samstag wurden sie im Laufe des Tages gewaltsam von der Polizei und der Spezialeinheit vertreiben. Als die Polizei weg war, strömten die Demonstranten von allen Seiten, von allen Gruppierungen zurück. Jetzt ist kurz vor Mitternacht und noch immer strömen Menschen zum Tahrir Platz. Gleiches geschieht in allen wichtigen Städten Ägyptens. Präsidentschaftskandidaten stossen zu den Demonstranten hinzu und unterstützen sie – bzw. nützen die Gunst der Stunde.

Die Polizei greift wie gewohnt brutal ein; mehrere Journalisten wurden schwer verletzt und ihrer Ausrüstung beraubt, einer hat sein Auge verloren. Die Zahl der Verletzten steigt von Minute zu Minute und wird nun mit fast 600 beziffert.

Es geht mir nicht aus dem Kopf… Ist das der zweite grosse Aufstand? Die Ägypter haben die Schnauze mehr als voll. Seit Mubarak zu Fall gebracht worden ist, ist alles schief gelaufen. Die Ziele des Aufstandes vom 25. Januar sind boykottiert worden… Stehen die Ägypter jetzt noch ein zweites Mal auf, Islamisten und Säkulare, um sich vereint zu wehren? Werden die Wahlen überhaupt stattfinden? Die heutige Demo wird Folgen haben…




Samstag, November 12, 2011

Kurz vor den Wahlen (II)

Jetzt wird’s interessant: Ein Verwaltungsgericht im Gouvernement Dakhaliya hat einen Gerichtsentscheid gefällt, wonach ehemalige NDP Mitglieder von den kommenden Parlamentswahlen ausgeschlossen sind. Anscheinend kann dieser Entscheid NICHT angefochten werden und kann aufs gesamte Land angewendet werden.

Wenn dem so ist, wird’s wirklich spannend. Die ex-NDPler werden sich mit Händen und Füssen wehren und alle ihnen verfügbaren (Druck-)Mittel einsetzen, um doch noch ins Parlament zu kommen. Noch zwei Wochen bis zu den Wahlen…
Update 14.11.2011:Der Oberste Verwaltungsgerichtshof hat den Entscheid wieder ausgesetzt. Niemand weiss, was als nächstes geschieht...

Mittwoch, November 09, 2011

Kurz vor den Wahlen

Ende Monat finden die ersten „freien“ Parlamentswahlen statt. Ob sie denn wirklich so frei sein werden, bezweifle ich.

Zweieinhalb Wochen vor den Wahlen versinkt Ägypten immer tiefer im Chaos. Die schlechten Nachrichten hören nicht mehr auf und drum mag ich manchmal gar nichts mehr auf meinem Blog schreiben.

Die Muslimbrüder haben die Feiertage (Opferfest) dafür genutzt, die grosse Masse der armen und ungebildeten Bevölkerung für sich zu gewinnen, in dem sie den Kindern Spielzeuge schenkten und den Menschen Nahrungsmittel, vor allem das für viele Familien unerschwingliche Fleisch, zum halben Preis verkauften.

Aktivisten haben schwarze Listen mit Namen von ehemaligen NDP-Mitgliedern publiziert, die sich wieder wählen lassen möchten. Nicht nur ehemalige, sondern auch Minister der jetzigen Übergangsregierung haben Ex-Präsident Mubarak Glückwünsche zum Opferfest überbracht. Der Begriff „schmeicheln“ ist zu wenig kräftig, um das zu beschreiben… Es ist inzwischen jedem klar geworden, dass erst der Kopf des alten Regimes entfernt wurde, der Körper lebt jedoch noch heftig um sich schlagend weiter.

