Mit Gefühlen spielen
In den Tagen um den 30. Juni und 3. Juli – als Mursi abgesetzt wurde – sowie
anschliessend spielte die Armee gekonnt mit den Gefühlen der Ägypter: sie
warfen ägyptische Flaggen aus Helikoptern auf die Menschen hinab, zeichneten
die ägyptischen Nationalfarben mit dem Schweif von Kampfflugzeugen an den
Himmel und liessen keine Gelegenheit aus, sich als Retter der Nation
darzustellen. Die Herzen der Ägypter flogen ihrer Armee und dem derzeitigen
Armeechef El Sisi blindlings zu. Haben die Ägypter so rasch vergessen, welche
Rolle die Armee spielt? Als ich auf Facebook dieses emotionale Spiel seitens
der Armee ansprach, war die Reaktion: wir vertrauen unserer Armee, das ist seit
Jahrzehnten in unserem Instinkt.
Ich nenne es Manipulation der Massen und staune darüber,
dass Militärgerichte für Zivilisten, übermässige Gewalt, Folter und Korruption seitens
des Militärs stillschweigend ausgeblendet werden.
Die Armee ist die einzige Institution, die Ägypten aus der katastrophal
verfahrenen Situation befreien kann – das bezweifle ich nicht. Es ist auch
offensichtlich, dass sich die Muslimbrüder und ihre radikalen Freunde einerseits
mit Gewalt, Anschlägen und Bomben rächen und sich andererseits als Opfer
darstellen. Auch sie spielen mit den Gefühlen ihrer Landsleute und übrigens
auch mit ihren europäischen Partnern. Die Gewalt zu bekämpfen ist sicher Sache
der Armee und der Regierung. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist
allerdings zweifelhaft.
Bevor ich dazu aushole, möchte ich aber noch etwas
Besonderes bemerken. Trotz allem habe ich einen gewissen Respekt vor der ägyptischen
Armee: sie hat sich nicht dem Willen, dem Druck und den Drohungen des
Geldgebers USA gebeugt, sondern hat unabhängig gehandelt. Das könnte eine
Verschiebung der Machtverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten bedeuten. Ich
glaube, das wird interessant werden.
Willkür, Zensur und fehlende Rechtsstaatlichkeit
Zweifelhaft oder je länger je eindeutiger: Tausende von Muslimbrüdern wurden in
den vergangenen Wochen festgenommen. Gegen die Führer wurde inzwischen Anklage
wegen Aufruf zu Gewalt, Spionage, Landesverrat, Gefängnisausbrüchen und anderen
kriminellen Handlungen erhoben. Unter den Tausenden von Festgenommenen ist
nicht jeder ein Muslimbruder und nicht jeder Muslimbruder ist gewalttätig oder
gefährlich. Willkür.
Mehreren Fernsehstationen wurde verboten, weiterhin ihr
islamistisches Gedankengut zu verbreiten. Sie wurden abgeschaltet. Es gäbe
sicher andere Mittel, die Hetze der Islamisten zu Anschlägen gegen Christen,
ihre Kirchen und Geschäfte sowie gegen staatliche Einrichtungen zu unterbinden.
Mehrere Journalisten wurden bei ihrer Arbeit auf der Strasse getötet, andere
unter seltsamen Verdächtigungen festgenommen. Zensur und Willkür.
Das Notrecht wurde um zwei weitere Monate verlängert. Das
bedeutet, dass weiterhin jeder zu jederzeit und überall festgenommen werden
kann. Denunziation ist ausreichend. Die Ausgangsperre wurde jedoch verkürzt
(hier am Roten Meer galt sie sowieso nie). Willkür und fehlende Rechtsstaatlichkeit.
Gegen die Muslimbrüder wurde eine Hasswelle eingeleitet, die
sich zu einer wahren Lawine ausgebreitet hat. Männer mit Bart tun gut daran,
diesen abzunehmen. Ich erzählte einem Freund, dass ein Kopte mit Bart auf der
Strasse zusammen geschlagen wurde, in der Annahme, er sei ein Muslimbruder. Die
Reaktion meines Freundes – übrigens ebenfalls ein Kopte – schockierte mich:
aber es sei gut, wenn die Muslimbrüder zusammen geschlagen würden! Gibt es kein
anderes Mittel, um gegen eine verbrecherische und terrorisierende Organisation
vorzugehen? Mein Freund erkannte zerknirscht, in welche Falle er getappt war. Hunderttausende
von anderen leider nicht. Sie folgen blindlings der Propaganda von Militär und
dem Innenministerium.
Der Innenminister ist derselbe wie unter Mubarak. Die
Richter haben keinen Einzigen der Angeklagten von Mubarak und seinen Getreuen
verurteilt. Kein Polizist ist für die Tötung eines Zivilisten verurteilt
worden. Tausende von Aktivisten und willkürlich gefangen genommene Menschen
hocken ohne Anklage und Urteil in den Verliesen der Gefängnisse. Hunderte von
Menschen sind verschwunden und niemand weiss oder will preisgeben, wo sie sind
bzw. wie und wo sie umgekommen sind.
Nach dem Aufstand ist vor dem Aufstand
Die Regierung und die Armee versuchen entstehende Zweifel an ihrem
derzeitigen Tun zu zerstreuen, versprechen keine Rückkehr zum alten System wie
unter Mubarak. Doch viele Zeichen zeigen in genau jene Richtung. In den
vergangenen zwei Monaten hat sich einfach gar nichts verbessert, sondern nur
noch verschlechtert. Das einzig Positive, das ich erkennen kann, ist, dass
offenbar jemand wieder den Überblick über die staatlichen Finanzen hat, davon
etwas versteht und gewillt ist, diese in Ordnung zu bringen. Logisch, denn
darin sind die „Feloul“ (eben jene Machthaber aus Mubaraks Zeiten) sowie das
Militär stark.
Schon sind Stimmen zu hören: besser eine Militärdiktatur,
als die Muslimbrüder… El Sisi soll Präsident werden… Wir lieben unsere Armee… Ach,
wie kurzzeitig ist das Gedächtnis der Menschen! Und doch kann ich es verstehen:
die Menschen wollen endlich wieder essen, trinken, lachen, tanzen und ein
friedliches Leben führen.
Die Liebe zur Armee wird nicht ewig dauern, der nächste
Aufstand ist vorprogrammiert, wenn die Herren der Übergangsregierung und
Armeevertreter nicht bald klüger und überzeugender handeln. Das Gezerre um
Macht wird weiter gehen. Leider.