Hin
Der Flug ist schon lange gebucht, Mitbringsel gekauft, nur der
Koffer sollte noch gepackt werden. Aber ich schiebe das vor mich her, denn ich
will nicht wirklich weg. Ich will nicht weg von da, wo ich lebe, wo ich im
Moment daheim bin.
Dabei bringt mich die Reise dorthin, wo ich ebenfalls daheim
bin: in meine ursprüngliche Heimat. Dorthin, wo liebe Menschen sehnsüchtig auf
mein Kommen warten. Dorthin, wo ich Natur und Landschaft kenne, wo ich mit
täglichen Abläufen und Routine vertraut bin. Auch dorthin, wo meine
persönlichen Sachen sind: Möbel, Fotoalben, Bilder, Bücher, Hausrat,
Winterkleider und viele Erinnerungen.
Ich weiss nicht, was ich einpacken soll, obwohl ich genau
weiss, welches Klima mich dort erwartet. Ich bin Tage vor der Abreise
angespannt und reagiere gereizt auf alle möglichen Fragen: Wie lange bleibst
du? Was machst du dort? Weshalb gehst du? Wann kommst du wieder? Kommst du
bestimmt wieder?
Ich habe Bauchweh. Ich bin nervös. Ich muss Abschied von dem
Ort nehmen, wo ich lebe. Die Freude auf das Dort hat noch keine Chance. Wasser
abdrehen, Sicherungen abschalten und Fenster gut schliessen. Ein letzter
prüfender Blick: ob wohl alles noch so ist, wenn ich wieder komme?
Die Fahrt zum Flughafen ist kurz, das Warten auf den Abflug
umso länger. Der Blick aus dem an Höhe gewinnenden Flugzeug hinab auf die
Wüste, auf die chaotische Häuseransammlung mit Swimmingpools, märchenhaften
Hotelanlagen am tiefblauen Meer und richtungsgetrennten, zweispurigen Strassen
provoziert Fragen: was mache ich denn da? Weshalb lebe ich da? Was hält mich in
dieser unwirtlichen, unschönen Landschaft mit Menschen, die eine völlig andere
Kultur, Religion und Sprache ihr Eigen nennen? Meine Augen werden feucht, denn
trotz allem bindet mich so Vieles an meine Wahlheimat, die so anders ist. Sie
hat ein Eckchen in meinem Herzen erobert – oder nein: ich habe sie Stück für
Stück erobert, akzeptiert, angenommen und lieb gewonnen.
Viereinhalb Stunden Flug und eine Zugfahrt lang wandeln
meine Stimmung. Die Trauer über den Abschied wird von der Freude auf das Dort
abgelöst.
Ankommen
Zuhause – ein vielseitig anwendbarer Begriff geworden – ist
die Wiedersehensfreude riesig und wieder werden die Augen feucht. Die ersten
Tage dienen Akklimatisation und Anpassung, man hat sich vieles zu erzählen, danach
folgen Tage voller Aktivität und man stellt fest, dass alles so ist, wie es
immer war. Fast zumindest: da und dort steht ein Haus mehr oder weniger, wurde
ein Platz verschönert oder die Strassenführung verändert. Die Kinder sind
grösser geworden, die grauen Haare und Falten zahlreicher. Im Grossen und
Ganzen bleibt alles, wie es ist. Und ganz sachte - wie seltsam – erklingt wieder
der Drang, dorthin zurück zu kehren, wo man auch noch zuhause ist.
Ein Blick in die Augen der Lieben provoziert Fragen: Wie
kannst du ihnen das antun? Wie kannst du sie wieder so lange allein lassen,
sie, die dich lieb haben und vermissen? Der Geschmack ist bitter, der Kloss im
Hals lässt mich nicht frei atmen, das Herz ist schwer…
Und doch führen auch sie ihr eigenes Leben, verfolgen ihre
eigenen Ziele, verwirklichen ihre eigenen Wünsche und kämpfen mit ihren eigenen
Problemen. Trotzdem bleibt beim Abschied eine quälende Ungewissheit im Herzen –
sieht man sich auch wieder? Werden sie gesund bleiben? Der Abschied fällt jedes
Mal schwerer, obwohl auch er zur Routine geworden und schon x-Mal zelebriert
worden ist. Dank Internet schrumpfen die Distanzen und man hört sich öfter, schreibt
sich regelmässig – welche Erleichterung!
Und zurück
Zuerst vergeht die Zeit langsam und ich frage mich, was ich so
lange hier tun soll. Leider muss man ja das Datum des Rückflugs lange vorher
bestimmen. Doch plötzlich geht es viel zu schnell: ich hätte noch dies und
jenes wollen oder sollen oder müssen… Und ich erlebe wieder dieselben
Gemütsschwankungen wie vor der Abreise. Spätestens beim Flug über die Alpen
frage ich mich ernsthaft, weshalb ich diese wunderschöne Landschaft wieder
verlasse… Weshalb tausche ich Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung, Rechtsstaat,
Menschenrechte, Bekanntes und Vertrautes gegen Unsicherheit, Chaos, Korruption,
Unterdrückung und Fremdes? Sobald das Flugzeug aber landet und die salzige
Wüstenluft in meine Nase dringt, freue ich mich: ich bin wieder daheim. Anders,
aber auch daheim.
Daheim und daheim
„Ich habe zwei Zuhause“ meinte eine Freundin, als wir über
dieses Thema diskutierten. Sie gehört hierhin und dorthin, fühlt sich an beiden
Orten aufgehoben und wohl. Eine andere Bekannte sagte mir, dass sie vor der
Abreise jeweils „sehr nahe am Wasser gebaut hat“, sprich, schnell in Tränen
ausbricht und das während drei bis vier Wochen. So lange braucht sie, um sich
wieder einzuleben.
Bei mir geht es schneller. So, wie ich das Kofferpacken vor
mir herschiebe, schiebe ich auch das Auspacken vor mir her. Es quält mich, ich
weine, trauere und frage mich, weshalb ich mir das antue. Sobald aber die
Waschmaschine läuft und ich mich anschicke, einkaufen zu gehen, damit ich mir
zum Frühstück ein Müesli machen kann, und der Internetanschluss wieder aktiviert
ist, bin ich wieder daheim - obwohl ein Quäntchen Traurigkeit immer herumlungert.
Viele meiner Bekannten betrachten ihr Leben in der Fremde
als ihre Heimat – und vermissen trotzdem ihre ursprüngliche Heimat und besuchen
sie, wenn irgendwie möglich, wenigstens einmal pro Jahr.
Niemand kann diese innere Zerrissenheit nachempfinden, der
sie nicht selbst erlebt. Das Leben ist nicht einfacher und trotzdem bleibt man.
Jeder hat seine ganz persönlichen Gründe dafür; für die einen bleibt es fraglos
für immer so und für andere nur für ein paar Jahre. Dann kehren sie wieder
dorthin zurück, wo sie ursprünglich herkommen – und nicht mehr hundertprozentig
hinpassen. Ich werde auch irgendwann zurückkehren… um allerdings erneut
woanders hinzugehen. Innerlich zerrissen, eben.