Da stehe ich also im „Öffentlichen Krankenhaus“ von
Hurghada. Ich hab mich auf vieles gefasst gemacht, rechne mit allem. Der junge
Mann am Empfang sagt mir, dass jetzt niemand mehr in der radiologischen
Abteilung da ist, ich solle morgen wieder kommen. Es ist kurz nach eins am
Nachmittag!
Am nächsten Tag stehe ich um neun Uhr wieder da und lass mir
den Weg zum Radiologen erklären. Da hin, da entlang, ist alles, was er mir
sagt. Ich gehe durch staubige Gänge, vorbei an schäbigen Türen. Eine voluminöse
Frau in Kopftuch wirft mir einen bösen Blick zu, während sie mit dem Fuss eine
leere Kartonschachtel vor sich her schubst. Es liegt noch mehr Abfall herum.
Wohin sie wohl die Schachtel kickt? Hinter ihr steht die Tür offen und gibt den
Blick frei in einen schmuddeligen Raum, wo ein paar Frauen hocken und
tratschen. Ich gehe weiter, vorbei an kahlen Wänden und an Türen, die vor
vielen Jahrzehnten beschriftet wurden.
Eine junge Ägypterin kommt mir entgegen und ich frag sie, wo
denn diese besagte Abteilung sei. Sie begleitet mich in den Hof hinaus, läuft
mit mir bis ans Ende des Gebäudes und weist zu einem Eingang. Immerhin, hier
hat es Bäume, d.h. Schatten. Aha, da bin ich richtig. Ein Ehepaar wartet schon
mit einem Jungen, offenbar ein Autist. Die Mutter hockt auf der Treppe, der
Junge auf dem einzigen Stuhl. Offenbar ist er ein Autist. Sein Vater kniet
immer wieder zu ihm hin, liebkost ihn, streichelt seine verkrampften Gliedmassen,
spricht ihm beruhigend zu. Mir zerquetscht es das Herz vor Mitleid.
Es ist fast halb zehn, als ein gepflegter Mann her kommt und
die Türe aufschliesst. Er blickt uns an, macht drinnen Licht, ohne uns zu
grüssen. Drinnen öffnet er eine weitere Türe und ich sehe mit Erleichterung,
dass das die Tür zum MRI ist – sieht aus wie bei uns.
Ein weiteres ägyptisches Paar kommt und drängt sich vor. Mit
einem Zettel in der Hand gehen sie wieder fort. Ich bin die Letzte, die ihr
Anliegen vordringen darf. Der Arzt stellt für mich eine Rechnung aus, die muss
ich bezahlen, bevor eine Handlung erfolgt. Fünfhundert soll ich bezahlen. Er
begleitet mich ein paar Meter und weist mir den Weg zum Management. Dort hocken
drei Typen rund um einen Tisch und gaffen mich an. Sie wollen nicht mit mir
reden, sagen nur, ich soll am Empfang zahlen. Hmm, wie komm ich denn da wieder
hin? Irgendwie finde ich wieder den Ausgangspunkt meiner Irrfahrt.
Ich zieh fünf Hunderter aus meinem Geldbeutel, doch der
junge Mann winkt ab: Euro! 500 Euro soll ich für ein MRI bezahlen!??? Ich
zerreiss die Quittung und verlasse die Katastrophe. Fünfhundert Euro – so viel soll
das in Europa kosten, deshalb dieser Spezialpreis für Ausländer (mit
Touristenvisum). Nur: in Europa sind Krankenhäuser hygienisch sauber, das
Personal freundlich und professionell, es hat Stühle zum Warten und und und.
Weshalb ich zum Öffentlichen Krankenhaus gegangen bin? Weil
es im ganzen Gouvernement die beste Maschine hat.
Zum Glück bin ich nicht krank. Das MRI kann ich in meiner
Heimat machen lassen.
Krank ist das ägyptische Gesundheitssystem und zwar seit
Jahrzehnten. Krank und Korrupt wie alle Bereiche des Staates. Wer hier gesund
ist, hat Glück, wer es bleibt, hat ein Riesenglück. Die anderen haben Pech. Zum
Glück tragen finanzielle Mittel und Vitamin B bei, zum Pech das Fehlen beider
Komponenten.
Die Armen sollten die ersten 48 Stunden eigentlich kostenlos
in den Öffentlichen Krankenhäusern behandelt werden, bezahlen sollten sie nur
für Medikamente. Theoretisch. Die Wirklichkeit sieht anders aus: die
Krankenhäuser sind heillos überfüllt, alt, unhygienisch, verlottert, Katzen
gehen ein und aus, Pflegepersonal fehlt oder kümmert sich nicht, medizinische
Geräte sind unbrauchbar oder fehlen, Stromunterbrüche werden nicht von
Generatoren abgefangen, saubere Betten und Bettwäsche oder anständige Nahrung
gibt es nicht. Familienangehörige pilgern folglich täglich in die Krankenhäuser,
um ihre Kranken zu hegen und pflegen – sofern ihnen Zeit und finanzielle Mittel
das erlauben.