Der Oberste Armeerat hat ein Papier dazu erlassen, wer die neue Verfassung ausarbeiten soll und was darin zu stehen hat. Quer über alle politischen Richtungen ging ein Aufschrei durchs Land, weil die Armee darin ihre Macht festigen will. Anklagen und Verurteilungen von Zivilisten durch das Militärgericht sind an der Tagesordnung. Einige Aktivisten verweigern die Aussage vor dem Militärgericht; einer von ihnen ist seit Monaten im Hungerstreik. Es wurde sogar versucht, ihn als psychisch krank in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Kopten werden willkürlich als Unruhestifter und Verursacher des Massakers vom 9.10.2011 festgenommen und verurteilt. Eine unabhängige Untersuchung gibt es nach wie vor nicht.

Inzwischen schlagen sich in Oberägypten die Menschen die Köpfe ein. Die Tradition der Blutrache hat Oberhand genommen – kein Wunder in einem Land ohne Recht und Ordnung. Ein Freund erzählte mir, dass sich die Leute gegenseitig umbringen wegen einem gestohlenen Huhn, wegen einem Esel, der am falschen Wegrand gefressen hat.

Ich wollte eigentlich zur Abwechslung ein paar Tage nach Luxor fahren, liess es jedoch sein. Freunde raten mir allein schon von der Busreise ab. Zudem herrscht auch dort Krieg zwischen Banden und Familien. In Gruppen reisende Touristen mögen in Sicherheit sein. Aber dorthin alleine zu reisen habe ich absolut keine Lust. Die historischen Stätten werden auch das überleben und auf mich warten…

Somit bleibe ich in Hurghada, geniesse die Sonne und das glasklare Meer und schreibe in der Marina sitzend über die schwierige und langwierige Zangengeburt eines arabischen Landes, das sich aufgemacht hat, eine Demokratie zu werden.


Sonntag, Oktober 30, 2011

Ungeliebte Jahreszeit

Herbst. Meine ungeliebte Jahreszeit. Plötzlich verzieren Wölkchen den seit Monaten makellos blauen Himmel. Die Schatten wachsen in die Länge und in die Breite, sie dehnen sich fast unverschämt aus, kennen kaum Grenzen.

Palmwedel rascheln aufgeregt im unsteten Wind. Der ist unangenehm geworden, lässt einen frieren, obwohl es noch immer warm ist. Bäume und Pflanzen erstaunen mit frischen Knospen und Blättern. Die gnadenlose Hitze ist gewichen und gibt Raum für Neues.

Das Meer ist unruhig, die Wellen tanzen heftiger als sonst und tragen stolz weisse Schaumkrönchen. Es gibt wieder einen Horizont: die goldgelben Inseln im Meer, die Bergkette im Landesinnern.

Ich streife eine Jacke über, erstmals seit über einem halben Jahr. Mich friert.

Dienstag, Oktober 25, 2011

Ägyptische Spezialitäten (I)

Oft sehe oder höre ich etwas, was bei mir ein Lächeln oder Staunen hervorruft. Ich will diese Erfahrungen mit Euch teilen und schreibe unter diesem Label künftig über Dinge, Situationen oder Sachverhalte, die überraschend, lustig oder einfach anders sind, als in unserer geordneten und geregelten westlichen Welt.


Wozu denn eine Windschutzscheibe, wenn es auch ohne geht?


Dienstag, Oktober 18, 2011

Stern in der Wüste

Heute Vormittag machte ich mal wieder eine längere Radtour. Längere Ausfahrt heisst für mich auch, viele Eindrücke und Überraschungen aufnehmen.

Da winkten mir Arbeiter, die an den Stützen der Starkstromleitungen arbeiteten – weit entfernt von Hurghada, mitten in der Wüste. Die Fahrer der Vierzig-Tönner Lastwagen hielten schön Abstand, hupten und winkten.

