Donnerstag, September 24, 2015

Glücksache: gesund werden

Da stehe ich also im „Öffentlichen Krankenhaus“ von Hurghada. Ich hab mich auf vieles gefasst gemacht, rechne mit allem. Der junge Mann am Empfang sagt mir, dass jetzt niemand mehr in der radiologischen Abteilung da ist, ich solle morgen wieder kommen. Es ist kurz nach eins am Nachmittag!

Am nächsten Tag stehe ich um neun Uhr wieder da und lass mir den Weg zum Radiologen erklären. Da hin, da entlang, ist alles, was er mir sagt. Ich gehe durch staubige Gänge, vorbei an schäbigen Türen. Eine voluminöse Frau in Kopftuch wirft mir einen bösen Blick zu, während sie mit dem Fuss eine leere Kartonschachtel vor sich her schubst. Es liegt noch mehr Abfall herum. Wohin sie wohl die Schachtel kickt? Hinter ihr steht die Tür offen und gibt den Blick frei in einen schmuddeligen Raum, wo ein paar Frauen hocken und tratschen. Ich gehe weiter, vorbei an kahlen Wänden und an Türen, die vor vielen Jahrzehnten beschriftet wurden.


Eine junge Ägypterin kommt mir entgegen und ich frag sie, wo denn diese besagte Abteilung sei. Sie begleitet mich in den Hof hinaus, läuft mit mir bis ans Ende des Gebäudes und weist zu einem Eingang. Immerhin, hier hat es Bäume, d.h. Schatten. Aha, da bin ich richtig. Ein Ehepaar wartet schon mit einem Jungen, offenbar ein Autist. Die Mutter hockt auf der Treppe, der Junge auf dem einzigen Stuhl. Offenbar ist er ein Autist. Sein Vater kniet immer wieder zu ihm hin, liebkost ihn, streichelt seine verkrampften Gliedmassen, spricht ihm beruhigend zu. Mir zerquetscht es das Herz vor Mitleid.

Es ist fast halb zehn, als ein gepflegter Mann her kommt und die Türe aufschliesst. Er blickt uns an, macht drinnen Licht, ohne uns zu grüssen. Drinnen öffnet er eine weitere Türe und ich sehe mit Erleichterung, dass das die Tür zum MRI ist – sieht aus wie bei uns.

Ein weiteres ägyptisches Paar kommt und drängt sich vor. Mit einem Zettel in der Hand gehen sie wieder fort. Ich bin die Letzte, die ihr Anliegen vordringen darf. Der Arzt stellt für mich eine Rechnung aus, die muss ich bezahlen, bevor eine Handlung erfolgt. Fünfhundert soll ich bezahlen. Er begleitet mich ein paar Meter und weist mir den Weg zum Management. Dort hocken drei Typen rund um einen Tisch und gaffen mich an. Sie wollen nicht mit mir reden, sagen nur, ich soll am Empfang zahlen. Hmm, wie komm ich denn da wieder hin? Irgendwie finde ich wieder den Ausgangspunkt meiner Irrfahrt.

Ich zieh fünf Hunderter aus meinem Geldbeutel, doch der junge Mann winkt ab: Euro! 500 Euro soll ich für ein MRI bezahlen!??? Ich zerreiss die Quittung und verlasse die Katastrophe. Fünfhundert Euro – so viel soll das in Europa kosten, deshalb dieser Spezialpreis für Ausländer (mit Touristenvisum). Nur: in Europa sind Krankenhäuser hygienisch sauber, das Personal freundlich und professionell, es hat Stühle zum Warten und und und.

Weshalb ich zum Öffentlichen Krankenhaus gegangen bin? Weil es im ganzen Gouvernement die beste Maschine hat.

Zum Glück bin ich nicht krank. Das MRI kann ich in meiner Heimat machen lassen.

Krank ist das ägyptische Gesundheitssystem und zwar seit Jahrzehnten. Krank und Korrupt wie alle Bereiche des Staates. Wer hier gesund ist, hat Glück, wer es bleibt, hat ein Riesenglück. Die anderen haben Pech. Zum Glück tragen finanzielle Mittel und Vitamin B bei, zum Pech das Fehlen beider Komponenten.

Die Armen sollten die ersten 48 Stunden eigentlich kostenlos in den Öffentlichen Krankenhäusern behandelt werden, bezahlen sollten sie nur für Medikamente. Theoretisch. Die Wirklichkeit sieht anders aus: die Krankenhäuser sind heillos überfüllt, alt, unhygienisch, verlottert, Katzen gehen ein und aus, Pflegepersonal fehlt oder kümmert sich nicht, medizinische Geräte sind unbrauchbar oder fehlen, Stromunterbrüche werden nicht von Generatoren abgefangen, saubere Betten und Bettwäsche oder anständige Nahrung gibt es nicht. Familienangehörige pilgern folglich täglich in die Krankenhäuser, um ihre Kranken zu hegen und pflegen – sofern ihnen Zeit und finanzielle Mittel das erlauben.

