Manch einer
probiert es, denn es scheint so verlockend: ein Leben anderswo, fern der
Heimat, unter der Sonne des Südens, in der Weite der Pampa, inmitten der Berge,
in einer fremden Kultur, in einem anderen Sprachraum. Oder sonst wo, einfach
weg von daheim.
Und viele
geben wieder auf, denn es ist nicht einfach. Seien wir ehrlich: es ist
saumässig schwierig, insbesondere dann, wenn man noch nicht auf ein dickes
Bankkonto oder eine regelmässige Rente zurückgreifen kann. Doch allein der
Versuch ist es wert: es erweitert den persönlichen Horizont und macht die
eigenen Grenzen erkennbar. Das fängt aber schon beim Entscheid an, ob Mann oder
Frau überhaupt innerlich bereit ist, das angestammte Revier, die Sicherheit, den
gewohnten Alltag, die Freunde und lieb gewordenes zurückzulassen.
Und manche
bleiben und beissen sich durch. Mit Glück, Beziehungen oder Durchhaltewillen. Was
sich dabei abspielt, versuche ich hier mal zu skizzieren.
Unter
der Glasglocke
Jeder
Mensch trägt seine persönlichen Erfahrungen mit sich herum, sie haben ihn zu
dem gemacht, was er ist: Erziehung, Kultur, Bildung und Erlebnisse waren und
sind die Zutaten. Ich komme aus einem Umfeld, wo Begriffe das sind, was sie
auch bedeuten (Rechtsstaat, Demokratie, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Ethik,
Anstand und noch vieles mehr); zumindest habe ich das so wahrgenommen. Mit
dieser Vorstellung bin ich in das Drittweltland Ägypten gekommen, einer
Diktatur, in welcher die Hälfte der Bevölkerung unter oder an der Armutsgrenze
versucht zu überleben, wo Polizei an jeder Ecke steht und allein das Recht des
Stärkeren gilt. Der Stärkere ist jener, der die besseren Beziehungen und mehr
Geld zur Verfügung hat.
Das Klima
hat mich entzückt, das Neue und Exotische haben mich fasziniert. Ich sass unter
der Glasglocke und was ich da durch das Glas beobachtete, war wunderbar: Das
Meer, die Palmen, die Wüste, die Sprache, die Sonnenaufgänge und die liegende
Mondsichel am Nachthimmel.
Diese Phase
dauert eine ganze Weile, je nach dem, mit wem man zu tun hat. Wunderschön ist
es, herrlich, paradiesisch quasi. Inzwischen weiss ich, dass das Paradies
anders aussieht.
Der
Schock
Der kommt
unweigerlich, sofern Mann oder Frau nicht schon vorher verduftet ist.
Stromunterbrüche nerven. Kein fliessendes Wasser auch. Besonders im Hochsommer,
wenn die Temperaturen gegen vierzig Grad Celsius klettern. Es nervt, wenn ein
Arbeiter kommt, um etwas zu reparieren, gleichzeitig aber neuen Schaden
anrichtet. Es nervt, wenn man einkaufen will und dafür mehrere Geschäfte
abklappern muss und trotzdem nicht findet, was man sucht. Es nervt die Huperei,
die Raserei und die blöde Anmache von Verkäufern, Taxifahrern und Aufreissern.
Wenn man
feststellt, dass man niemandem trauen kann und alle versuchen, einen auszunützen
oder übers Ohr zu hauen, gibt es Momente, in denen Tränen fliessen,
Verzweiflung hoch kommt und man keine Antwort auf die Frage findet, weshalb man
sich all das antut.
Irgendwann
steht jeder einmal vor einem Beamten und muss sich anhören, dass Papiere
fehlen, dass der Antrag unvollständig ist, dass man doch morgen oder in einer
Woche wiederkommen möge und dass es auch dann noch keine Garantie gibt.
Viel tiefer
geht jedoch der Blick in die Wirklichkeit eines Drittweltlandes. Himmelschreiende
Ungerechtigkeit macht ohnmächtig. Bittere Armut sticht mitten ins Herz. Fehlende
Hygiene macht krank und lässt sinnlos leiden; sie macht Pharmahersteller,
Apotheken und Ärzte reich und die Armen noch ärmer. Fehlende Bildung bringt
einen zur Verzweiflung. Da, wo der Staat seine Aufgaben nicht oder nur lausig wahrnimmt,
springen Private ein und verdienen sich dumm und dämlich: private
Krankenhäuser, Schulen, Städte und Dienste aller Art. Es gibt zwar viele
Gesetze, um deren Einhaltung kümmert sich die Obrigkeit aber nicht. So herrscht
eben die Freiheit der Anarchie auf der Strasse, im Geschäftsleben, im Grossen
wie im Kleinen.
Das
Paradies sieht anders aus.
Klarkommen
oder Aufgeben
Die Frage
lautet nun: Hingucken oder Weggucken?
Auch wenn
ich weggucke… all das vorher Beschriebene ist trotzdem da, es verschwindet
nicht. Und wenn ich zurück in meine Heimat fliegen würde… es würde in meinem
Bewusstsein fortleben. Es ist zu spät, ich kann nicht mehr zurück unter meine
Glasglocke: die ist nämlich zerschellt.
Wenn ich
ständig hingucke, werde ich frustriert und depressiv. Ich kann helfen – aber
ich kann nicht allen und überall helfen. Unmöglich. Ich kann auch nicht die
täglichen Unzulänglichkeiten hier ändern.
