Mein Kopf ist noch voll von den wunderschönen Momenten im Roten Meer: Zuerst war ich schwimmen. Das fühlt sich für mich an wie schwereloses Gleiten, vorwärts, rückwärts, ein Arm nach dem andern, Beinschlag, in den Wellen, unter mir der schneeweisse Meeresgrund, über mir der blaue Himmel. Fortbewegung ohne Anstrengung, lautlos, heilend und energetisierend. Danach war ich mit einer Freundin am Riff schnorcheln. Ich fühlte mich in dem riesigen Aquarium von den sanften, aber bestimmenden Wellen getragen und vom Anblick der majestätischen Korallen und bunten Fischschwärmen in eine andere Welt versetzt. Es war schlichtweg hinreissend. Atemberaubend. Eindrücklich.
Während ich nach
Hause fahre, bin ich in Gedanken noch dort, mitten im Meer. Ein bisschen
überlege ich schon, was ich kochen soll. Doch schon biege ich ins ausgetrocknete
Flussbett ab, das unsere Strasse ist, und werde jäh aus meinen Tagträumen
gerissen: Ich erblicke einen am Bordstein kauernden Mann. Am Strassenrand. Seine
Arme hängen hilflos in die Leere, sein Kopf liegt auf den Arm gesenkt, sein
schmaler Körper steckt in einem dieser typischen Kaftane der Bewohner
Oberägyptens. Neben ihm liegt eine kleine Plastiktasche vom Duty Free der Egypt
Airlines. Während ich mich umsehe und in Zeitlupentempo meine Umgebung wahrnehme
– da gehen Leute – da sitzt einer und guckt nur auf sein Smartphone – da vorne
ist meine Wohnanlage – da geht K., einer der Angestellten unserer Wohnanlage - da ist
ein Obstgeschäft – dahinten ist der Supermarkt – da guckt keiner – halte ich
meinen Wagen an, löse den Sicherheitsgurt, schalte den Motor ab, ziehe die
Handbremse an und steige aus.
Wie ferngesteuert frage ich den Mann, „Malak eh?“ (was hast du?). Erst als ich ihn sanft mit der Hand berühre, hebt er den Kopf und sieht mich an.
In dem Moment
merke ich, dass ich überhaupt nicht weiterfragen müsste, denn die Situation ist
so offensichtlich. Keine Arbeit. Keine Bleibe. Kein Geld. Schiere Verzweiflung.
Ausweglosigkeit.
Ich verstehe sein
Arabisch fast nicht (Oberägypter reden einen völlig anderen Dialekt als
Unterägypter), aber doch so viel: Er kommt aus Qena, seit 10 Tagen hier auf
Arbeitssuche. Der Mann mit dem Smartphone taucht plötzlich neben mir auf. Er
arbeitet in einem Luxushotel in der Nähe und dessen Arabisch verstehe ich
wenigstens. Er fragt, ob der andere Papiere habe (vielleicht eine Empfehlung,
ein Arbeitszeugnis, eine Arbeitserlaubnis – keine Ahnung). Nein, nur seinen
Ausweis. So bietet er an, seine Familie anzurufen. Das will er nicht.
Logisch nicht.
Würde er mittellos, erfolglos wieder zu seiner Familie zurückkehren, wäre das
eine riesige Schande für ihn. Sein Hab und Gut steckt in dem Plastiksäckchen.
Mir kommen fast die Tränen und ich überlege fast verzweifelt, wie ich dem Kerl
helfen könnte. Ich schäme mich ob meiner Unfähigkeit zu helfen. Doch ich als
Ausländerin habe keine Beziehungen, um diesem Mann eine Arbeitsstelle zu
verschaffen. Er will als Wachmann arbeiten. Das sind die, die für einen
Hungerlohn 12 Stunden vor einem Tor oder einem Eingang stehen oder sitzen, in
der prallen Sonne bei +40°C und bei eisigem Wind bei +7°C. Ohne Beziehungen
gibt es hier keinen Job, nicht mal so einen.
Ich drücke dem
armen Kerl einen Geldschein in die Hand, mit dem er die nächsten zwei, drei
Tage Wasser, Nahrung und Transportmitel bezahlen kann. Ich wünschte, ich könnte
mehr tun. Der Mann mit dem Smartphone sagt mir, er würde ihm helfen. Ich
wünsche dem armen Kerl viel Glück und fahre die letzten 200 m zum Parkplatz.
Noch während ich parkiere, sehe ich, dass der Mann mit dem Smartphone weggeht.
Nichts hat er getan. Der arme Kerl im Kaftan geht mit hängendem Kopf weg. Nachdem ich mein Auto parkiert habe, laufe ich ihm nochmals nach um zu sehen, wohin er
geht. Er läuft kraftlos, ziellos, hoffnungslos. Seine Körperhaltung zeigt es
mir.
Was soll ich tun?
Was könnte ich tun? Ich kann nicht mehr tun!
Trotzdem bin ich wütend.
Ich bin traurig. Ich bin enttäuscht. Diese Strasse wird von Dutzenden von
Menschen täglich begangen, von Hotelangestellten, die zur nahen Arbeitsstelle
und zurück zu Ihrer Unterkunft gehen. Sie wird auch von Dutzenden von Bewohnern
befahren. Es hat rundum Läden, Bewohner und Gaffer. Aber niemand hat dem Mann
irgendwie geholfen! In was für Zeiten leben wir? Das war ja kein lästiger
Bettler, sondern einer, der verzweifelt ist. Wer die Armut hier kennt, kann
sich ausmalen, was ihn dazu getrieben hat, ohne Beziehungen aufs Geratewohl in
die boomende Touristenhochburg Hurghada zu fahren. Allein hier in dieser
Strasse werden Tausende von Pfund wöchentlich für Hunde- und Katzenfutter
ausgegeben – aber einem armen Kerl wie dem hilft keine Sau! (Entschuldigung für
die direkte Sprache.) Was ist das für eine Gesellschaft???
Rundum sind die
Hotels ausgebucht. Zahlreiche Ausländer leben hier. Wie kann man an einem
Menschen, der am Strassenrand kauert, achtlos vorbei gehen oder fahren?
Es ist für mich
unbegreiflich. Auch jetzt und obwohl ich mit einer Freundin darüber reden
konnte, empfinde ich Empörung und Unverständnis. Wo bleibt die
Menschlichkeit??? Und: Wo bleibt Anstand???
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