Das frage ich mich immer wieder: was hat der Aufstand
gebracht? Wofür sind fast 1‘000 Menschen gestorben? Wofür ist die Wirtschaft
ruiniert und sind Investoren zurückgeschreckt worden? Ägypten hat nichts von
dem erreicht, wofür es im Winter 2011 zu Hunderttausenden auf die Strassen
ging.
Oder doch?
Etwas hat sich ganz klar geändert. Wenn ich an meine ersten politischen
Gespräche vor vier Jahren mit Ägyptern zurück denke, dann erinnere ich mich vor
allem an eines: mein Gegenüber blickte vorsichtig um sich, flüsterte leise,
dass ich den Namen (Mubarak) nicht erwähnen dürfe, dass wir hier nicht reden
dürften oder wenn, dann nur sehr leise und vorsichtig und manchmal wurde ich
aufgefordert zu schweigen. Niemand wagte, offen Kritik auszusprechen, niemand
wagte, meine naiven Fragen ehrlich zu beantworten. Es waren Fragen von einer,
die in einem freien Land, mit freien Gedanken, mit einer gewissen Vorstellung
von Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenrechten aufgewachsen war. Aus meinen
Fragen sprang wohl pures Unverständnis. Weder in Bussen noch in Cafés hörte ich
je irgendjemanden über Politik reden – ok, ich verstand es damals wohl auch
nicht L.
Manchmal kam mir vor, die Ägypter spielten mir etwas vor
oder übertrieben. Mit der Zeit verstand ich aber, dass begründete Angst
dahinter war. Ich erfuhr, dass Menschen allein wegen einer Äusserung hinter
Gitter gebracht werden konnten und gefoltert wurden. Oder sogar noch wegen
weniger, nämlich, wenn jemand zum falschen Moment am falschen Ort war.
Es gab keine wirklich freien Medien und deshalb auch keine
öffentliche Kritik gegenüber der Diktatur. Bücher und Filme wurden zensuriert.
Natürlich gab es im Untergrund Aktivisten, gab es Blogger
und Versuche für Oppositionsmedien. Aber der Staat war stärker und zensurierte,
verbot, verurteilte, folterte.
Mir kamen die Leute apathisch vor. Jeder duckte sich,
schwieg, ging seines Weges. Ich erinnere mich, wie ein in der Schweiz
wohnhafter Ägypter seine Landsleute genau so beschrieb. Das war im Sommer 2010.
Heute redet jeder über Politik, sogar Taxifahrer und
Busfahrer; auch Verkäufer im Supermarkt oder in der Bäckerei fragen beinahe jeden
Kunden, was er zu den aktuellen Ereignissen meint. Auch ich als Ausländerin
werde gefragt. Die Leute sitzen bei Parlamentsdebatten und während den Wahlen
in den Cafés vor den Fernsehern wie sonst nur bei lokalen Fussballübertragungen.
Es gibt kritische Medien, es gibt oppositionelle Zeitungen.
Und es gibt natürlich Facebook und Twitter und Blogs. Sie wurden zu meinen
wichtigsten Informationsquellen.
Und noch etwas hat sich verändert: die Menschen hier haben
plötzlich realisiert, dass sie eine Stimme haben. Sie haben realisiert, dass
sie Macht haben, wenn sie sich zusammen tun. Sie haben gemerkt, dass sie das
verändern können, was über 30 Jahre lang unveränderlich schien. Ägypter sind
aufgewacht. Positiv, oder?
Aber eben, sie sind „erst grad“ aufgewacht. Sandmonkey
schrieb auf seinem Blog so treffend: Ägypter sind ungeduldig. Es ist als ob sie
in einem Fussballspiel gegen die weltbeste Mannschaft – z.B. Brasilien – in der
12. Minute ein Tor erzielt hätten. Und sie feiern ausgelassen und vergessen
dabei, dass ja noch 88 Minuten zu spielen sind.
Der Anfang ist gemacht, der Weg ist weit, besonders für ein
so ungeduldiges und temperamentvolles Volk wie die Ägypter.
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