Sonntag, Oktober 28, 2018

Ticket ins Paradies


Ich packe das Geschenk aus: ein Buch. Auf Arabisch. Von Alaa Al Aswany „Das Jakobiner Haus“ (Emarat Yacoubian). Ich habe das Buch vor Jahren in Englisch gelesen.

Der junge, pausbäckige Mann sieht mich erwartungsvoll an. Wir würden es gemeinsam lesen, meinte S., als ich sage, so gut sei mein Arabisch aber nicht. Wir reden oder besser: radebrechen Arabisch miteinander.

Zu jener Zeit verbessert sich mein Arabisch zusehends. Wir gehen hie und da aus. Ich helfe ihm in Deutsch und Englisch. Er ist launisch. Depressiv. Bleibt tagelang im Bett. Erzählt von seinen Sorgen, die sich nicht besonders von jenen anderer Ägypter seines sozialen Umfeldes unterscheiden. Es geht um die miserablen Arbeitsbedingungen, um Schikanen von Vorgesetzten, Mitarbeitern und Gästen (!!!), um den Druck der Familie, um Geld.  Ärger mit russischen Touristinnen, die meinen, alle Ägypter wollen nur Sex. Wenn er seine depressive Phase hat, hält er unsere Termine nicht ein.

Er arbeitet als Masseur in einem Hotel. Einmal ruft er mich an, bietet mir eine Massage an. Er habe grad Zeit. Einigermassen verdattert lehne ich dankend ab. Ich nehme grundsätzlich nichts von meinen Studenten an. Was soll das? Meint der wirklich, ich würde mich da privat vor ihn hinlegen?


Was mir so ungefähr schwant, nimmt bald klare Formen an. Sein Zustand kann in einen Satz gepackt werden: Er will weg von hier und sucht sich ein Ticket ins Paradies.

Ich bin kein Ticket. Da er unsere Abmachungen nicht einhält, sage ich ihm, dass er nicht mehr kommen brauche. Einmal meint er, bevor ich gehe, wolle er mich heiraten. Einfach so, aus heiterem Himmel. Ich sehe ihn an, als ob er verrückt wäre. Er stammelt etwas von „immer verbunden sein“, „nicht mehr vergessen“. Blödsinn.

Da er recht gut aussieht, rate ich ihm, sich doch eine junge Europäerin zu suchen und sie zu heiraten. Dann könne er weg von hier.

Die Idee gefällt ihm nicht. Zumindest versichert er mir das. Er sei nicht so, wie viele der anderen Ägypter hier in Hurghada.

Der Kontakt flaut ab. S. schickt mir Nachrichten, ruft mich hie und da an, möchte mich treffen, aber ich habe weder Lust noch Zeit. Einmal bin ich grad in Kairo am Flughafen, ein andermal voll mit Terminen. Und überhaupt habe ich anderes zu tun.

Ein Dreiviertel Jahr später sehe ich Hochzeitsfotos auf seiner Facebook-Seite! Mir verschlägt es einen Moment die Sprache. Die Braut ist eine sehr hübsche junge Frau. Sie sieht glücklich aus, ziemlich verliebt. S. sieht aus, als ob er eine Rolle spielen würde. Unecht, im falschen Film.

Er hat es also geschafft: Er hat ein Ticket ins Paradies gewonnen. Von den Landschaftsbildern nehme ich an, dass er in einem baltischen Land ist. Ich gratuliere nicht, mir käme das heuchlerisch vor.

Mehrere Monate später schreibt er mir in gutem Englisch. Er würde niemals meine Hilfe vergessen, ich hätte ihn unterstützt, als es ihm mies ging, er würde mir immer beistehen (was er damit wohl meint?). Er hätte ein Ziel erreicht, er hätte nun den Aufenthalt in Europa und würde mich gerne in meinem Heimatland treffen. Er hätte noch grössere Ziele. Möge er sie erreichen, ich wünsche es ihm. Ich gratuliere ihm zu seinem guten Englisch.

Ich frage nicht, ob er seine Frau liebt. Die Frage ist überflüssig. Ich frage auch nicht, wie es ihm geht. Ich hoffe nur, dass jene Frau nie enttäuscht wird.

Das Buch von Alaa Al Aswany liegt nun im Bücherregal. Vor langer Zeit habe ich mal versucht, die erste Seite zu lesen. Mehr nicht. Ist auch nicht nötig. Ich kenne die Geschichte und ich weiss, wie das Leben hier läuft. Das reicht.



1 Kommentar:

  1. Ich frage mich generell ob es möglich ist bei einem solchen Gefälle an Wohlstand und Unterschied an Kultur an wahre Liebe zu glauben, aber anscheinend ist es wohl doch so, dass wenn Liebe etwas mit Rationalität zu tun hätte niemand niemals mehr heiraten würde und die Menschheit aussterben würde.

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