Mit dieser
Stadt verbindet mich eine Hass-Liebe. Sie zieht mich an und stösst mich gleichzeitig
ab. Die einstige Perle am Mittelmeer, einstiges Handelszentrum zwischen
Westeuropa und dem fernen Osten, Heimat von Intellektuellen und Herrschern, Schmelztiegel
von Kulturen, zweitwichtigste Stadt des römischen Reiches, ist heute eine vor
sich hin zerfallende, zerbröckelnde ehemalige Schönheit, die sich immer mehr
unter dem Druck von Bevölkerungswachstum, Armut und Korruption krümmt. Noch in
den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts trafen sich hier die Reichen und
Schönen, florierten Theater, Geschäfte und Kaffeehäuser der Griechen, Armenier,
Syrer, Libanesen, Türken, Italiener, Franzosen, Deutschen, Engländer, Ägypter,
Libyer und anderen.
Um die
Vergangenheit dieser Schönheit, Vielfalt und Klasse auszudrücken, müsste man
eine stärkere Vergangenheitsform als das Perfekt oder das Präteritum erfinden.
*****
Keine
andere Stadt Ägyptens verkörpert einstige Pracht und gegenwärtigen Zerfall
besser, als Alexandria.
Sich durch
die Strassen dieser Stadt bewegen, heisst: beinahe in den in den Autoabgasen
ersticken, wegen der nie endenden Huperei taub zu werden und stundenlang in den
Verkehrsstaus auszuharren.
Zu Fuss
gehen heisst, sich durchzuschlängeln durch einen endlosen Strom von Fahrzeugen,
unter tropfenden Klimaanlagen, an Strassenrändern und Gehsteigen liegendem
Abfall, auf Tischen und Gehsteigen ausgebreiteten Billigwaren aus China, vorbei
an ambulanten Verkäufern und Fruchtständen, Bettlern und Obdachlosen und einem
immensen, nicht enden wollenden Strom an Menschen, Menschen, Menschen.
Ich bin
hin- und hergerissen zwischen Faszination, Traurigkeit, Wut auf die Regierung und
Ekel.
*****
Café
Délices, altes Kaffeehaus in bester Lage im Zentrum, Blick auf das ehrwürdige
Hotel Cecil und das Meer. Zwischen einer gepflegten Rabatte, einer wartenden
Pferdekutsche und wartenden Minibussen geht ein Bettler zwei, drei Schritte hin
und her. Er trägt einen beigen Kaftan und ein weisses Käppchen, blabbert zahnlos
stumm vor sich hin. Stundenlang. Hin und wieder drückt ihm ein Passant eine
Münze in die Hand.
Plötzlich
steht ein Bettler vor mir, eine Hand fehlt ihm, die vorderen Zähne auch. Sein
Gesicht ist eine Faltenlandschaft. Es krümmt mir das Herz, mein Portemonnaie geht
auf.
Ein hagerer,
gepflegter, älterer Herr mit Stock steht vor mir. Weist mit dem Kinn auf etwas und
sagt leise: „Please, please, please“. Er bittet um einen Schluck Wasser. Ich
ziehe einen Stuhl herbei, helfe ihm, sich hinzusetzen, reiche ihm ein Glas
Wasser, damit er seine Medizin nehmen kann. „Thank you, thank you, thank you“,
zieht er auf den Stock gestützt von dannen.
Ein sauber
gekleideter und artig gekämmter Junge mit suchendem Blick geht vorbei, fragt
den Zigarre rauchenden Herrn neben mir, ob er ihm die Schuhe putzen dürfe. Der
verneint. Der Junge geht weiter, Verzweiflung blitzt in seinen Augen auf, doch
der Blick sucht weiter: Schuhe, wo sind Schuhe?
Ein Mann in
den Zwanzigern steht neben meinem Tisch, redet Arabisch auf mich ein, leiert
die Sätze wohl zum Hundertsten Mal heute herunter. Ich verstehe kein Wort. Vor
meinen Augen tanzen grüne, hellblaue und rosarote Dinge an Schüren, mit denen
man Telefonakkus aufladen kann.
Ein
gepflegter Herr in mittlerem Alter, gute Statur, leicht angegraut, hält in
seiner linken Hand fünf oder sechs Uhren, streckt die Hand hoch: wer will eine
Uhr kaufen?
Ich kann
nicht mehr, es zerbricht mir fast das Herz. Ich zahle und geh.
