Sonntag, April 08, 2012

Noch eine Ohrfeige

Doch, ich bin noch da. Die Lebensmittelvergiftung im Februar hat mir ziemlich zugesetzt und meine Energie in Nichts aufgelöst. Die Ereignisse in Ägypten überschlagen sich zudem innert kürzester Zeit, dass ich fast nicht mehr mitkomme, klare Gedanken zu fassen.

Die neueste Ohrfeige an die Ägypter und ihre Revolution (dieser Ausdruck passt gar nicht mehr) ist, dass Mubaraks ehemaliger Vizepräsident und Geheimdienstchef Omar Suleiman ins Präsidentenrennen eingestiegen ist. Der Mann ist verantwortlich für grausamste Folter und deren tödliche Folgen, wird aber weder angeklagt, noch disqualifiziert. Warum? Weil er vom Armeerat getragen wird. Wer weiss, vielleicht sogar von den USA…

Neben dem Ex-Spitzelchef werden beinahe im Stundentakt Kandidaten aufgestellt und wegen  mysteriösen Umständen vom zuständigen Gericht disqualifiziert. Der Kandidat der Salafisten (den Ultrakonservativen – ein besonders „religiöser“) ist rausgeflogen, weil seine Mutter angeblich einen amerikanischen Pass besass (Präsident kann nur werden, der weder Eltern noch einen Partner mit ausländischer Staatsbürgerschaft hat). Dass der Typ gelogen hat, wollen seine Anhänger partout nicht wahrhaben, sondern wittern dahinter ein Komplott der USA. El Baradei, der im Westen Bekannteste, hat selber aufgegeben. Ayman Nour (ein Liberaler) wurde vor wenigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen und vom Armeerat begnadigt, heute aber ebenfalls disqualifiziert mit der Begründung, er müsse seine Anklage noch anfechten. Die Muslimbrüder haben bereits vorgebeugt: nachdem sie während eines Jahres stets versichert hatten, sie würden keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen, kürten sie vor wenigen Tagen ihren (ebenfalls vom Armeerat aus dem Gefängnis entlassenen und begnadeten) Finanzchef. Blankes Entsetzen war die Reaktion quer durch alle Parteien und Volksschichten und Wut über die Erkenntnis, dass auch die Muslimbrüder lügen. Gestern doppelten sie nach: für den Fall, dass ihr Kandidat Khairat El-Shater ebenfalls disqualifiziert werden sollte, stellten sie grad noch einen zweiten Kandidaten auf. Dabei haben sie vor Monaten einen ihrer Führungsleute aus ihrer Organisation ausgeschlossen, eben weil er als Präsident kandidiert. Amr Moussa, dem ehemaligen Chef der Arabischen Liga wird unterstellt, seine Familie hätte familiäre Bande nach Israel… (sic!)

Alles klar? Nein?



Doch: da spielt sich ein immenser Machtkampf hinter den Kulissen ab:

  1. Salafisten gegen Muslimbrüder. Erstere sind stinksauer, dass die Muslimbrüder nun auch einen, nein: zwei Kandidaten aufstellen. Das droht die Stimmen aller Islamisten zu zersplittern. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte: der Armeerat.
  2. Muslimbrüder gegen Muslimbrüder. Die Jungen sind schon vor längerer Zeit aus der Organisation davon gelaufen, weil sie mit der Hierarchie und dem Vorgehen der alten Garde nicht einverstanden sind. Jetzt laufen auch noch Führungspersonen davon, weil sie mit der Präsidentschaftskandidatur und Entscheidungen nicht einverstanden sind. Wer freut sich diesmal: die Liberalen und das SCAF.
  3. Muslimbrüder gegen SCAF. Die Muslimbrüder (und Salafisten) sind nur dank dem SCAF in so grosser Zahl an die Macht gekommen (sag niemand, es wären ehrliche Parlamentswahlen gewesen!). Da gab es Vereinbarungen und jetzt scheren die Muslimbrüder in ihrer blinden Machtgier aus. Sie haben fast 50% der Sitze im Parlament, wollen die Verfassung festlegen und nun auch noch den Präsidenten stellen? Wer freut sich: niemand, denn vor einer Konfrontation MB vs. SCAF und vor einer totalen Machtübernahme der Muslimbrüder haben alle Angst.

Momentan geht es nur noch um die zwei „Grossen“: Muslimbrüder und SCAF. 1954 gab es eine ähnliche Situation, die darin gipfelte, dass die MBs ein Attentat auf den damaligen Präsidenten Gamal Abd El Nasser verübten, weil sie nicht damit einverstanden waren, dass er ihnen keine  wichtigeren Ministerien zugestand. Folge: er liess viele davon umbringen und einkerkern, Tausende flohen ins Exil. Die Muslimbrüder konnten und können ihre Gier nicht zügeln. Macht und Geld regiert auch hier. Die Muslimbrüder sind neben Mubaraks Geschäftsfreunden (dem alten Regime) und dem SCAF die dritte Wirtschaftsmacht in Ägypten. Was liegt näher, als endlich die gesamte Macht an sich zu reissen?

Was liegt also für das SCAF näher, als ihren eigenen Kandidaten ins Spiel zu bringen? Mit Omar Suleiman haben sie es in der Hand, die Präsidentschaftswahlen so zu fälschen, dass er der Sieger wird. Und dann?

Dann steht Ägypten wieder auf Platz Null, bzw. sogar im Minus. Denn nicht nur all die Toten, all die Entbehrungen, all die Erniedrigungen und Hoffnungen der vergangenen 14 Monate waren umsonst, sondern das Land ist wirtschaftlich nicht am, sondern im Abgrund und die Menschen verhungern bald. Ägypten hätte es dann geschafft sich durch einen Aufstand von einer Diktatur zu befreien, um genau dieselbe Diktatur wieder herzustellen.

Auch wenn einer der Islamisten als Präsident an die Macht käme, müsste ich den vorigen Satz nur wenig abändern: Religionsdiktatur wie im Iran.

Und wo sind denn die Liberalen, die Revolutionäre, die Aktivisten? Auf die Frage bekam ich zur Antwort: die warten ab, denn in dieser Liga können sie nicht mehr mithalten.

Im Übrigen ist dieses Theater um die Präsidentschaftskandidaten lächerlich und müssig. Der nächste Präsident hat nicht den Hauch einer Chance, die Probleme in diesem Land mit diesem Parlament (70% Islamisten) und dem SCAF als Strippenzieher anzugehen (was von beiden auch nicht angestrebt wird).
Wichtiger für Ägypten ist die Verfassung, die festgelegt werden muss. Und das ist ein anderes Thema, das ich demnächst auch in Worte fassen möchte.

Ruhe kehrt noch lange nicht ein, eine immense Spannung liegt über Ägypten, auch wenn die Frist für die Einreichung der Präsidentschaftskandidatur morgen abläuft. Ich warte schon lange auf einen zweiten Aufstand…




1 Kommentar:

  1. Oh Gott, das sind ja düstere Aussichten - dennoch waren sie unter den gegebenen Umständen irgentwie zu erahnen. Sollten sich diese düsteren Prognosen tatsächlich bewahrheiten und Ägypten ein "Gottesstaat" nach dem Muster Irans werden, ist es sicher auch aus mit dem Tourismus, der Haupteinnahmequelle des Landes. Was wird dann aus denen, die von diesem Geschäft leben?
    Gott steh' Ägypten bei, kann mann da nur sagen!

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