Doch, ich bin noch da. Die Lebensmittelvergiftung im Februar
hat mir ziemlich zugesetzt und meine Energie in Nichts aufgelöst. Die
Ereignisse in Ägypten überschlagen sich zudem innert kürzester Zeit, dass ich
fast nicht mehr mitkomme, klare Gedanken zu fassen.
Die neueste Ohrfeige an die Ägypter und ihre Revolution
(dieser Ausdruck passt gar nicht mehr) ist, dass Mubaraks ehemaliger
Vizepräsident und Geheimdienstchef Omar Suleiman ins Präsidentenrennen
eingestiegen ist. Der Mann ist verantwortlich für grausamste Folter und deren
tödliche Folgen, wird aber weder angeklagt, noch disqualifiziert. Warum? Weil
er vom Armeerat getragen wird. Wer weiss, vielleicht sogar von den USA…
Neben dem Ex-Spitzelchef werden beinahe im Stundentakt
Kandidaten aufgestellt und wegen mysteriösen Umständen vom zuständigen Gericht
disqualifiziert. Der Kandidat der Salafisten (den Ultrakonservativen – ein besonders
„religiöser“) ist rausgeflogen, weil seine Mutter angeblich einen
amerikanischen Pass besass (Präsident kann nur werden, der weder Eltern noch
einen Partner mit ausländischer Staatsbürgerschaft hat). Dass der Typ gelogen
hat, wollen seine Anhänger partout nicht wahrhaben, sondern wittern dahinter
ein Komplott der USA. El Baradei, der im Westen Bekannteste, hat selber
aufgegeben. Ayman Nour (ein Liberaler) wurde vor wenigen Tagen aus dem
Gefängnis entlassen und vom Armeerat begnadigt, heute aber ebenfalls
disqualifiziert mit der Begründung, er müsse seine Anklage noch anfechten. Die
Muslimbrüder haben bereits vorgebeugt: nachdem sie während eines Jahres stets
versichert hatten, sie würden keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen, kürten
sie vor wenigen Tagen ihren (ebenfalls vom Armeerat aus dem Gefängnis entlassenen
und begnadeten) Finanzchef. Blankes Entsetzen war die Reaktion quer durch alle
Parteien und Volksschichten und Wut über die Erkenntnis, dass auch die
Muslimbrüder lügen. Gestern doppelten sie nach: für den Fall, dass ihr Kandidat
Khairat El-Shater ebenfalls disqualifiziert werden sollte, stellten sie grad
noch einen zweiten Kandidaten auf. Dabei haben sie vor Monaten einen ihrer
Führungsleute aus ihrer Organisation ausgeschlossen, eben weil er als
Präsident kandidiert. Amr Moussa, dem ehemaligen Chef der Arabischen Liga wird
unterstellt, seine Familie hätte familiäre Bande nach Israel… (sic!)
Doch: da spielt sich ein immenser Machtkampf hinter den
Kulissen ab:
- Salafisten gegen
Muslimbrüder. Erstere sind stinksauer, dass die Muslimbrüder nun auch
einen, nein: zwei Kandidaten aufstellen. Das droht die Stimmen aller
Islamisten zu zersplittern. Wenn zwei sich streiten, freut sich der
Dritte: der Armeerat.
- Muslimbrüder gegen
Muslimbrüder. Die Jungen sind schon vor längerer Zeit aus der Organisation
davon gelaufen, weil sie mit der Hierarchie und dem Vorgehen der alten
Garde nicht einverstanden sind. Jetzt laufen auch noch Führungspersonen
davon, weil sie mit der Präsidentschaftskandidatur und Entscheidungen nicht
einverstanden sind. Wer freut sich diesmal: die Liberalen und das SCAF.
- Muslimbrüder gegen SCAF.