Die finanziell besser gestellten werden geschröpft – im übertragenen Sinne. Eine lebensnotwendige Operation kann schnell mal ein Vielfaches dessen kosten, was sie in Wahrheit kosten dürfte. Die Qualität des Eingriffs ist deshalb nicht unbedingt besser.

Warum??? Frisch ausgebildete Ärzte müssen in den Öffentlichen Krankenhäusern Dienst tun. Dabei verdienen sie weniger als ein Beamter, was natürlich zum Leben nicht reicht. Folglich haben sie einen zweiten oder dritten Job, schieben Nachtwache, um irgendwie genügend Geld zu verdienen. Die wenigsten von ihnen schlafen mehr als 2 bis 4 Stunden. Ich hatte einige Medizin-Studenten, die nun in Europa leben, ich hab das mitbekommen. Da in den Öffentlichen Krankenhäusern kaum erfahrene Ärzte auftauchen – sie arbeiten in privaten Kliniken oder in jenen von der Oberschicht des Systems – ist es schwierig für die jungen Ärzte, ihre Erfahrungen zu erweitern.

Und die Regierung, das Gesundheitsministerium? Die weiss offenbar von Nichts. Die haben ja ihre eigenen Krankenhäuser. Als Anfang Juni der (damalige) Premierminister das Nationale Herzzentrum in Giza besuchte, war er angeblich von den Zuständen so schockiert, dass er umgehend einige der Ärzte in die Verbannung nach Oberägypten anordnete. Das heisst, dass Ärzte und Bevölkerung für die jahrzehntelange Vernachlässigung des Staates bestraft wurden. Der Minister besuchte anschliessend noch zwei weitere Krankenhäuser und war nicht minder schockiert. Er ordnete sofort die Entlassung einiger Minister und eine Untersuchung der Zustände an. Ein Fünfjahresplan für die Modernisierung des Gesundheitssystems wurde gefordert. Papier ist geduldig.

Inzwischen sterben weiterhin täglich Menschen, weil sie nicht oder falsch behandelt werden. Anstatt die Ursachen zu suchen und zu behandeln, werden oft bloss Schmerzmittel verabreicht. 
Gestern erzählte mir ein Freund, dass sein einen Monat altes Baby Medikamente erhält. Jeder siebte Ägypter ist mit Hepatitis C angesteckt, Dickleibigkeit und Diabetes sind weit verbreitet.

Der Besuch des Premierministers löste in den sozialen Medien eine Welle von Häme aus. Ärzte bildeten auf Facebook eine Gruppe („Damit du das nächste Mal nicht schockiert bist, wenn du kommst“), auf der anonym Bilder veröffentlicht und Zustände geschildert werden. Die Bilder zeigen Katzen auf Krankenhausbetten, Ziegen und Schafe vor den Eingängen, medizinischer Abfall rund um die Gebäude, Patienten auf behelfsmässigen Liegen, auf dem Boden oder sogar auf der Strasse vor dem Krankenhaus, Schmutz, Abfall in den Behandlungsräumen usw. Verwahrlosung pur. Ich sah Bilder, auf denen Ärzte unter dem Licht ihrer Mobiltelefone operierten!

Ich weiss aus meinem persönlichen Bekanntenkreis, wie verzweifelt die Menschen oft sind. Sie fühlen sich ohnmächtig, bekommen kein Gehör, keine Hilfe, keine Beratung, keine Gesundheit. Ich hab auch gemerkt, dass Ägypter schon beim kleinsten Schnupfen ins Krankenhaus rennen – sie wissen nicht, wie mit einer Erkältung, Kopf- oder Bauchweh umgehen, sie lassen sich Medikamente verschreiben. Sie wissen auch nicht, was gesunde Ernährung ist, und dass regelmässige Bewegung gesund hält. Es fehlt an Bildung und Wissen und am Willen des Staates, sich diesem Riesenproblem zu widmen.

Das Land ist voller Horrorgeschichten über die Folgen von Krankheit und Unfall. Und Hurghada? Es gibt hier viele Privat-Kliniken und die Erfahrungsberichte gehen von sehr gut bis katastrophal. Das fängt damit an, dass die Ambulanz mehrere Stunden benötigt, um an einen Unfallort in Stadtnähe zu kommen und hört nicht damit auf, dass Patienten falsch operiert oder medikamentiert werden.


Ich bin dankbar, dass ich bisher nicht in eine Notfallsituation gekommen bin und hoffe, dass es auch nie geschieht. Falls doch, dann steh mir Gott bei.

Links: WHO über Ägypten, Berichte auf Al-Monitor (hier und hier), auf Ahramonline , Deutsch-Arabische Handelskammer

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