Freitag, November 25, 2011

Jetzt ist Revolution

Seit ich zum ersten Mal nach Ägypten gekommen bin, habe ich mich und die Ägypter gefragt: warum steht Ihr nicht auf? Warum wehrt Ihr Euch nicht? Habt Ihr keine Opposition im Untergrund oder im Ausland, die einen Aufstand organisieren kann?

Die Antwort lautete immer ähnlich: nein – wir haben die Muslimbrüder – Mubarak überwacht alles – wir sind geduldig. Laut über Ex-Präsident Mubarak zu reden, war lebensgefährlich: meine Gesprächspartner liessen den Blick jeweils ängstlich nach rechts und links schweifen und flüsterten nur noch. 30 Jahre Diktatur, 60 Jahr Militärmacht, kombiniert mit Unterdrückung, Einschüchterung und Armut, haben jegliche politische Entwicklung im Keim erstickt.

Wie anders ist es jetzt. Es sieht so aus, als ob die im Januar begonnene Revolution nun endlich durchgezogen wird. Die Forderungen sind klarer geworden, die Aktivisten, Gruppierungen und politischen Parteien haben dazu gelernt und sind reifer geworden. Heute finden in Kairo drei verschiedene Demonstrationen statt: jene gegen den Obersten Armeerat, dann demonstrieren relativ unbeachtet die Muslimbrüder und schlussendlich eine Gruppe, die sich „Schweigende Mehrheit“ nennt und für den Obersten Armeerat einsteht (und auch für Mubarak und das alte Regime).

Wie gross diese „Schweigende Mehrheit“ ist, weiss ich nicht. Einer meiner Bekannten gehört dazu und ich habe unzählige Stunden mit ihm diskutiert, gestritten und Tränen über seine unsäglich verwickelten Argumentationen vergossen. Diese Menschen klammern sich an eine Vergangenheit, die nicht mehr existiert und deren Verfallsdatum schon längst abgelaufen ist. In dieser gab es „Sicherheit“ (die Polizei stand ja an jeder Strassenecke!), jeden Tag sprach ihr „Vater Mubarak“ im Staatsfernsehen zu ihnen und „Mama Suzanne“ sorgte mit karitativen Werken für ihre „Kinder“. Es war klar, wie die Wahlen ausgehen würden: seit 30 Jahren gleich. Armut, Korruption, Diktatur, Folter, Zensur, Unterdrückung, Willkür und weitere Verbrechen an der Menschheit wurden ignoriert. Genauso ignorieren diese Menschen nun die heutige Situation. Kann man es ihnen verargen? Sie sehen die Gewaltübergriffe von Polizei und Armee. Sie wissen, dass Tausende von Verbrechern von Angehörigen des Regimes frei gelassen wurden, um Chaos und Angst zu verbreiten und Demonstranten anzugreifen. Sie lesen die Berichte über die unglaubliche Korruption im Land. Trotzdem wünschen sie sich die alten Zeiten zurück! Stehen sie unter Schock? Ein Abwehrreflex aus Angst vor einer unbekannten, bedrohlichen Zukunft? Ich glaube, für einen in einem liberalen Umfeld aufgewachsenen Menschen ist das unbegreiflich. Ich kenne aber auch viele Ägypter, die das nicht begreifen können.

Gestern hat mich eine weitere Aussage eines Bekannten entsetzt: auf dem Tahrir Platz wären nur Muslimbrüder und Hirnlose, die keine Arbeit hätten und sonst nichts zu tun hätten. Das sind die Worte des Staatsfernsehens. Dabei haben ja genau die Muslimbrüder nun ein riesiges Problem, weil sie eben nicht auf den Tahrir Platz gingen! Mein Arabischlehrer hat uns gestern eine sensationelle (Politik-)Lektion erteilt. Am Schluss meinte er, die Muslimbrüder hätten mit diesem Entscheid viel Wohlwollen verspielt.

Ich möchte betonen, dass solche Ansichten und Äusserungen quer durch alle Bevölkerungsschichten schwirren. Es ist völlig egal, ob jemand gebildet ist oder nicht! Das empfinde ich umso erschreckender!

Niemand hat eine Ahnung wie es weitergeht. Angeblich sollen die Wahlen am Montag beginnen (auch hier in Hurghada). Die Demonstranten haben unter Führung von El Baradei ihre eigene „Rettungsregierung“ aufgestellt und den vom Obersten Armeerat ernannten Premierminister (ein Gefährte Mubaraks) abgelehnt. Der Oberste Armeerat wird kaum noch weitere Eingeständnisse machen. Eine Pattsituation – scheint es. Gewalt ist (hoffentlich) keine Option mehr. Doch wie lange lässt die Lösung oder der Kompromiss auf sich warten? Inzwischen geht das Land nämlich wirtschaftlich noch weiter bachab…


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