Noch etwas zog meine Aufmerksamkeit auf sich: fünf Meter vom Strassenrand entfernt stand da etwas Kleines, Ungewöhnliches  in der Wüste. Weisse Bänder flatterten im Wind… ich fuhr weiter, bremste aber nach wenigen Metern ab und kehrte um. Ich legte mein Rad auf den Boden und erreichte in wenigen Schritten das…


… Erinnerungsdenkmal. Jakob, 22 Jahre alt, war hier am 12.8.2010 bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Die im Wind flatternden Bänder trugen Abschiedsworte in Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch auf sich. Ich war tief berührt.


Sonntag, Oktober 16, 2011

Meine heile Welt

Als ich ein Kind war, wollte ich nicht erwachsen werden. Mir gefiel einfach nicht, was die Erwachsenen machten. Sie redeten von Liebe und Freundschaft und dass wir Kinder nicht streiten sollten. Gleichzeitig sah ich aber, dass die Erwachsenen stritten, lügten und betrogen. Ich sah Krieg und Gewalt.

Ich lebte weiter in einer heilen Welt, in der die Menschen ehrlich waren und ihre Versprechen hielten. Irgendwann wurde ich trotz meines inneren Widerstandes erwachsen. Also stülpte ich eine dicke, durchsichtige Glasglocke über mich und gab vor, in einer heilen Welt zu leben.  Aber ach, mir fehlten die Macht und die Kraft, meine Welt zu verteidigen und immer wieder kam es vor, dass etwas von aussen durch die Glasglocke hereinbrach und meiner heilen Welt einen Sprung, einen Riss, eine Delle zufügte.

Ich las Bücher über Geschichte und Schicksale und Tragödien und konnte nicht fassen, dass all das möglich war. Ich sah Nachrichten, die das Unfassbare in Bildern zeigten. Dabei wollte ich viel lieber träumen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.

Beschützt durch die Glasglocke zog ich hinaus in die Welt der Erwachsenen. Dorthin, wo es Streit, Lügen, Armut, Machtkämpfe und Kriege gab. Ich zog weiter, obwohl das, was ich sah, meine heile Welt anfing zu zerstören. Meine heile Welt wurde immer kleiner.

Irgendwann während der vergangenen Monate ist meine dicke, durchsichtige Glasglocke zersprungen. Meine heile Welt der Toleranz, des Respekts und der Akzeptanz ist auseinander gefallen. Nur ein winziges Körnchen ist mir übrig geblieben – ich bewahre es dort auf, wo es mir niemand wegnehmen kann.




Dienstag, Oktober 11, 2011

Ägyptens schwarze Nacht

Zwei Tage nach den furchtbaren Ereignissen in Kairo habe ich versucht, mir ein Bild davon zu machen. Es fällt mir schwer, Worte dafür zu finden und trotzdem möchte ich meine Leser informieren. Was Sonntagnacht geschah ist gleichzustellen mit den Angriffen auf Kopten in der Neujahrsnacht in Alexandria (siehe Ziel: Ägyptische Gotteshäuser) und den Massakern zu Beginn des Aufstands im Februar (siehe Blankes Entsetzen).

Es scheint, dass die westlichen Medien die Ereignisse als religiösen Konflikt zwischen Christen und Muslimen darstellen. Das ist oberflächlich. Das ägyptische Staatsfernsehen berichtete, dass Kopten das Militär angegriffen hätten und rief zum Bürgerkrieg auf!!!! TV Angestellte haben sich inzwischen von ihrem Arbeitgeber und ihren Aussagen distanziert. Zu spät, der Schaden ist angerichtet.

