Mittwoch, Dezember 21, 2011

Elf Monate später

Während den vergangenen Wochen und Monaten ist Schreckliches in Ägypten geschehen. Seit dem 25. Januar ist es nur bergab gegangen.

Ich verfolge die Ereignisse aus der Nähe und habe hie und da die Gelegenheit, mit Ägyptern zu diskutieren. Trotzdem fällt es mir schwer, einen Überblick zu bekommen. Mein Kopf ist voller Fragen und Unverständnis, oft konnte ich gar nicht darüber schreiben. Ausserdem ist das hier ja kein Blog für Politik.

Aber ich erzähle hier von meinem Leben in Ägypten und deshalb versuche ich heute, einen Überblick aus meiner ganz persönlichen Sicht zu geben.

Hoffnung
Der Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 war für liberal denkende Menschen ein Freudenereignis und mit viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Elf Monate später ist von der Freude nichts mehr übrig. Es fühlt sich wie ein Kater nach einer ausgelassenen Feier mit Unfällen und Katastrophen an. Man merkt plötzlich, was man anders hätte machen– oder was man besser hätte sein lassen sollen.



Der Aufstand im Januar war führungslos. Es war ein einziges Aufbegehren, ein Aufschrei gegen das ungerechte, korrupte Regime, das einige Wenige blödsinnig reich machte und bevorteilte und die grosse Mehrheit am Existenzminimum siechen liess. Infrastruktur, Bildung, Medizin, Umwelt usw. wurden sträflich vernachlässigt. Allein Zugang zu sauberem Trinkwasser ist für ca. die Hälfte der Menschen hier nicht Alltag, sondern Traum.

Wider besseren Wissens und weil ja keine Führungspersönlichkeit oder –gruppe bestand, übergab das Volk die Macht an den Obersten Armeerat (SCAF). Und damit zurück in die Hände des Regimes! Was für ein krasser Fehler das war, stellen die Aktivisten spätestens seit der Gewaltorgie am 9. Oktober fest.

Fremde Mächte?
Viele Ägypter glauben das, was das SCAF und die Vertreter des alten Regimes seit eh und je bei jedem Aufstand predigen: fremde Mächte stehen dahinter, wollen das Land destabilisieren und entzweien. Ein Komplott gegen die arabische Welt sei das, als Beispiel wird der Fall Tunesiens, der Angriff auf Libyen, die Aufstände in Syrien, Jemen und Bahrein genannt. Die sogenannte „schweigende Mehrheit“ oder „Sofa Partei“ unterstützt nach wie vor das alte Regime und trauert Mubarak nach. Die meisten davon passiv – eben schweigend. Ihnen wäre ein Leben in relativer Sicherheit und beschönigenden Worten und Gesten lieber. Dafür hätten sie Korruption, Zensur, Unterdrückung von Minderheiten, Gewalt und Folter, Armut und so vieles mehr gerne weiterhin schweigend akzeptiert.

Das Muster wiederholt sich
Irgendwann ist es aber klar geworden, dass das SCAF nicht gewillt ist, seine starke Machtstellung in Ägypten abzugeben. Zu verteidigen gilt ein riesiges, korruptes Imperium von Fabriken, Unternehmen, Wohnsiedlungen, Ferienressorts, Strassen, Brücken – ein Staat im Staat - und einen schönen Batzen Geld aus den USA.

Ich wähle nur einige Schreckenstaten auf: die Anschläge auf die Koptische Kirche in der Neujahrsnacht (31.12.2010) in Alexandria, die „Kamelschlacht“ am 2. Februar in Kairo, die beschämenden Übergriffe an Frauen am 8. März (bekannt geworden als „Jungfrauentest“), das Massaker an Kopten am 9. Oktober, die Schlacht Ende November in einer Seitenstrasse des Tahrir Platzes und die nun schon seit sechs Tagen andauernde Schlacht in einer anderen Strasse Kairos. Täter waren zuerst Kriminelle, vom Innenministerium bzw. dem alten Regime angeheuert. Dann war es die Staatssicherheitspolizei, die kurz darauf offiziell umgebaut wurde – in Wirklichkeit wurde nur der Name geändert. Zuletzt war es das Militär selber, das Demonstranten gezielt tötet. Unterstützt immer durch zahlreiche Berufsverbrecher, wobei die eingesetzte Gewalt immer brutaler wurde.

Die Reaktion vom SCAF? Erstens: schweigen. Zweitens: die Angriffe auf unbekannte Mächte aus dem Ausland abschieben und eigenes Verschulden leugnen. Seit neuestem wird auch „Beweismaterial“ dazu geliert: Strassenkinder seien bezahlt worden, Unruhe zu stiften. Drittens: Versprechen, die Gewalt würde eingestellt. Viertens: Versprechen, eine Untersuchung seitens des Militärs würde eingeleitet und die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen. Fünftens: Entschuldigungen. Entschuldigung, dass wir ein paar von Euch abgeknallt haben? Entschuldigung, dass wir ein bisschen gefoltert haben? Gestern entschuldigten sie sich über die Gewaltanwendung an Frauen – aber nicht an Männern… Sechstens: Schuldige werden angeklagt und wegen Mangel an Beweisen (!) freigelassen. Oder: ein Sündenbock wird zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

Zudem sind die meisten Gerichtsverhandlungen, insbesondere über Mubarak, seinen Kumpeln und seinen Söhnen, immer wieder verschoben worden. Das ist eine der Ohrfeigen ans ägyptische Volk.

