Dritter Tag: Naqadah
Diese kleine
Stadt wenige Kilometer nördlich von Luxor steht auch schon lange auf meiner
Liste. Warum? Weil einer meiner Freunde von hier kommt und hier lebt und die
Stadt heute zwar aus touristischer Sicht bedeutungslos ist, aber handwerklich
und geschichtlich interessant ist.
Noch mehr
Webtradition
Hier wurden ebenfalls seit Urzeiten handgewobene Stoffe hergestellt. Mein Freund B. sagte mir, früher kam das Tuch für die Kaaba in Mekka, die Kiswa, von hier. Die Stoffe wurden auch in den Sudan geliefert.
Heute findet man
das Material vor allem als Schals in den Touristengeschäften. B. verkauft auch
ins Ausland und an einige Designerinnern in Kairo. Ich kaufe hin und wieder Meterware von ihm, um luftige Wickelröcke und Sommerblusen nähen zu lassen, diesmal
in Sonnengelb und schlichtem Schwarz. Die reine Baumwolle fühlt sich leicht und
weich auf der Haut an und man schwitzt nicht. Wenn ich besser im Verkauf wäre,
würde ich sie in Europa vertreiben, denn die Qualität ist ein Traum!
Jetzt endlich
kann ich sehen, wo die schönen Dinger herstammen. Seine halb erblindete Cousine
erwartet uns und setzt sich für mich an den Webstuhl. Sie webt an einem
schwarzen Tuch mit Goldfäden. Doch B. ist nicht zufrieden. Er suche seit langem
nach Webern, denn seine Cousine arbeite nicht viel und sie sei zu langsam. Er
könnte viel mehr verkaufen, kann aber nicht liefern. Doch gute Arbeiter zu
finden sei schwer. Niemand will wirklich arbeiten.
B. zeigt mir auch,
wo die Fäden auf riesigen Spulen aufbewahrt werden: In einem Nebenraum türmen
sich in einer Kartonschachtel Spulen mit den herrlichsten Farben: rot, gelb,
grün, blau, schwarz, weiss. Doch, warum schützt du die Fäden nicht vor dem
Staub? Alles ist voller Staub, Abfall, Unrat. Der Anblick schmerzt mich. B.
antwortet, das mache nichts, die Stoffe würden ja sowieso vor dem Verkauf
gewaschen und gebügelt.
Kistchenmacher
B. meint, ich
solle mein Auto abstellen. Wir besuchen Mohamed, der Möbel und Dekorationen aus
Palmblättern herstellt. Stolz zeigt er mir einige seiner Kunstwerke: einen
Lampenschirm, ein Segelboot. Im Inneren seines kleinen Ladens stauen sich
Stühle und Bänke und Tische, wahllos übereinander gestapelt. Oder bin ich es,
der darin keine Logik findet?
Ich möchte ein
kleines Tischchen und ein einfaches Schuhgestell. Schnell skizziere ich ein
paar Linien in sein Heft, damit er sich vorstellen kann, was ich möchte. (NB:
Jetzt, knapp vier Monate später habe ich die beiden Kleinmöbel noch immer nicht
erhalten.)
Mohamed führt uns
durch Gassen, wo ganze Familien mit einer einzigen Aufgabe beschäftigt sind. B.
sagt, es seien fünftausend Personen, die nur diese Kistchen für den
Gemüsetransport herstellen. Die Palmwedel werden an den Hausfassaden aus
Lehmziegeln in der Sonne getrocknet. Danach arbeitet Haus für Haus eine Person
an einem einzigen Arbeitsschritt: Palmholz kürzen - Löcher hineinstanzen –
Teile zusammensetzen. Eine Person arbeitet ein ganzes Leben lang an einem
einzigen Arbeitsschritt! Ein ganzes langes Leben lang! Mir schaudert bei dem
Gedanken und die Vorstellung schmerzt mich. Ich schaffe es nicht, mir
vorzustellen, welche Bescheidenheit und innere Zufriedenheit jemand empfinden
muss, um damit zu leben.
Schon die Kleinsten
sitzen in der typischen Stellung auf dem Boden, sommers wie winters barfuss,
den grossen Zeh eines Fusses zum Halten des Palmholzes bereit. Ja, mir ist
schon klar, dass im vorindustriellen Europa ähnliches die Regel war und während
der Industrialisierung war es nicht viel anders. Trotzdem: Wir leben nicht mehr
im 19. Jahrhundert.
Am Ende der
Gassen, die alle zum Nilufer hinführen, türmen sich die Kistchen auf und ich
frage, für wie viel eines verkauft werde. Sieben Pfund (das war im Januar 30
Rappen oder Cent, jetzt sind es noch 20).