Ich habe zahlreiche Videos, Blogs und Berichte von Augenzeugen gelesen. Alle erzählen dasselbe: es gab Angriffe auf die Protestierenden von Männern in Zivil und das Militär hat mit aller Brutalität dreingeschlagen. Armeefahrzeuge sind in die Menschenmengen hineingefahren und haben sie zermalmt. Ein Video zeigt, wie ein einzelner Mann von mehreren Dutzend Soldaten zusammen geschlagen wird. Die Soldaten schleppen den leblosen Körper über die Strasse, bis ein weiterer zivil gekleideter Mann kommt, ihn aufnimmt und wegtragen will. Dabei schlagen die Soldaten mit Stöcken auch auf ihn ein. Auf einem anderen Video ist zu sehen, wie die Demonstranten sich sammeln und friedlich los ziehen. Nach wenigen Metern werden sie von einem Kordon bewaffneter Zivilisten empfangen und attackiert. Augenzeugen berichten, wie Gruppen von Soldaten angeführt werden und rufen „Wo seid Ihr Christen, hier ist Islam!“ Einige Tote sollen von Soldaten einfach in den Nil geworfen worden sein.

Der Oberste Armeerat hat eine Untersuchung angeordnet. Schön. Ein paar Schuldige werden sicher gefunden – meist Staatsdiener niederen Ranges, ein paar Kriminelle vielleicht auch noch – und der Rest vertuscht, verheimlicht.

Und wer steht dahinter? Die Geschichte wird es zeigen, doch bis dahin wird Ägypten noch vieles durchmachen müssen. Es ist für mich unglaublich, wie unfähig und hilflos dieses Land momentan reagiert wird und immer wieder frage ich mich (und nicht nur!), ob dies nicht doch alles willentlich geschieht.

Der von den Medien so hübsch „Arabischer Frühling“ genannte Aufstand hat sich zu einem finsteren Herbst gewandelt.

PS: Ich füge hier weder Videos noch Links ein, sie sind zahlreich in den online Medien zu finden. Wer mehr wissen will, kann mich kontaktieren.


Montag, Oktober 10, 2011

Wieder Kopten

Den ganzen Tag hatte ich keine Gelegenheit, Nachrichten zu lesen. Erst kurz vor Mitternacht sagte mir ein Freund, ob ich überhaupt wisse, was im Land vor sich gehe. Nein… ?

Al Masry Al-Youm hat einen Live-Ticker eingerichtet: gemäss Augenzeugen sind es wieder Verbrecher, die die Protestierenden (diesmal Kopten, die gegen die allgegenwärtige Unterdrückung und Benachteiligung sowie für den Wiederaufbau der kürzlich in Assuan zerstörten Kirche demonstrierten). Nach Mitternacht begannen sie auch damit, ein koptisches Krankenhaus in Kairo anzugreifen und Geschäfte von Kopten zu plündern und zu zerstören. Gemäss Augenzeugen wurde das Militär angegriffen, während sie versuchten, die Demonstranten zu beschützen. Das aus Kairo. Aber Ähnliches geschieht in Alexandria und weiteren Gouvernements.

Immerhin ist den Politikern klar: da ist jemand dahinter, der Chaos verbreiten will. Es erinnert nicht nur mich an die „Kamelschlacht“ vom Februar: Es ist ein Massaker. Ägypten soll auseinander brechen.

Und wieder, immer wieder und nochmals: wie ist das möglich? Warum ist weder die Polizei noch das Militär fähig, so eine Schlachterei zu verhindern? Oder sind sie nicht willens? Wer ist hinter den Angriffen? Die Kopten selbst? Die Überbleibsel des alten Regimes? Die Muslimbrüder? Die Islamisten? Weshalb erfährt der Geheimdienst von den geplanten Anschlägen nichts?

24 Tote und über 200 Verletzte (01.35h); ab 02.00h gilt eine Ausgangssperre. Bald sind Wahlen… auf was muss man sich da noch alles gefasst machen?

Donnerstag, Oktober 06, 2011

Warten

Warum hat es ausgerechnet heute so viel Verkehr? Um 10 Uhr morgens? Die Taxis und die Minibusse, die Lastwagen und die Privatwagen, alle durcheinander, elend langsam. Innerlich schreie ich den Taxifahrer an: schneller, schneller!

