Montag, August 15, 2016

Wadi El Natrun



Wer den Namen in eine Suchmaschine eintippt erhält als Ergebnis: Gefängnis in Wadi El Natrun. Es ist eines jener berüchtigten Festungen, in welchem unliebsame Politiker, Regime-Gegner und Aktivisten ein menschenunwürdiges Dasein fristen. Aus jenen Mauern sind während des Aufstandes im Januar 2011 die Muslim Brüder entwichen – angeblich mithilfe der palästinensischen Hamas und der Hezbollah. Andere Vermutungen beschuldigen das Innenministeriums selbst – um Mubaraks Prophezeiung „Nach mir das Chaos“ zu verwirklichen? Doch das Gefängnis liegt nördlich von Kairo und hat nichts mit dem Tal zu tun, das ich besuchen möchte.

Wadi El Natron ist eine riesige Senke mit mehreren Salzseen westlich der Wüstenautobahn Kairo - Alexandria und liegt 23 m unter Meereshöhe. Das Salz (Natron) wurde schon in der Antike für die Mumifizierung und zur Herstellung von Glas verwendet. Heute ist es Landwirtschaftsgebiet und noch immer Rückzugsgebiet für Mönche.


Übrigens soll hier irgendwo das Flugzeug liegen, mit dem Antoine Saint Exupéry abgestürzt ist; aus seiner Feder stammt „Der kleine Prinz.“


Im 3. Jahrhundert n.Chr. und auch auf Flucht vor den Römern, später vor der Eroberung durch Muslime, haben sich Mönche hierher zurückgezogen, um in der Stille und Kargheit der Wüste als Einsiedler zu leben und zu beten. Die ersten lebten in Höhlen. Bedrängt von Berbern und Plünderern, sahen sie sich gezwungen, sich zusammen zu schliessen – so sind Klöster entstanden.

Anscheinend gab es zur Blütezeit 60 Klöster (Quelle: National Geographic Traveller). Heute sind noch vier bewohnt; von den anderen bleiben da und dort noch Ruinen.
Das wichtigste Kloster ist der Hauptsitz des Koptisch-Orthodoxen Bischofs von Ägypten, das Kloster Anba Bishoi, wo auch sein Sarg liegt. Ich habe dieses und das Kloster der Syrier (al Surian) besucht und war beeindruckt.

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Ich verlasse die Wüstenautobahn beim Dorf Wadi El Natroun – weiter will mein GPS nicht mehr. Schon von der Autobahn aus habe ich im Westen die Senke gesehen: in der flimmernden Hitze unscharf Hügelketten am Horizont, dazwischen grün-beige Landwirtschaftsflächen. Ich bin aufgeregt: würde ich den Weg finden? An einer hohen, mit Stacheldraht garnierten Mauer stehen Polizisten; die frage ich. „Immer gerade aus“, heisst es höflich.

Ich fahr auf der Staubstrasse stetit leicht abfallend gerade aus, vorbei an einfachsten Läden, Werkstätten, Imbissbuden. Die Strasse ist zwar breit, ansonsten aber erbärmlich, und wird von Pick-ups, Eselkarren und wie Fliegen herumschwirrenden Toktoks befahren. Das Tempo ist gemächlich, die Szenerie erinnert mich an Westernfilme: flirrende Hitze, Staub, armselige Buden, in denen Männer seelenruhig ihrer Tätigkeit nachgehen.
Ich fahr weiter hinunter in die Senke, mich wundernd und fragend. Wie weit? Wieso sehe ich nirgends ein Schild zu diesen bekannten und wichtigen Klöstern? Soll ich einen der Männer fragen? Frauen seh‘ ich nämlich keine. Mag ich nicht, das gibt nur wieder einen Menschenauflauf. Im Auto bin ich anonym. Nach einer mir ewig lang vorkommenden Weile komme ich offenbar aus diesem Kaff raus; jedenfalls ist die Strasse plötzlich wieder asphaltiert. An einer Wegkreuzung steht schief ein Schild: „Deir Anba Bishoi“. „Hamdulillah!“ denke ich, so falsch bin ich also doch nicht.

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Ja, das „Hamdulillah“ hat sich nach sieben Jahren hier leben eingenistet. Ich könnte auch „Gott sei Dank“ sagen – aber es entfährt mir stattdessen „Hamdulillah“; die Umwelt prägt auch das Denken, teilweise. Hmm…

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Die Strasse ist perfekt, die Landschaft links und rechts zieht mich in Bann: Sand, Wüste, aber Plantagen, Bewässerungsanlagen. Obstbäume, Weinreben, Olivenbäume… herrlich. Klar, hier müssen ja auch Busse durchfahren, mit denen Gläubige die Klöster abklappern – drum ist die Strasse so gut.