Während unseres
Spaziergangs durch die staubigen Gassen zwischen den alten Lehmhäuser hat sich
eine Schar Kinder an unsere Fersen geheftet. Es werden immer mehr, das Geschrei
immer lauter. Ich dreh mich zu ihnen um und sage, dass ich jetzt ein Foto von
ihnen machen werde. In dem Moment drängt sich noch ein junger Mann mit seinem
Rad dazwischen. Alle sind glücklich: Die Kinder strahlen und rufen „sank you“
und ich kann endlich ohne das Gejohle weitergehen. Mein Freund wird das Foto an
die Familien der Kinder schicken.
Wohnverhältnisse
B. lädt mich zu
sich bzw. in sein Elternhaus ein. Seine Mama begrüsst mich mit einem
freundlichen Lächeln. Ich soll Platz nehmen.
Ich sehe mich um.
Durch die Haustüre gelangt man ebenerdig direkt in den Wohnraum. Die Lehmwände
sind hellblau gekachelt, Bilder des Papstes und von Heiligen der koptischen
Kirche hängen an den Wänden. Ein Bild von B.s Vater erkenne ich auch. Den
Wänden entlang sind Bänke aufgestellt, auf denen Teppiche und Kissen liegen. In
der Mitte steht ein Tisch. Der Boden ist schmutzig. Unter der Bank vor der Türe
liegen in einem Korb frische Bananen, Zwiebeln und Unrat. B. erklärt mir, dass
sie hier schlafen, essen, lernen, diskutieren und Besucher empfangen.
Im Durchgang
hinter diesem Raum steht ein uralter Gasherd. Zwei Schritte weiter befindet
sich das Bad mit Toilette und Dusche. Es misst höchstens 1,5 m2. Auch hier
liegt in der Ecke fingerdick Staub.
Ich kann mir gar
nicht vorstellen, wie man hier ohne Staub leben kann: In den Gassen liegt Sand,
es windet immer, also sind die Wohnräume immer voller Staub.
Mein Freund
beobachtet mich natürlich und meint, seine Familie gehöre zur Mittelklasse. Er
erwähnt auch, mit wie viel Geld sie auskommen. Mir gefriert beinahe das Blut in
den Adern. Mit dem, womit seine Mama und er leben, komme ich nicht mal eine
Woche aus. Ich zähle mich auch zur Mittelklasse!
In dem Moment
kommt eine geschwätzige, auch in Schwarz gekleidete Frau herein und bringt
frischen Büffelmilchkäse. Aus dem Korb nimmt sie Kugel für Kugel und legt sie in
eine Schüssel. Mit blosser Hand.
B. bietet mir von dem Käse an. Leider vergesse ich ihn diesmal, aber beim zweiten Besuch wenige
Wochen später nehme ich eine Kugel mit, nicht ohne B.s eindringliche Worte zu hören: „Du musst ihn abspülen.“ Er schmeckt übrigens köstlich!
Ein Teenager
gesellt sich zu uns, B.s Cousin. Ich versuche, mit ihm auf Englisch ins
Gespräch zu kommen, damit er zeigen kann, was er in der Schule lernt. Aber da
kommt nichts. Ob er denn nicht Englisch in der Schule lerne? Doch, schon, aber
er könne es nicht.
B. greift ins
Gespräch ein und sagt einen Satz, den ich wohl nie wieder vergessen werde, weil
er mich zutiefst schockiert hat und als Zusammenfassung der Misere dieses
Landes gelten darf:
„Er meint, lernen sei sinnlos, also lernt er nicht.“
Mein Freund unterrichtet koptische Sprache in der Kirchengemeinschaft und versucht, den Kindern auch noch andere Werte zu vermitteln. Aber eine Stunde pro Woche sei halt zu wenig, fügt er hinzu.
Pyramide und Gräber
Ich zirkle mein
Auto unter den Richtungsangaben von B. wieder aus den Gassen hinaus und wir
fahren aus der Stadt in den grünen Gürtel neben dem Nil. Landwirtschaft,
Palmen, in der Ferne die Höhenzüge des Sandsteingebirges, welches das Niltal
nach Westen abgrenzt. Eine märchenhafte Landschaft, seit Tausenden von Jahren
beinahe unverändert. B. möchte mir eine Pyramide und Nekropolen zeigen.
Von der Pyramide
ist nicht mehr viel übrig ausser ein paar Steinquader auf die wir steigen. Die
Hinweistafel und Internet (Naqada Pyramid of Nubt)
geben mehr Informationen her. Zu den Nekropolen führt ein angenehmer Fussweg –
doch schon wieder sind wir nicht allein. Jugendliche haben uns erspäht und
posieren mit Halbstarkengehabe.
Kurz später verabschiede ich mich von B. und fahre den grünen Gürtel entlang zurück nach Qena und dann weiter durch die Red Sea Mountains nach Hurghada, nicht ohne noch weitere Handwerkskunst (Töpferei) vom Strassenrand aus zu erspähen.
Schlussbemerkung
Obwohl ich schon
viele Jahre in diesem Land lebe und wirklich auch viel gereist bin, gesehen,
erlebt und erfahren habe, war diese Reise wohl die Eindrücklichste. Natürlich
gibt es regionale Unterschiede, besonders zwischen Ober- und Unterägypten.