Ich hetze aus dem Taxi, überquere die verstopfte Strasse und merke erst jetzt, dass etwas nicht stimmt: Da stehen Busse quer in der Strasse. Wieso denn das?

Zwei Minibusse haben die Strasse blockiert, ein ohrenbetäubendes Hupkonzert und schreiende Männer überall. Ich suche in dem Chaos meinen Taxifahrer und drück ihm einen Geldschein in die Hand – es lohnt sich nicht zu warten, das wird länger dauern.

Eine Gruppe Männer steht im Schatten des ägyptischen Kaufhauses und diskutiert hitzköpfig und laut. Allmählich realisiere ich, was da los ist: die Minibusfahrer tun ihren Unmut kund. Ausgerechnet jetzt, wo ich… Sie beschweren sich über den miesen Lohn und ihren elenden Lebensstandard und anderes. Ein junger Mann versucht, den Verkehr an den querstehenden Minibussen vorbei zu schleusen, die Autofahrer sind verärgert. Die Minibusfahrer auch. Ein paar Polizisten hören sich die Klagen an. Die Menschentraube wächst zu einem grossen Knäuel an, verschiebt sich der Strasse entlang mal nach rechts, mal nach links, immer im Schatten des altmodischen, verstaubten Kaufhauses.

Samstag, Oktober 01, 2011

Mobiltelefonnummern ändern


Eigentlich wollte ich über dieses Thema nicht schreiben – zu uninteressant, fand ich. Aber in Ägypten wird alles so unendlich kompliziert gemacht, dass das einfachste Thema plötzlich erwähnenswert wird.

Hier gibt es 74 Millionen (gem. NTRA National TelecommunicationRegulatory Authority) Handy-Benützer. Die NTRA  hat nun beschlossen, den bestehenden Nummernplan zu ersetzen, weil die verfügbaren Nummern nicht mehr ausreichen.

Das ist einleuchtend. Das vorgestellte System kommt mir jedoch ziemlich kompliziert vor, die Kommunikation dazu verwirrend. Es gibt in Ägypten drei Anbieter für Mobilfunk: Vodafone, Etisalat und Mobinil. Sämtliche Vorwahl-Nummern erhalten eine zusätzliche Ziffer und ändern wie folgt:
 

Vodafone:
  • 010 wird zu 0100
  • 016 wird zu 0106
  • 019 wird zu 0109
  • 0151 wird zu 0101

Etisalat:
  • 011 wird zu 0111
  • 014 wird zu 0114
  • 0152 wird zu 0112
  • 0155 wird zu 0115

Mobinil:
  • 012 wird zu 0122
  • 017 wird zu 0127
  • 018 wird zu 0128
  • 0150 wird zu 0120

Die Nationale Regulierungsbehörde NTRA hat am 27.9.2011 eine Pressemitteilung veröffentlicht, wonach die Nummern ab 29.9.2011 (!) ändern würden. Eine Übergangsfrist von vier Monaten mit parallel gültigen Nummern ist vorgesehen. Zwei Tage später konnte man in der Presse lesen, dass der Beginn der Änderung auf 6.10.2011 verschoben wird. Die Kommunikationsbehörde hat ein Kommunikationsproblem…

Komischerweise finden es die Anbieter Vodafone, Etisalat und Mobinil nicht nötig, ihre Kunden per sms zu orientieren. Während Vodafone und Etisalat auf ihren Homepages auf die Änderung aufmerksam machen, hat das Mobinil bis heute nicht geschafft. Kommunikationsanbieter mit einem kleinen Kommunikationsproblem….

Liebe Leser, wenn Ihr Freunde und Bekannte in Ägypten habt, dann fangt nächste Woche an, die Nummern anzupassen, sonst erreicht Ihr Eure Lieben irgendwann nicht mehr!

