Mittwoch, März 30, 2011

Kairo im März 2011

Zum dritten Mal packte ich den Wintermantel aus – jedes Mal hatte ich gemeint, ich würde ihn nicht mehr brauchen. Letztes Mal trug ich ihn zum abendlichen Einkauf in Hurghada, zusammen mit einer Wollmütze! Nicht im Dezember… nein: Anfang März. Hej, ich bin in Nordafrika – nicht am Nordpol!

Jetzt also musste der Wintermantel für die Fahrt im Bus nach Kairo herhalten und für die dortigen Abendtemperaturen. Ich war froh darüber - und habe mich trotzdem böse erkältet.

Kairo = Ägypten. Zumindest sagen die Ägypter das in ihrer Sprache so. Wenn sie von Kairo reden, sagen sie Ägypten und meinen die Stadt. Das Herz, die Lunge des Landes. Diese war wie immer: laut, geschäftig und dreckig. Ich habe mir ein Hotel im Stadtzentrum ausgesucht. Ein über hundertjähriger Bau, dessen Glanzzeiten leider ein paar Jahrzehnte zurück liegen. Trotzdem lassen Architektur und Anordnung der Zimmer noch erahnen, was es einst dargestellt haben mag. Wie schade. Doch das ist Ägypten: einstige Pracht und Schönheit sind Vergangenheit. Das Hotel ist in eine Strassenecke gebaut und der Eingang befindet sich auf der Rückseite. Welch Überraschung, als ich nach hinten gehe: rund um einen bepflanzten Platz gruppieren sich mehrstöckige Häuser, ein kleines Kaffee mit Schischa-rauchenden Männern zwängt sich in ein Gässchen. Der Strassenlärm drängt nur gedämpft um die Häuserecken zu der winzigen Oase.

Im Zimmer habe ich mich dann aber schon gefragt, ob ich bei dem Geräuschpegel überhaupt schlafen würde können. Ägypter sind abends und nachts besonders aktiv und auf Strassen und Trottoirs herrscht kurz vor Mitternacht ein heilloses Gedränge und geschäftiges Treiben. Die Revolution kam mir rettend entgegen: die Ausgangssperre ist noch immer von Mitternacht bis sechs Uhr morgens gültig. Gegen ein Uhr morgens wird es auch tatsächlich überraschend still und bis kurz vor Mittag bleibt dies so – mit Ausnahme der Gebetsaufrufe der Muezzin. An die habe ich mich aber schon seit Jahren gewohnt.

Am meisten war ich neugierig auf den Tahrir Platz. Zehn Minuten Fussmarsch trennten mich von dem weltberühmt gewordenen Platz. Ich war schon einmal dort, als ich das ägyptische Museum besuchte und früher, als ich vom Bahnhof Ramses nach Alexandria fuhr. Ein Alptraum von Platz, Verkehrsstaus, Gehupe und schwarzen Auspuffwolken. Lag es an der frühen Tagesstunde? Jedenfalls war der Verkehr flau und es war einfach, die Strassen in alle Richtungen zu überqueren. Da und dort verkaufen Ägypter Revolutions-Souvenirs. Mein Liebling ist ein Aufkleber in Grösse und Form eines Autoschildes mit der Aufschrift „25. Januar“. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, lächle ich – typisch Ägypter. Ausländische Touristen konnte ich während meines Aufenthaltes kaum entdecken. Aber viele Ägypter besuchen den Platz, machen Fotos und kaufen Erinnerungsstücke. Vor der kafkaesken „Mugaamma“ (einem Wahnsinnslabyrinth in einem Riesengebäude, wo fast die gesamte ägyptische Bürokratie untergebracht ist und täglich zehntausende von Ägyptern ein- und ausgehen) erstand ich ein ägyptisches Fähnchen, das ich an mein Rennvelo befestigen werde. Krass empfand ich den Anblick vom lieblichen Rosa des ägyptischen Museums und dem vom Feuer geschwärzten Hauptsitz der NDP. Später habe ich das Gebäude auch von der Rückseite gesehen. Ein paar Fotos sind weiter unten zu sehen.

Im Zentrum Kairos fällt auf, dass an vielen Stellen die Pflastersteine der Gehsteige fehlen und der Fussgänger über Sand gehen muss. Die Pflastersteine wurden als Wurfgeschosse gegen Demonstranten verwendet…

Vieles ist noch nicht so, wie es sein sollte. Mein Begleiter machte mich jedoch auf etwas sehr wichtiges aufmerksam: er konnte mich überall hin begleiten. Wir gingen ins koptische Kairo, besuchten koptische und katholische Kirchen, eine Synagoge und Moscheen. Kein Polizist hielt uns an, niemand fragte meinen Begleiter aus, niemand verlangte einen Ausweis. Vor der Revolution wäre dies unmöglich gewesen und der Zutritt zu vielen Stätten wäre ihm kategorisch verwehrt gewesen. Oft genug habe ich erlebt oder beobachtet, wie Ägypter – egal ob allein oder in (ausländischer) Begleitung – sich ausweisen und Rechenschaft über ihre Vorhaben geben mussten. Nur, um dann abgewiesen zu werden. Schikane. Arroganz pur. Das ist Vergangenheit.

Ich besuchte altehrwürdige, berühmte Kaffees und eine von Schweizern gegründete Buchhandlung. Ich trank frisch gepressten Orangensaft in einer Seitengasse, wo Früchte und Gemüse angeboten werden und gleichzeitig mit dem Presslufthammer die Strasse aufgerissen wird. Weder die Händler noch die Arbeiter liessen sich von ihrem Treiben irritieren – im Gegenteil: man nahm gegenseitig so gut wie möglich Rücksicht.

Ich liess das Treiben von fliegenden Händlern und Schuhputzern auf mich wirken, ich beobachtete junge Paare, wie sie Hand in Hand durch die Strassen schlenderten… vor nicht allzu langer Zeit war dies nur in Hurghada und Sharm möglich.

Zu meinem Erstaunen empfand ich die Stadt diesmal nicht mehr so beängstigend und bedrohlich. Ich habe schon ähnliche Megacities besucht, alleine. Liegt es daran, dass ich den Lebensstil und die Mentalität besser verstehe? Ich weiss es nicht. Jedenfalls kam mir Kairo bei diesem Besuch nicht mehr so fremd und riesig vor – sondern nur als eine aus allen Nähten platzende, ständig am Abgrund fuchtelnde und kurz vor dem Absturz sich festklammernde Ansammlung von 20 Millionen Menschen, die es aus nicht mehr logisch nachvollziehbaren Gründen täglich schafft, den Infarkt einen weiteren Tag hinaus zu schieben.

Vom Hotel zur Busstation (ein Fussmarsch von 10 Minuten) benötigte mein Taxi sage und schreibe eine halbe Stunde! Wäre Kairo nur nicht gar so laut und verschmutzt – ich käme öfters. Aber das werde ich sowieso tun – ausser im Sommer.


Tahrir Platz

Türe der "Hängenden Kirche"


Mitten in Kairo

einstiger Sitz der NDP
auch mitten in Kairo

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