Die finanziell besser gestellten werden geschröpft – im übertragenen
Sinne. Eine lebensnotwendige Operation kann schnell mal ein Vielfaches dessen
kosten, was sie in Wahrheit kosten dürfte. Die Qualität des Eingriffs ist
deshalb nicht unbedingt besser.
Warum??? Frisch ausgebildete Ärzte müssen in den
Öffentlichen Krankenhäusern Dienst tun. Dabei verdienen sie weniger als ein Beamter,
was natürlich zum Leben nicht reicht. Folglich haben sie einen zweiten oder
dritten Job, schieben Nachtwache, um irgendwie genügend Geld zu verdienen. Die
wenigsten von ihnen schlafen mehr als 2 bis 4 Stunden. Ich hatte einige
Medizin-Studenten, die nun in Europa leben, ich hab das mitbekommen. Da in den Öffentlichen
Krankenhäusern kaum erfahrene Ärzte auftauchen – sie arbeiten in privaten
Kliniken oder in jenen von der Oberschicht des Systems – ist es schwierig für
die jungen Ärzte, ihre Erfahrungen zu erweitern.
Und die Regierung, das Gesundheitsministerium? Die weiss
offenbar von Nichts. Die haben ja ihre eigenen Krankenhäuser. Als Anfang Juni
der (damalige) Premierminister das Nationale Herzzentrum in Giza besuchte, war
er angeblich von den Zuständen so schockiert, dass er umgehend einige der Ärzte
in die Verbannung nach Oberägypten anordnete. Das heisst, dass Ärzte und
Bevölkerung für die jahrzehntelange Vernachlässigung des Staates bestraft wurden.
Der Minister besuchte anschliessend noch zwei weitere Krankenhäuser und war nicht
minder schockiert. Er ordnete sofort die Entlassung einiger Minister und eine
Untersuchung der Zustände an. Ein Fünfjahresplan für die Modernisierung des Gesundheitssystems wurde
gefordert. Papier ist geduldig.
Inzwischen sterben weiterhin täglich Menschen, weil sie
nicht oder falsch behandelt werden. Anstatt die Ursachen zu suchen und zu
behandeln, werden oft bloss Schmerzmittel verabreicht.
Gestern erzählte mir ein
Freund, dass sein einen Monat altes Baby Medikamente erhält. Jeder siebte
Ägypter ist mit Hepatitis C angesteckt, Dickleibigkeit und Diabetes sind weit
verbreitet.
Der Besuch des Premierministers löste in den sozialen Medien
eine Welle von Häme aus. Ärzte bildeten auf Facebook eine Gruppe („Damit du das nächste Mal nicht schockiert bist, wenn du kommst“), auf der anonym Bilder
veröffentlicht und Zustände geschildert werden. Die Bilder zeigen Katzen auf
Krankenhausbetten, Ziegen und Schafe vor den Eingängen, medizinischer Abfall
rund um die Gebäude, Patienten auf behelfsmässigen Liegen, auf dem Boden oder
sogar auf der Strasse vor dem Krankenhaus, Schmutz, Abfall in den
Behandlungsräumen usw. Verwahrlosung pur. Ich sah Bilder, auf denen Ärzte unter dem Licht ihrer Mobiltelefone operierten!
Ich weiss aus meinem persönlichen Bekanntenkreis, wie
verzweifelt die Menschen oft sind. Sie fühlen sich ohnmächtig, bekommen kein
Gehör, keine Hilfe, keine Beratung, keine Gesundheit. Ich hab auch gemerkt,
dass Ägypter schon beim kleinsten Schnupfen ins Krankenhaus rennen – sie wissen
nicht, wie mit einer Erkältung, Kopf- oder Bauchweh umgehen, sie lassen sich
Medikamente verschreiben. Sie wissen auch nicht, was gesunde Ernährung ist, und
dass regelmässige Bewegung gesund hält. Es fehlt an Bildung und Wissen und am
Willen des Staates, sich diesem Riesenproblem zu widmen.
Das Land ist voller Horrorgeschichten über die Folgen von
Krankheit und Unfall. Und Hurghada? Es gibt hier viele Privat-Kliniken und
die Erfahrungsberichte gehen von sehr gut bis
katastrophal. Das fängt damit an, dass die Ambulanz mehrere Stunden benötigt,
um an einen Unfallort in Stadtnähe zu kommen und hört nicht damit auf, dass
Patienten falsch operiert oder medikamentiert werden.
Ich bin dankbar, dass ich bisher nicht in eine Notfallsituation
gekommen bin und hoffe, dass es auch nie geschieht. Falls doch, dann steh mir Gott bei.
Links: WHO über Ägypten, Berichte auf Al-Monitor (hier und hier), auf Ahramonline , Deutsch-Arabische Handelskammer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Danke für Ihren Kommentar. Ich freue mich über jede aktive Teilnahme an meinem Blog. Meinungsfreiheit gilt auch hier. Ich behalte mir jedoch vor, freche und beleidigende Kommentare zu löschen.