*****
Wenn ich
Gouverneur dieser Stadt wäre, wenn ich Präsident dieses Landes wäre – ich würde
mich aus Schande erhängen.
*****
Es ist
Sonntag. Meine Beine tragen mich durch Manscheya, einen alten Stadtteil. Alle
Geschäfte sind zu – offenbar wohnen hier Christen. Es ist leer, kein Verkehr,
nur Abfall liegt da und dort herum. Ich schaue mir die einstigen Paläste an:
hohe Räume, grosse Fenster mit Fensterläden, Holzbalkone, Stuckaturen. Die
Farbe der Fassade bleibt unter der Abgasschicht ein Geheimnis. In kunstvoller
Schrift gemalte Ladenschriften in Arabisch und meist noch Französisch. Vergangener
Charme hängt in den Gassen. Ich entdecke eine Ladentüre mit buntem venezianischem
Glas, es ist eine Polsterei. Kunstvoll ist der Name des Gründers in das Glas
eingearbeitet. Seit 1920. Eines der Prachtstücke, von denen es da und dort noch
welche zu sehen gibt, sofern sich der Besucher die Mühe gibt, sie zu finden.
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„Überquer
den Platz da vorne, geh gerade aus, dort beginnt der Markt.“ Ich schlängle mich
durch Verkaufsstände mit Spielwaren, Unterwäsche, Schuhen, ducke mich unter Lampen
und Kinderkleidern. Je mehr Waren ausgestellt werden, je mehr Leute versuchen
mit Handel ihr Auskommen zu finden, umso desolater ist die wirtschaftliche
Lage. Je billiger die Ware, umso ärmer. Wer soll all das Zeug kaufen? Der Markt
in Al Attarin zieht sich dahin – ich gelange zu den Lebensmitteln: getrockneter
Fisch, Torschy (in Salzwasser eingelegtes Gemüse und Früchte), Oliven, buntes Obst,
Gemüse, Rinderbeine, Brot, verlockendes Gebäck. Alles wunderschön ausgebreitet,
dekoriert, mit ganzen (!) Sonnenschirmen vor der Sonne geschützt, mit
durchsichtigen Folien vor Fliegen und Händen abgedeckt. Zivilisiert und höflich
geht es zu und her: niemand rempelt mich an, niemand pöbelt mich an oder nötigt
mich, näher zu treten oder etwas zu kaufen. Selbst wenn ich Fotos mache, lässt
man mich kommentarlos gewähren. Ich „darf“ Arabisch reden, werde nicht mit
Englischen Wortbrocken beworfen, nur weil ich hellhäutig bin. Oft werde ich für
eine Ägypterin gehalten. Es ist sauber – kein Vergleich mit „meinem“ Markt in
Dahar/Hurghada. Erleichterung – auch das ist Alexandria.
*****
Ich zieh
weiter, suche meinen Weg durch den Strom der Fussgänger, vorbei an Auslagen auf
den Trottoirs. Junge Männer verkaufen ab kleinen Karren Kaktusfrüchte. Einen
fotografiere ich, er sieht es. Ich gehe zu ihm hin, erkläre ihm, warum und
weshalb. Er schämt sich, will nicht erkenntlich sein. Ich versichere ihm, dass
er den Kopf in die Hände stützt und zeige ihm das Bild. Er stimmt zu. Sein
Blick ist müde, traurig, erschöpft.
Studienabgänger, Mitte zwanzig,
durchschnittliche Arbeitslosigkeit gemäss offiziellen Schätzungen: 50%.
Ich glaube,
allein in Alexandria liegt die Arbeitslosigkeit quer durch alle
Bevölkerungsschichten bei mindestens einem Drittel. Mir ist elend.
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Ich war
schon oft in Alexandria, bin per Zug, per Flugzeug, per Bus und nun per Auto
hergekommen. Ich war länger hier oder nur für drei Tage. Ich habe in einem
Nobelquartier oder in schmuddeligen Hotels gewohnt und die berühmte Bibliothek besucht. Ich ging zum
Arabisch-Unterricht. Ich war am Strand. Ich war in den Einkaufszentren. Ich
ging auf den Markt. Ich bin durch die Stadt spaziert, habe mich verirrt,
durchgefragt und neu orientiert. Ich sass stundenlang im Stau, fuhr mit Taxi
und Minibussen. Und jedes Mal fand ich die Stadt in einem noch erbärmlicheren
Zustand, noch mehr Menschen aus der Mittelschicht nahe am finanziellen und
sozialen Abgrund.