Sackgasse
Das Muster von Gewalt und Leugnung hat vor fünfzig Jahren vermutlich funktioniert. Dank Internet klappt das heute nicht mehr: Beweise in Form von Bildern, Videos, Augenzeugenberichten von Gefangenen und Folteropfern, von Aktivisten, von Ärzten und Anwohnern werden in Windeseile verbreitet. Auch die Strategie „teile und herrsche“ ist bisher gut aufgegangen: die Ägypter sind sich uneins. Säkulare gegen Religiöse, Liberale gegen Konservative, Gebildete gegen Ungebildete, Ehefrauen gegen Ehemänner. Mit einer Ausnahme: wenn die Gewalt zu gross wird, strömen sie alle wieder zusammen, vereint gegen das SCAF. Mit den Übergriffen gegen Frauen ist das Mass erreicht - es ist genug. Das SCAF und seine Helfershelfer stehen mit dem Rücken zur Wand. Glaube ich. Was bleibt ihnen denn jetzt noch: ein Vorgehen wie in Syrien?

Warum Wahlen?
Da frage ich mich: weshalb denn der ganze Aufwand, um „die ersten freien Wahlen Ägyptens“ abzuhalten? Die Wahlfarce wäre ja gar nicht nötig, denke ich. Denn wer meint, diese Wahlen seien ehrlich und fair, der träumt. Die radikalen Islamisten können nicht plötzlich aus dem Nichts 20-25% der Wählerstimmen gewinnen, auch wenn sie im Geld schwimmen und viele Ägypter ihre Stimme aus religiöser Pflicht den Salafisten gegeben haben. Eine Theorie ist, dass die Salafisten ein Gegengewicht gegen die Muslimbrüder sind – denn die sind offenbar die Einzigen, die dem SCAF gefährlich werden können. Die Salafisten wären eine Macht im Parlament, vor der das SCAF nichts zu fürchten hätte. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die Muslimbrüder mit dem SCAF einen Pakt geschlossen haben. Ich weiss es nicht. Ich sehe nur, dass die jetzigen Wahlen völlig sinnlos sind. Allein die eingereichten Klagen wegen Unregelmässigkeiten, verlorene und weggeworfene (!) Stimmzettel und Wahlurnen müssten genügend, die Wahlen zu annullieren. Die neu erstanden liberalen Parteien haben schon deshalb (nicht nur wegen ihrer Unerfahrenheit und Zersplitterung) keine Chance in diesen Parlamentswahlen.

Wirtschaft
All die Ereignisse haben die Wirtschaft arg beeinträchtigt. Die Devisenreserven sind gesunken; einen Kredit vom IMF lehnt die Führung jedoch ab. Die Tourismuseinnahmen sind um ein Drittel eingebrochen. Die Hotels sind jetzt – es ist Weihnachten! – zu rund 60% ausgelastet. Investoren halten sich zurück. Dabei hätte das SCAF und das Interimskabinett in den vergangenen elf Monaten genügend Zeit gehabt, das Vertrauen in den ägyptischen Markt wieder herzustellen. Mit den Schreckensnachrichten, die um die Welt gehen, ist das aber nicht möglich. Doch vielleicht liegt das gar nicht im Interesse des SCAF? So wird das Volk weiter entzweit. Viele Menschen haben die Nase von der Revolution voll, sie wollen Essen und ein Dach über dem Kopf. Sie wollen Arbeit und Sicherheit.

Jahrestag 25. Januar
Viele haben die Nase voll, aber viele geben nicht auf. Immer mehr Parteien und Gruppierungen - mit Ausnahme der Salafisten und nur leise die Muslimbrüder - stellen sich gegen das SCAF, die Kritik wird immer lauter. Unfähigkeit und zögerliches Handeln wird ihnen vorgeworfen. Sie fordern ein Ende der Gewalt und eine Übergabe an eine Zivilregierung u.a.m…

Und  nun naht der Jahrestag des 25. Januar. Wenn das SCAF nicht ganz klar und glaubwürdig spricht und handelt, wird es am 25. Januar erneut einen Massenaufstand geben. Die Ägypter haben unendlich Geduld und ertragen vieles. Sie wurden belogen und um ihre Revolution betrogen. Ich glaube nicht, dass sie das auf sich sitzen lassen werden.

Momentan sieht es schwarz aus, doch noch ist die Revolution nicht begraben.

Update
Was ich noch hinzufügen wollte: schon seit Monaten erwarte ich einen Putsch innerhalb des Militärs. SCAF ist nicht gleich Militär. Doch immer, wenn ich Ägypter darauf angesprochen habe, sagten sie, das würde nie geschehen. Inzwischen wird diese Variante aber auch in Blogs und Fachkreisen diskutiert.

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