Samstag, Juni 16, 2018

Davon laufen oder Neues suchen?


Eine junge Dame aus Südafrika sitzt neben mir im Auto. Ich nehme sie mit in die Stadt und wir quatschen über dies und das, eher ernst-philosophisch, so wie ich es mag, aber so genau weiss ich es nicht mehr.

Was ich jedoch nicht so schnell vergessen werde, ist die unerwartete Frage: „Und weshalb bist du hier?“

Ich schlucke. Ich überlege: Was soll ich sagen? Ich musste die Frage schon oft beantworten und habe das ohne Zögern offen und ehrlich gemacht. Ich bin keine Heuchlerin, Ehrlichkeit – selbst zu meinem Nachteil – gilt mir als Tugend, auch nach neun Jahren in diesem Land.

Wunsch nach Veränderung, Reiz des Neuen, Lust auf Abenteuer fern der Heimat nannte ich als Triebfeder. Damals war das Leben hier günstig, ein (finanzielles) Scheitern würde nicht so weh tun. Fernweh hat mich schon immer geplagt, Herausforderungen pflastern quasi meinen Lebensweg und haben tiefe Spuren hinterlassen. Ohne sie wäre mir das Leben etwas gar eintönig und fad. So in etwa lautete meine Antwort.

Nach mehreren Monaten intensiver psychologischer Arbeit ist mir jedoch bewusst, dass meine Antwort nur das knitterfreie Bild einer Fassade widergab. Und da die junge Dame und ich schon Obeflächlichkeiten beiseite gelegt hatten, hörte ich mich sagen: „Es war wohl eine Flucht.“

Ihre Erwiderung hörte sich an wie ein Satz eines Weisen: „Wir hier sind wohl alle vor etwas auf der Flucht.“

Wenn ich an all die Betrüger und Schatzsucher aus dem In- und Ausland denke, die sich hier tummeln, stimme ich dieser Aussage sofort zu.

Doch da sind auch Investoren, die es hier zu ansehnlichem Vermögen gebracht haben. Sind sie auch geflohen? Wovor? Oder hat sie einfach der Geschäftssinn und die Liebe zum Roten Meer hier behalten?

Und die älteren Ehepaare? Gilt der Wunsch nach einem Lebensabend unter der nordafrikanischen Sonne und fern des Regens auch als Flucht?

Und was ist mit den unzähligen alleinstehenden älteren Frauen und weniger zahlreichen alleinstehenden älteren Herren? Wovor sind sie geflohen?

Doch es gibt auch noch jene undefinierbare Gruppe, die sich zwar in die Ferne aufgemacht hat, aber feststellen muss, dass sie den Fluchtgrund in sich tragen. Dazu gehören die junge Dame und die Schreiberin hier. Erst wenn wir uns diesem Fluchtgrund stellen, schaffen wir es, uns davon zu lösen.

Dann braucht es den Reiz des Neuen vielleicht nicht mehr.


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