Dienstag, Dezember 06, 2011

Angst

Seit die Wahlergebnisse der ersten Runde bekannt geworden sind, geht die Angst um. Angst, dass Ägypten zu einem radikalislamischen Staat nach dem Muster Irans oder Saudi Arabiens werden könnte. Die Vorstellung, dass sich Muslimbrüder (40% der Stimmen) und Salafisten (rund 20% der Stimmen) zusammen tun könnten, ist mehr als nur haarsträubend.

Ägypter sind religiös, aber sie sprühen vor Lebensfreude und wollen sich von niemandem dreinreden lassen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Ein Musikverbot für Menschen, die überall und bei jeder Gelegenheit anfangen zu singen, zu klatschen und zu tanzen? Zuletzt gesehen am Gemüsemarkt: die Bauern sangen und klatschten an ihren Ständen am helllichten Nachmittag!

Angst haben auch die Kopten vor noch mehr Einschränkungen und Schikanen. Und die Frauen, welche sich ihre Rechte seit den zwanziger Jahren mühsam erkämpfen mussten. Erneut betrogen fühlen sich all jene, die für den Sturz des Regimes gekämpft haben.

Nicht alle teilen jedoch diese Befürchtungen. Denn erst ist ein Drittel der Unterhauswahlen erfolgt. Theoretisch kann sich noch vieles ändern. Möglich, dass die Liberalen es schaffen, beim einfachen Volk mehr Gehör zu finden und deren Stimmen zu erhalten – dafür ist die Zeit jedoch sehr knapp und sie erhalten weder von Katar (Muslimbrüder), noch von Saudi Arabien (Salafisten) Millionen von Dollars an Unterstützung. Möglich, dass die Wahlbetrügerei unterbunden wird – im derzeit herrschenden Chaos unwahrscheinlich. Möglich, dass die Muslimbrüder mit ihrer Stimmenmehrheit eine Koalition mit den Liberalen eingehen und sich damit klar von den radikalen Salafisten distanzieren. Bei den gestern und heute stattfindenden Nachwahlen bekämpfen sie sich jedenfalls erbittert. Das kann sich auch wieder ändern, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Muslimbrüder sich mit den Salafisten einigen können.

Vor lauter Islamophobie geht ein bisschen unter, dass Ägypten ganz andere Probleme hat, als Alkoholverbot, Kopftuchzwang und Bekleidungsvorschriften für Touristen. Das Land braucht dringend Investitionen; das setzt Rechtssicherheit und Stabilität voraus. Es braucht eine Intensivierung der Landwirtschaft (Ägypten ist der grösste Weizenimporteur der Welt!). Die Korruption muss ausgemerzt werden. Das Notstandsgesetz muss abgeschafft werden. Das Bildungssystem muss dringend verbessert werden. Unternehmen müssen privatisiert werden. Die falsch verteilten Subventionen müssen abgeschafft werden. Die Umweltverschmutzung muss bekämpft werden. Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden, denn sämtliche Bereiche des Staates sind während der 30jährigen Diktatur verrottet…

Die Salafisten kriegen das kaum auf die Reihe. Sie haben ihren Stimmenanteil dank Drohung, Beeinflussung und Geschenken erhalten. Langfristig ist das keine Option in der Politik. Es würde voraus setzen, dass die Menschen weiterhin arm und ungebildet blieben.

Besonnene Menschen geben zu bedenken, dass die Muslimbrüder am ehesten fähig sein werden, die gewaltigen Probleme Ägyptens anzugehen. Sie haben eine achtzigjährige Erfahrung und viele von ihnen sind erfolgreiche Geschäftsleute und Unternehmer – auch im Tourismus.

Letzte Woche wurde mein Visum um ein Jahr verlängert und ich freute mich riesig darüber. Besonders, weil während den vergangenen Monaten immer wieder bekannt wurde, dass die Aufenthaltsgenehmigung einzelner Ausländer nicht erneuert wurde. Nach den Wahlergebnissen dachte ich einen Moment auch „wenn die Islamisten ans Ruder kommen, gehe ich; das brauche ich nicht“. Dann könnte ich ja nicht mehr Rennradfahren! Aber so weit ist es noch lange nicht. Mitte Januar wissen wir mehr und vorerst geht das Chaos weiter. Ebenso die Angst, auch wenn die Muslimbrüder sich bemühen, mit ihrer liberalen politischen Einstellung zu überzeugen.

1 Kommentar:

  1. Thank you. A all round great blog. It is so good to exsperience the world through others eye's, it gives perspective. Thank you for sharing. Greetings from Australia.

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