Die Muslimbrüder (und Salafisten) sind nur dank dem SCAF in so grosser
Zahl an die Macht gekommen (sag niemand, es wären ehrliche
Parlamentswahlen gewesen!). Da gab es Vereinbarungen und jetzt scheren die
Muslimbrüder in ihrer blinden Machtgier aus. Sie haben fast 50% der Sitze
im Parlament, wollen die Verfassung festlegen und nun auch noch den
Präsidenten stellen? Wer freut sich: niemand, denn vor einer Konfrontation
MB vs. SCAF und vor einer totalen Machtübernahme der Muslimbrüder haben
alle Angst.
Momentan geht es nur noch um die zwei „Grossen“:
Muslimbrüder und SCAF. 1954 gab es eine ähnliche Situation, die darin gipfelte,
dass die MBs ein Attentat auf den damaligen Präsidenten Gamal Abd El Nasser
verübten, weil sie nicht damit einverstanden waren, dass er ihnen keine wichtigeren Ministerien zugestand. Folge: er
liess viele davon umbringen und einkerkern, Tausende flohen ins Exil. Die
Muslimbrüder konnten und können ihre Gier nicht zügeln. Macht und Geld regiert
auch hier. Die Muslimbrüder sind neben Mubaraks Geschäftsfreunden (dem alten
Regime) und dem SCAF die dritte Wirtschaftsmacht in Ägypten. Was liegt näher,
als endlich die gesamte Macht an sich zu reissen?
Was liegt also für das SCAF näher, als ihren eigenen
Kandidaten ins Spiel zu bringen? Mit Omar Suleiman haben sie es in der Hand,
die Präsidentschaftswahlen so zu fälschen, dass er der Sieger wird. Und dann?
Dann steht Ägypten wieder auf Platz Null, bzw. sogar im
Minus. Denn nicht nur all die Toten, all die Entbehrungen, all die
Erniedrigungen und Hoffnungen der vergangenen 14 Monate waren umsonst, sondern
das Land ist wirtschaftlich nicht am, sondern im Abgrund und die Menschen
verhungern bald. Ägypten hätte es dann geschafft sich durch einen Aufstand von
einer Diktatur zu befreien, um genau dieselbe Diktatur wieder herzustellen.
Auch wenn einer der Islamisten als Präsident an die Macht
käme, müsste ich den vorigen Satz nur wenig abändern: Religionsdiktatur wie im Iran.
Und wo sind denn die Liberalen, die Revolutionäre, die
Aktivisten? Auf die Frage bekam ich zur Antwort: die warten ab, denn in dieser
Liga können sie nicht mehr mithalten.
Im Übrigen ist dieses Theater um die
Präsidentschaftskandidaten lächerlich und müssig. Der nächste Präsident hat
nicht den Hauch einer Chance, die Probleme in diesem Land mit diesem
Parlament (70% Islamisten) und dem SCAF als Strippenzieher anzugehen (was von beiden auch nicht angestrebt wird).
Wichtiger für Ägypten ist die Verfassung, die festgelegt werden muss. Und das ist ein anderes Thema, das ich demnächst auch in Worte fassen möchte.
Wichtiger für Ägypten ist die Verfassung, die festgelegt werden muss. Und das ist ein anderes Thema, das ich demnächst auch in Worte fassen möchte.
Ruhe kehrt noch lange nicht ein, eine immense Spannung liegt
über Ägypten, auch wenn die Frist für die Einreichung der
Präsidentschaftskandidatur morgen abläuft. Ich warte schon lange auf einen
zweiten Aufstand…
Oh Gott, das sind ja düstere Aussichten - dennoch waren sie unter den gegebenen Umständen irgentwie zu erahnen. Sollten sich diese düsteren Prognosen tatsächlich bewahrheiten und Ägypten ein "Gottesstaat" nach dem Muster Irans werden, ist es sicher auch aus mit dem Tourismus, der Haupteinnahmequelle des Landes. Was wird dann aus denen, die von diesem Geschäft leben?
AntwortenLöschenGott steh' Ägypten bei, kann mann da nur sagen!