Bleibt nur
die Möglichkeit, lernen damit umzugehen. Das braucht innere Bereitschaft.
Zuhören und lesen, verstehen, Trost spenden und helfen, hier; abgrenzen,
„Stopp“, „ist nicht mein Problem“ oder „morgen ist auch wieder ein Tag“ sagen,
dort. Mit Freunden diskutieren und feststellen, dass da Gleichgesinnte sind.
Das innere
Gleichgewicht finden und behalten ist für mich Sensibelchen eine
überlebenswichtige Aufgabe, die an manchen Tagen recht anspruchsvoll sein kann.
Erkennen, dass es Zeit ist, mir etwas Gutes zu tun… Musik zu hören, ins Meer
hinauszusehen und dem Rauschen der Wellen zu lauschen, in der Wüste marschieren
oder alle aufgestauten Emotionen beim Windsurfen hinauszubrüllen.
Leben in
einem Land wie diesem hier hinterlässt tiefe Spuren und Narben in der
Persönlichkeit. Man wird gezwungenermassen stark – oder wird wie eine Laus
zerquetscht. Dabei gelassen zu bleiben ist die Kunst. In der Heimat mag die
Familie, Freunde, der Sozial- und Rechtsstaat sowie das Vertraute stützen – in der
Fremde kämpft man alleine. Das kann zutiefst erschüttern und auslaugen.
Während den
letzten Monaten bin ich mir bewusst geworden, wie zuverlässig mein
„Bauchgefühl“ immer war. Seit ich damit achtsamer umgehe, bergen Begegnungen
mit anderen kaum mehr verschlüsselte Nachrichten. Das ist einerseits
erschreckend für mich, andererseits ist es sehr beruhigend. Erschreckend, weil
es kaum mehr Überraschungen gibt. Beruhigend eben deshalb.
Ich bin
geduldiger geworden – aus der Erkenntnis heraus, dass ich keine andere Wahl
habe! J Ich
habe gelernt, dass abwarten oft mehr bringt, als meinen Kopf durchsetzen zu
wollen. Eindruck macht mir auch die Erkenntnis, dass es sinnlos ist, mir über
etwas Gedanken zu machen, das morgen geschieht. Vielleicht geschieht.
Vielleicht eben auch nicht. Wenn es so weit ist, kann ich immer noch eine
Lösung dazu finden… oder abwarten.
Dankbarkeit
Ein langer
Entwicklungsprozess liegt hinter mir und ich bin noch mitten drin. Das hört ja
nicht mehr auf, wenn es mal angefangen hat. Das passt mir so.
Daraus ist
auch eine tiefe Dankbarkeit entstanden. Dankbar, dass ich auf der anderen Seite
der Erdkugel geboren wurde. Dadurch habe ich Chancen, die Millionen von
Menschen verwehrt bleiben. Ich bin gesund, kann meinen Verstand brauchen, kann
mich wehren und für mich kämpfen. Ich kann mir Eskapaden wie Windsurfen und
Espresso trinken leisten – während Millionen von Menschen sich abrackern, sich
und ihrem Nachwuchs drei Mahlzeiten am Tag zu beschaffen. Ich bin dankbar, dass
ich weder in religiösen, kulturellen noch traditionellen Einschränkungen gefangen
bin, sondern recht frei denken und handeln kann.
Ich bin
dankbar für die vielen, äusserst unterschiedlichen Begegnungen mit Menschen aus
der ganzen Welt und für die Einblicke in ihre Welt. Ich bin dankbar, dass ich
mich in mehreren Sprachen austauschen kann – während Millionen von Menschen
weder lesen noch schreiben können.
Dankbar bin
ich auch dafür, dass ich jederzeit hingehen kann, wovon mir träumt. Millionen
von Menschen müssen da bleiben, wo sie sind: im Slum, im Elend, in Armut, ohne
Aussicht, jemals davon wegzukommen.
Inneres
Wachstum
Wäre ich in
meinem kleinen Heimatland geblieben, dann hätte ich all dies nicht erlebt. Ich
würde noch immer unter meiner Glasglocke sitzen und trotz innerer Unruhe meinen,
dass das die Wirklichkeit ist. In Wahrheit ist das Paradies eine Momentaufnahme
einer Illusion. Die Wirklichkeit findet woanders statt.
Meine
Erfahrungen haben Spuren und Narben hinterlassen. Ich bin nicht mehr dieselbe,
die damals mit einem Koffer, einer Reisetasche und einem Rennrad in Hurghada angekommen
ist. Und das ist gut so, auch wenn der Preis dafür hoch war. Meine innere und
äussere Welt ist unendlich gross und reich geworden.
Man kann mit ein wenig Geld auf dem Konto hier sehr gut von den Zinsen leben und seien es nur 20K Euro. Es empfiehlt sich mit wenigstens diesem Kleingeld hier zu landen, denn dann bekommt man bei zur Zeit etwa 10 Prozent Zinsen in etwa das Geld das man hier durchschnittlich braucht. Hat man mehr davon zurückgelegt wird es immer bequemer mit dem Leben im Süden. Freilich hilft unsere Bildung dabei sich auch ohne minimalen Background durchzuschlagen. Ich würde aber jedem empfehlen erst dieses Minimum anzusparen bevor man auswandert. Dann kann man hier den ganzen Tag Espresso trinken und surfen. In vielen Ländern der Welt sind die Lebenshaltungskosten viel niedriger als in der EU.
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