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Alexandria
steht auf löchrigem Untergrund. Die Stadt wimmelt von römischen und
griechischen Grabstätten, unterirdischen Gängen, Zisternen und wer weiss noch
was (Zitat National Geographic Traveller). Bei früheren Besuchen habe ich die
Pompeiussäule und das römische Theater besucht. Diesmal habe ich es dank einem
Freund zu den Gräbern Kom El-Shoukafa geschafft. Die Grabkammern liegen in einem
ärmeren, südlichen Stadtteil und wurden entdeckt, weil ein Esel in einem Erdloch
verschwand.
Über eine
Rundtreppe gelangt man in die Tiefen der Hauptgräber. Rund um die Treppe sind
mehrere Grabkammern angelegt, wie bei den Pharaonen. Der unterste Teil ist
nicht zugänglich, er liegt im Wasser. Andere Gräber liegen nur wenige Meter
unter der Oberfläche des Hügels. Auf dem Gelände liegen wahllos
römisch-griechische Säulenfragmente, Steinbrunnen, Figuren, Kapitele. Erbärmlich,
wie mit Kultur und Geschichte umgegangen wird, und trotzdem faszinierend… Ausserdem
ist es hier ruhig.
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Es sind
aber nicht nur diese über zweitausend Jahre alten Zeugen der Vergangenheit,
sondern auch die Villen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die Gier
und Vernachlässigung zum Opfer fallen. Trotz Denkmalschutz. Korruption. Deshalb
ist auch die Skyline Alexandrias mit Wolkenkratzern verunstaltet, deshalb
brechen Wohnblöcke in sich zusammen.
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Einer der
Zeugen aus jener Zeit ist das ehrwürdige Hotel Cecil Steigenberger. Es wurde in
den zwanziger Jahren von einer jüdischen Familie im Kolonial-Stil erbaut.
Schriftsteller, Politiker und Schauspieler beehrten das Haus. Während die
Gebäude rundum verfallen, strahlt dieses Hotel noch immer seinen einstigen
Charme aus. Besonders begeistert haben mich der Käfig-Lift mit schmiedeeiserner
Falttüre, der Jugendstil-Saal und der Blick über den Ost-Hafen.
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Einige
Nächte verbrachte ich aus praktischen Gründen in einem Kloster. Die
Anlage ist eine Insel der Ruhe: der Verkehrslärm dringt nur gedämpft über die
Gärten heran. Erstaunt hat mich, dass Besucher und Mönche sich auf Französisch
begrüssen und dann auf Arabisch weiterreden – oder sich in Italienisch
unterhalten. Die Kathedrale St. Catherine beherbergt den Leichnam von König
Vittorio Emanuele III von Italien. Der König fand nach seiner Abdankung hier
Exil.
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Allein, was
diese Stadt an Kultur und Geschichte zu bieten hat, würde einen Besucher
wochenlang beschäftigen. Doch wer kommt noch nach Alexandria? Im Sommer
überschwemmen Ägypter aus der Unterschicht die Stadt auf ihrer Flucht vor der
Hitze und auf der Suche nach günstigen Ferien in engen Wohnungen. Sie bevölkern
die Uferpromenade, Grünflächen und Plätze mangels erschwinglichen
Vergnügungsmöglichkeiten. Die Reichen zieht es westwärts an die Nordküste, wo
Top-Ressorts aus dem Boden gestampft werden. Ein paar wenige europäische und
asiatische Touristen verirren sich her, um Arabisch zu lernen oder die
Bibliothek zu besuchen.
Die Hotels
sind entweder verlottert und verkommen oder gut und unerschwinglich.
Anständige, bezahlbare Mittelklasse gibt es nicht.
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Einmal mehr
schliesse ich meinen Blog mit: schade. Schade für dieses wunderschöne, vielfältige,
kulturell und geschichtlich reiche Land.
Einige Bilder von mir:
Bald bricht es auseinander - aber die Bewohner haben Blick auf Kom El-Shoqafa und das Meer |
in Manscheya |
in Manscheya |
Oper in der Fouad Strasse |
Kathedrale St. Catherine |
Schleiferei - der grauhaarige Mann im Hintergrund ist der Besitzer |
Kerne |
Datteln und Nüsse |
Haxen |
Zwiebeln - mit so viel Liebe aufgestapelt! |
Torschy |
Hmmmmm |
geräucherter Fisch |
Links für Interessierte:
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