Donnerstag, September 22, 2011

Wie im Film

Gestern Abend fuhr ich nach Dahar zum Früchte- und Gemüsemarkt. Die Fahrt dauerte eine Ewigkeit und ein bisschen mehr:

Während wunderschöne, romantische arabische Popmusik nicht zu laut aus dem Lautsprecher ertönt, fährt der Buschauffeur zielstrebig durch Hurghadas nächtliche Strassen. Hellerleuchtete Läden, knapp bekleidete Touristinnen mit ihren ebenso viel Haut zeigenden Partnern flanieren vor den Geschäften und Cafés, geniessen die laue Luft, lassen sich von der orientalisch-geschäftigen Atmosphäre oder von den entwaffnend lächelnden Verkäufern und ihren Sprachkenntnissen verwirren und bezirzen.

Der Bus eilt weiter, hält da und dort an, weil ein Fahrgast „ala gamb“ ruft, weil ein anderer am Strassenrand den Arm ausstreckt und damit anzeigt, dass er zusteigen möchte. Die hellerleuchteten Ladenzeilen huschen wie am Fliessband vorbei, verschmelzen zu glitzernden Lichtbildern. Wenige hundert Meter weiter, andere Bilder unter kalten Neonlichtern: alte und junge, dicke und dünne, einfache Männer in traditionellen Kaftanen und weissen Käppchen sitzen an wackligen Holztischchen und schlürfen Tee, spielen Backgammon oder tauschen Neuigkeiten aus. Kinder hüpfen barfuss über die schmutzigen Trottoirs, spielen, schreien, streiten.  Kunstvoll aufgetürmte Mangos, Trauben, Granatäpfel, Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln warten in kleinen, rot dekorierten und hell erleuchteten Verkaufsständen auf Käufer.

Drei grosse, schwere Männer in traditioneller Kleidung steigen zu. Sie schaffen es kaum, sich zwischen die Sitze zu zwängen, stupsen jeden Fahrgast laut schwatzend an. Der dickste erzählt lauthals alle möglichen Geschichten, von denen ich einzelne Wörter erhasche…. bis ein junger, auch traditionell gekleideter Fahrgast laut dazwischen ruft: du bist ein Lügner! Alle grinsen im Bus, ich kann mein Lachen schier nicht mehr unterdrücken, während der eine ständig weiterruft: du bist ein Lügner! Du bist ein Lügner! Irgendwo steigen der grosse Dicke und seine Kollegen aus, wobei er noch seinen Kopf an der Wagendecke anschlägt und ständig weiterplappert, weiterschwatzend vom Bus weggeht…

Der Film läuft weiter: vor dem Fenster sitzen alte, ausgemergelte Männer im Schneidersitz im Hof einer Moschee, rauchen Schischa und blicken ernst auf die Strasse, hinein in den Bus, hinaus ins Nirgendwo. Sie sitzen immer da, tagsüber, nachts, morgens, abends… sie warten auf Arbeit oder auf etwas anderes, das nie kommen wird.

Weitere Geschäfte, Möbel, Autos, Werkzeuge, Feuerlöscher, hell erleuchtet, Hupen und die immer noch romantische arabische Musik verschmelzen ineinander, zu einem Traum, einem Film.

Ich würd‘ es vermissen. Wenn ich einmal von hier weggehe, werde ich es vermissen…

Eine Bar bleibt draussen vor dem Bus stehen, sie kommt mir bekannt vor… Nein, umgekehrt: der Bus bleibt vor der Bar stehen: Endstation.

Dienstag, September 20, 2011

Traurige Zeiten

Meine Freunde zuhause fragen mich momentan per Email, ob es in Ägypten für Touristen (und für mich) überhaupt noch sicher ist.

