Dienstag, September 01, 2015

Der grosse Treck

Ich habe eindeutig zu lange gewartet. Seit Monaten sammle ich Material, Fotos und Links, um über das Thema zu schreiben, das jetzt in allen Medien, ja sogar in aller Munde ist. Den Anspruch, einen ausgegorenen, gut recherchierten Text zu schreiben, werfe ich jetzt über Bord. Denn jeden Tag, wenn ich die Nachrichten lese und mit dem Flüchtlingselend aus dem Nahen Osten konfrontiert werde, kämpfe ich mit Emotionen.

Eine Freundin schrieb mir vorgestern: „71 Flüchtlinge in einem Lkw erstickt. Habe das Bild vor meinen Augen. Kann nicht schlafen, bin so wütend auf die Welt. Ich will keine Kinder mehr in diese Welt setzen. Solche und grausamere Dinge passieren täglich. Aber nicht vor meiner Haustür... Soll ich lieber wegschauen und mich mit den schönen Dingen der Welt beschäftigen? Soll ich das Beste aus meinem Glück machen weiss zu sein und einen EU-Pass zu besitzen? Soll ich mich um meine unmittelbar Nächsten kümmern und sagen, dass ich gegen all das Leid eh nichts anrichten kann und lieber drehe ich den TV gar nicht auf und lese nur noch Bücher und keine Zeitungen...“

Es ist zum Ersticken!
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In der Erklärung der Menschenrechte steht (ein Auszug):


Artikel 3
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit seiner Person.

Artikel 7
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstösst, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.

Artikel 13
[]
2.  Jeder hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurück zu kehren.

Artikel 14
Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen.

Papier ist geduldig. Die Politiker schwafeln vor sich hin und in die Mikrofone der Medien hinein. Inzwischen sterben monatlich Tausende von Menschen. Menschen, die zu Flüchtlingen werden, weil eben die Grundlage, um in Freiheit und Sicherheit in ihrer Heimat zu leben, nicht mehr gegeben ist.

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„Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert einen Flüchtling als Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.

 „…. Einige Länder meinen jedoch weiterhin, dass Menschen, die vor Kriegsgeschehen fliehen - oder die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wie Milizen oder Rebellen fürchten - keinen Flüchtlingsstatus erhalten sollten. UNHCR ist hingegen der Ansicht, dass für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nicht der Urheber der Verfolgung ausschlaggebend ist, sondern ob die Person internationalen Schutz benötigt, weil dieser in ihrem Herkunftsland nicht gegeben ist.

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Quelle: NZZ Online (Bild: Marco Djurica / Reuters)
Als ich dieses Bild auf NZZ Online sah, dachte ich an den Grossen Treck. Idealisiert, romantisiert und „abenteuerisiert“ denkt man beim Grossen Treck an Planwagen, die von Amerikas Ostküste westwärts ziehen. Allerdings haben sie dabei die ursprünglichen Bewohner ihrer künftigen Heimat umgebracht. Die Menschen hier auf dem Bild gehen zu Fuss, tun niemandem etwas an und werden trotzdem bedroht.

Quelle: Courrier International (Bild: Sakis Mikrolidis / AFP)

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Menschen verliessen immer wieder ihr Heimatland, flohen vor Hungersnöten, Seuchen und Kriegen. Alle hatten einen Wunsch, einen Traum:  l e b e n ! Leben in Freiheit, Sicherheit und Unversehrtheit. Sie nahmen unmenschliche Strapazen und Risiken auf sich, um ihr Ziel zu erreichen – und viele kamen dabei um.

Wir in Westeuropa vergessen leider gar schnell: im 19. Jahrhundert und noch vor weniger als 100 Jahren verliessen die Menschen in Strömen Deutschland, Österreich und die Schweiz, um ein besseres Leben in Südosteuropa, Russland oder Übersee zu finden. Kinder aus der Schweiz und Österreich wurden an Märkten verschachert, um fremden Bauern in Oberschwaben (deshalb der Begriff „Schwabenkinder“) zu dienen und der eigenen, armen Familie nicht zur Last zu fallen. Innerhalb der Schweiz geschah dasselbe unter dem Deckmantel der Erziehung. Sie waren „Verdingkinder“.  Junge Männer gingen in die Fremdenlegion, weil es in ihrem Heimatland kein Auskommen für sie gab.