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Aus dem Dunst erheben sich Türme und Kuppeln… Kreuze darauf – das erste Kloster. Mir bleibt fast der Atem stehen… dieser Anblick: in dieser Einöde, geprägt von Hitze und Wüste, in der Menschen seit Jahrtausenden der Natur Essbares abringen, tauchen plötzlich diese sandgelben Bauten auf, majestätisch, stark, den Widrigkeiten von Natur und Mensch trotzend.

Das Kloster Anbar Bishoy ist von einer geschätzt 10 m hohen Mauer geschützt. Pompös präsentiert sich die Einfahrt: zwei Türme mit Bildern aus der Bibel lassen einen schmalen Durchgang frei. Höflichkeitshalber frage ich die Sicherheitsleute, ob ich das Kloster besuchen darf. Ja, ich solle mein Auto dort abstellen und dann durch einen winzigen Eingang hineingehen.

Die Anlage ist riesig, ich sehe eine gepflegte Parkanlage mit Bäumen, Büschen und Blumen. Drinnen dann fühl ich mich zwischen den vielen Kirchen und Menschen fast verloren. Natürlich habe ich vergessen, dass Ferienzeit ist und folglich ganz Ägypten auf Reisen ist.

Ich gehe die Steinstufen hinab zu einer uralten Kirche, welche um den Sarg des Kloster-Gründers gebaut worden ist. Ehrfürchtig und respektvoll trete ich ein, habe mir extra einen Schal über meine Schultern gelegt. Umso entsetzter bin ich davon, wie es an diesem Ort aus dem 7. Jahrhundert zu und hergeht. Die Kopten wandern von Ikone zu Ikone, vom Sarg zu Kreuzen, von Mönch zu Mönch und küssen und berühren jeden Gegenstand innig. Das ist zwar nichts Neues für mich, trotzdem fühl ich mich irritiert. Weder Andacht noch Ehrfurcht, auch kein Staunen über die antiken Kunstwerke. 

Plötzlich sehe ich mich von einer Gruppe Erwachsener und Kinder umgeben. Alle reden auf mich ein, ein Mann in einem olivgrünen Kaftan zeigt auf sein Kind, drückt es mir auf den Arm und möchte ein Foto von mir machen. Sprachlos stimme ich zu. Ich verzieh mich in den nächsten Raum, weg von dem Sarg, in der Hoffnung, dass ich dort auf weniger Besucher stosse. Doch die kommen mit. Um die dreissig Kinder stehen plötzlich rund um mich und wollen mich nicht nur angucken, sondern fotografieren – jeder mit mir allein.
Ich fühl mich nicht besonders wohl, wie im Zoo oder im Museum begafft und fotografiert zu werden, und dazu noch an einer heiligen Stätte! Verdattert versuch ich auf Arabisch rüberzubringen, dass dies doch immerhin eine Kirche sei und Respekt geboten sei; einige Kinder gehen enttäuscht weg und zwei Männer holen die anderen. Trotzdem werde ich auf Schritt und Schritt mit Blicken verfolgt und heimlich abgelichtet. Es ist fast unmöglich für mich, die alten Gemäuer in Stille zu „fühlen“. Und genau das ist meine Art, historische Stätten zu besuchen.

Also geh ich bald wieder. Gegenüber dem Ausgang stehen die üblichen Imbiss- und Andenkenläden. Die Leute drängen sich da durch und kaufen den Krimskrams, bevor sie wieder in die Busse steigen.

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Ich folge der schönen Asphaltstrasse, nicht wissend, wo ich das nächste Kloster finden werde. Ein Schwertransporter verschwindet um eine Kirche – ich folge ihm. Dann schon tauchen die nächsten Kuppeln und Türme über der grünen Landschaft auf. Es ist das Kloster der Heiligen Jungfrau Maria „Al Syrian“.