Hurghada ist sicher. Es ist wahrscheinlich der sicherste Ort in ganz Ägypten – neben Sharm El-Sheik (und der Polizeiakademie in Kairo, wo die Gerichtsverhandlungen gegen die Repräsentanten des gestürzten Regimes stattfinden). Aber auf den Sinai will sowieso kaum niemand mehr, hat mir eine Freundin gesagt, die dort wohnt. Hurghada ist voller Touristen, die Sheraton Street, die Haupteinkaufsstrasse im Stadtzentrum, die Cafés in El Memscha und in der Marina sind „bumba voll“, wie man das in meinem Dialekt ausdrückt. Im Zentrum und auf den Umfahrungs- und Ausfallstrassen ist die Polizei präsent und aktiv. Wir haben normalerweise Strom, Wasser und Benzin, es gibt kaum Streiks und die Angestellten von HEPCA kehren mehr oder weniger zuverlässig den Müll zusammen und leeren die Mülltonnen. Mein Wohnquartier hat nun auch Wachpersonal: an den drei Zufahrtsstrassen steht neuerdings je ein Schlagbaum und wer hindurch will, muss entweder hier wohnen oder dem Wachmann seinen Fahrausweis übergeben.

Ausserhalb der heilen Welt Hurghadas sieht es anders aus. Streiks beeinträchtigen nach wie vor das Wirtschaftsleben: Lehrer, Postangestellte, Müllmänner, Polizisten, Ärzte, Anwälte, Busfahrer… quer durch die ganze Wirtschaft Ägyptens wird gestreikt, für: mehr Lohn, einen langfristigen Arbeitsvertrag (damit verbunden auch Sozialversicherungen), einen anderen Vorgesetzten, für die Entlassung der Ausländer, aus Rache, einen besseren Arbeitsplatz und vielen anderen Gründen.

Gleichzeitig zieht der Oberste Armeerat die Zensurschraube wieder an. Wer sich gegenüber dem Obersten Armeerat kritisch äussert, demissioniert besser von seinem Posten oder muss damit rechnen, dass er vors Militärgericht zitiert und ohne Recht auf Verteidigung zu ein paar Jahren Gefängnis verurteilt wird. Seit das Notstandsrecht wieder aktiviert wurde, hält man besser den Schnabel, denn die Polizei kann jeden „grundlos“ festnehmen („grundlos“ in Anführungszeichen, denn unter dem Notstandsrecht hat die eine Seite immer einen Grund). Der Oberste Armeerat bemüht sich, Stärke zu zeigen. Das Recht des Stärkeren liegt momentan aber bei jenen, die zu Tausenden aus den Gefängnissen geflohen (bzw. von Polizei und anderen an Chaos interessierten Gruppen befreit worden) sind. Raubüberfälle am helllichten Tag, auf vielbefahrenen Strassen, Einbrüche in Wohnquartiere und Kidnappings sind mittlerweile an der Tagesordnung. Die Gunst der Stunde nützen auch Clans, die miteinander offene Rechnungen auszugleichen haben, sei es aus religiösen Gründen, sei es auch nur um eine unangebrachte Äusserung zu rächen…

Ägypten ist führungslos geworden.

Wer als Ortsunkundiger all die herrlichen antiken Stätten zwischen Alexandria und Abu Simbel besuchen möchte, soll dies momentan mit einer gut organisierten Gruppe tun, am besten unter Begleitschutz. Das ist meine ganz persönliche Empfehlung und ich bin alles andere als ein Angsthase und nicht ausgesprochen vorsichtig. Ortsunkundig und auf eigene Faust – davon würde ich jetzt die Finger lassen. Lieber noch ein, zwei Monate warten oder einfach Sonne und Meer geniessen in Sharm El Sheik, Hurghada und Umgebung. Die nächsten Monate werden zeigen, wohin Ägypten steuert. Noch mehr Chaos kann ich mir fast nicht mehr vorstellen, obwohl es Menschen gibt, die noch schwärzere Szenarien ausmalen. Ich persönlich werde frühestens im Oktober wieder auf Reisen gehen, sofern es die Sicherheitslage erlaubt. Ich hab‘ da noch so ein paar Pläne…