Allein in Naqadah war ich kurze Zeit später in einer ganz „normalen“
ägyptischen Wohnung, die sauber war und einen für heute üblichen Standard
aufwies.
Die meisten
Menschen nehmen ihr Schicksal gelassen hin, „Wir akzeptieren es,“ meinte B.
Dazu tragen die gesellschaftlichen Strukturen mit ihren Traditionen, das
verlotterte Bildungssystem und meiner Meinung nach auch die Religionen bei. Ich
glaube ohne letztere, welche Demut, Bescheidenheit, Anpassung und
Hilfsbereitschaft lehren, würden, ja, könnten die Menschen nicht alles so duldsam
hinnehmen.
Die Grenze
zwischen Bescheidenheit und Akzeptanz zu Nachlässigkeit und Perspektivlosigkeit
oder sogar Faulheit scheint zu verwischen. Als ich mal an einer Gruppe
Halbstarker mit Zuckerrohren vorbei gefahren bin, die mich nachher eingeholt
hatten, während ich etwas fotografierte und sie mich anpöbelten, habe ich mich
gefragt, was aus denen mal wird. Die Geburtenraten sind hoch, da drängen jedes
Jahr Hunderttausende Jugendliche ins Leben, in die Wirtschaft und die wollen
etwas. Die werden sich nicht mehr damit begnügen, im Sand sitzend von morgens
bis abends Gemüsekistchen aus Palmwedeln zu fertigen oder Falafel zu frittieren,
Fussball zu gucken, in die Kirche oder Moschee zu pilgern und ihre Frauen zu
beglücken. Da lauert ein Pulverfass.
Jene, die einen
Bruder, Onkel oder Cousin in Hurghada, Sharm oder Dahab haben, drängen dorthin.
Oder nach Kairo. Aus ihrer behüteten, stockkonservativen Gemeinschaft werden
sie mit allem konfrontiert, was der Tourismus mit sich bringt. Ein weniger
standfester Mann wird den Verlockungen nachgeben und geht dann den Weg ins
vermeintliche Paradies: Ausländerin bezirzen, finanziell ausnützen, schwängern,
nach Europa auswandern, sich scheiden – dann ist er frei und ist im (vermeintlichen)
Paradies angekommen.
Nur: Was machen
die anderen? Darben?
schwarzes Baumwolltuch mit Goldfäden in Arbeit |
Mohamed und seine Kunstwerke |
typische Strasse in Naqadah |
das "Sonnenbrot" |
Palmwedel trocknen bündelweise an den Hausfassaden |
Palmholz zuschneiden |
Löcher hineinstanzen |
bereit zum Zusammenstecken |
auch kleine Hände helfen wacker mit |
ein anderer Arbeitsplatz |
am Nilufer |
das Endprodukt - ein Einwegprodukt; irgendwann wird auch das durch Plastik ersetzt werden |
die Nilpromenade von Naqadah |
die Zeit scheint hier still zu stehen |
Überbleibsel der Pyramide von Nubt |
ausnahmsweise mal meine Wenigkeit |
eine der Grabstätten, die schon vor Urzeiten ausgeräumt wurde |
Ihre Erzählungen sind für mich immer Höhepunkte des Tages , wenn sie erscheinen . Man saugt fast alles auf und versucht sich in diese Welt hinein zu versetzen. Ich bin schon viel in Ägypten gewesen, aber eigentlich nur auf den Wegen der Touristen. Dieses Land auf eigene Faust zu erkunden, fasziniert mich und ich zolle ihnen Hochachtung, vor allem allein als Frau . Aber nur so lernt man Ägypten kennen und sieht die Ohnmacht,die diese Menschen befällt. Wie konnten sie eigentlich ihre Übernachtung buchen? Mussten sie sich bei der Polizei anmelden oder übernehmen das die Hotels ? Oder gelten sie nicht als Tourist? Ich frage,weil wir zu einer Familie eingeladen sind und dort in einem Hotel übernachten wollen. Den einheimischen Menschen ist es verboten, Touristen bei sich übernachten zu lassen. Mfg
AntwortenLöschenLieber Falk, danke für Ihren Kommentar, der mich ungemein freut! Ägpyten ist ja nicht gefährlich, es ist einfach nur anders und ungewohnt.
LöschenIch habe noch nie davon gehört, dass es Einheimischen verboten sein soll, bei ihnen zu übernachten. Ich habe das schon gemacht. Ich denke eher, es ist ein Vorwand (Scham?). Ich habe ganz normal auf einer bekannten Buchungsplattform gebucht.
Grundsätzlich ist es vom Gesetz her Ägyptern Verboten, Ausländer bei sich übernachten zu lassen. Verstöße werden mit Geld-/Haftstrafen für beide bestraft. Es gibt jedoch die Möglichkeit sich bei der Touristenpolizei eine Erlaubnis zu holen.04.03.2019. laut Holidaycheck
AntwortenLöscheninteressant... ob sich wer darum kümmert?
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