Ich habe zweifach Glück: weniger Besucher und ein Mönch fragt mich, ob er mir helfen könne. Dieses Angebot nehme ich natürlich gerne an und er führt mich durch die Kirche aus dem 9. Jahrhundert, weist mich auf die in mehreren Schichten übereinanderliegenden Fresken hin, erklärt mir die Bedeutung der verschiedenen Kreuz-Zeichen in der Holztüre und führt mich durch das Gelände, Legenden erzählend. „Legende“ nannte sie ein in Kanada lebender Ägypter, den ich um Übersetzung einer Schrifttafel bat – der Mönch nannte sie „Begebenheit“. Zum Beispiel jene, wonach einem Mönch befohlen wurde, ein Stück Holz täglich zu bewässern, woraus nach drei Jahren ein Olivenbaum wuchs, wobei das Wasser der Legende nach 12 Meilen entfernt geholt werden musste. Für Gläubige ist dies ein Zeichen für Gehorsam.
Einmal pro Jahr kommt ein Fachmann für einen Monat, um weitere Fresken frei zu legen. Einmal pro Jahr für einen Monat! Für mehr reicht das Geld nicht. In Europa würde man da viel mehr Aufhebens machen. Die Fresken im Kloster Val Müstair, Schweiz, stammen aus der gleichen Zeit und das Kloster wurde auf die UNESCO Liste gesetzt. Einfach so zum Vergleich.

Der Mönch macht mich auf eine Holzbrücke aufmerksam. Im Turm, zu der die Brücke führt, hatten sich die Mönche bei Gefahr verschanzt und konnten von dort aus Angreifer abwehren.

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Ich lasse das sympathische Kloster mit den schmalen Gassen und dem vielen Grün hinter mir und fahre weiter. Ich komme an einem weiteren Kloster vorbei. Von weitem sehe ich, dass auf dem Parkplatz unzählige Busse stehen und belasse es damit. Lieber fahre ich noch durch diese unglaublich reizvolle Landschaft. Ich würde gerne südlich zur Wüstenautobahn stossen und fahre und fahre und fahre. Die Strasse wird schmaler, der Verkehr spärlicher. Ich halte an, mache Fotos, horche in die Stille, staune über die Weinreben und Obstplantagen. Die wenigen Autofahrer, die vorbeifahren, müssen mich für verrückt halten. Oder zumindest für seltsam. Sie sind alles andere als daran gewöhnt, eine „Agnabeja“ allein mit dem Auto in dieser Einöde anzutreffen. Ist mir egal, ich geniess es. Die Strasse wird noch schmäler und vor allem schlechter, bis es nur noch Sand und Löcher gibt. Mein GPS zeigt schon lang nur noch eine schwarze Fläche. Ich rechne damit, dass ich alles zurückfahren muss, hoffe aber… bis ich vor einer Schranke anhalten muss. Da gibt es kein Hindurch mehr, obwohl grad ein Lastwagen herausfährt. Die Strasse sei „Diplomazia“ – ich denke, der Mann macht einen Witz, erwartet etwas Bakshish. Später sehe ich auf der Karte, dass eine unendlich lange Strasse durch die Senke so heisst. Theoretisch führt sie zur Wüstenautobahn. Das nützt mir aber nichts, ich muss umkehren und den ganzen Weg retour fahren. Nochmals kutschiere ich durch diese grandiose Tiefebene, holpere durch das seltsame Dorf, das mich an Wild-West-Filme erinnert – bis ich wieder auf die Wüstenautobahn Richtung Kairo gelange.

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Ägypten gilt als Wiege der christlichen Religion. Es wimmelt von Kirchen und Klöstern. Doch genauso wie die römischen und griechischen Reste werden die christlichen Stätten vernachlässigt. Ägypten birgt einen unermesslichen Schatz an geschichtlichen Zeugnissen, atemberaubend fantastische Landschaften, zwei Meeresküsten von mehreren Tausend Kilometern Länge, Oasen, Felsmalereien im Wüstengebirge, das Grosse Sandmeer, die Weisse und die Schwarze Wüste, Öl, Gas, Mineralien… und damit habe ich nicht mal alle Schätze aufgezählt!


Und das Land ist praktisch pleite, die Menschen leben im und vom Dreck. All das geht mir durch den Kopf, während ich auf der Autobahn Richtung Kairo fahre, mich durch den Verkehr schlängle, mich anderntags durch die Slums von Giza zwänge und endlich wieder der Küste des Roten Meeres entlang Richtung Hurghada fahre. Mir ist wind und weh. Ägypten könnte ein Paradies sein, wenn…

Dorf Wadi El Natrun






Zufahrt zum Kloster Anba Bishoy

Kloster Anba Bishoy





Besucher und Mönch im Kloster Anba Bishoy


und schon das nächste Kloster

Koptisch, Arabisch und Lateinisch
die Kirche im "Al Surian"

Fresken

Die Türe mit den sechs verschiedenen Kreuzen

im Torbogen


der "Wehrturm"

Darstellung des Bauernlebens der Mönche




Weinreben und Olivenbäume


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