In den Städten Unterägyptens gibt es heute noch zahlreiche Häuser, Strassen und Geschäftsschilder mit den Namen von deutschen, österreichischen, italienischen, französischen und schweizerischen Auswanderern. Vielleicht waren sie keine Flüchtlinge im Sinne von den Menschen, die jetzt zu uns kommen, aber sie waren Fremde, die ein besseres Leben suchten – und fanden. Sie vermischten sich mit Griechen, Türken und Armeniern.

Niemand kann die Menschen aufhalten, die zu Abertausenden den Nahen und Mittleren Osten verlassen. Es gibt dort nichts Lebenswertes mehr! Die angrenzenden Länder beherbergen bereits Millionen von Flüchtlingen und sind finanziell heillos überfordert. Die reichen arabischen Länder – die Golfstaaten und Saudi Arabien – tun nichts für ihre „arabischen Brüder“. Sie schauen weg und unterstützen weiterhin das Regime und die Rebellen. Auf den sozialen Medien drücken viele Araber ihre Empörung und Scham darüber aus. Der Libanon, Jordanien, Palästina und Ägypten haben Flüchtlinge aufgenommen. Hier in Hurghada hat es auch immer mehr, sie integrieren sich, werden wegen ihrem Fleiss, ihrer Ehrlichkeit und ihrem Anstand geschätzt und respektiert. Damit unterscheiden sie sich angenehm von den oft filzigen und schludrigen ägyptischen Arbeitern und Dienstleistern.

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Der grosse Treck: die Menschen aus Syrien und Irak tragen nur einen Rucksack, einen kleinen Koffer mit sich. Sie kommen nicht mit vollgestopften Autos. Sie sind seit Monaten zu Fuss unterwegs, haben im Freien geschlafen, in dreckigen Kellern und Wohnungen ausgeharrt, sind in Schlauchbooten übers Mittelmeer gefahren, haben gehungert und haben täglich dem Tod in die Augen geblickt. Sie haben Familie und Heimat hinter sich gelassen. Aber sie leben.

Nun sind sie da, vor unserer Türe: Mazedonien konnte sie nicht mehr halten, Ungarn mit ihrem hilflosen, lächerlichen Zaun auch nicht. Jetzt sind sie da, sie kommen nach Wien, nach München, nach Buchs ins St. Galler Rheintal. Und jetzt?

Noch immer ist die europäische Politik hilflos. Nicht der Schutz der Menschen, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit steht im Zentrum ihres Tuns, sondern die Frage, wie sie ihre Partei und ihre Wähler befriedigen kann. Das Wohlergehen der Rüstungsindustrie ist wichtiger, als die Menschenrechte. Würden keine Waffen und kein Geld mehr in die Kriegsgebiete gelangen, hätte das Morden schnell ein Ende. Aber dafür ist es jetzt schon zu spät.

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Wir haben einfach ein riesiges Glück, den richtigen Pass zu besitzen und im richtigen Land geboren worden zu sein. Das ist aber kein Garantieschein! Vielleicht sind wir in Westeuropa auch mal wieder gezwungen, die Erfüllung der Menschenreichte in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent zu suchen? Wer nimmt uns dann auf?

Vor zwei Jahren fotografierte ich diese Notiz in einer Ausstellung im MuCEM in Marseille:

"Die Grenzen öffnen, ist wie die Arme öffnen!"

Wann öffnet Europa seine Arme?

Ich glaube, dass der direkte – menschliche – Kontakt mit den Fremden manchen von uns betroffen machen wird und sein von den Medien und der Politik verunstaltetes Bild von den Flüchtlingen korrigieren wird. Es wird allmählich Zeit.

Hier noch ein Link über den Irak und seine eindrückliche FlüchtlingsGeschichte: die Iraqi Odyssey.




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