Anders kann man das nicht mehr nennen: was die vorläufigen
Wahlergebnisse seit gestern Mitternacht zeigen, ist wahrlich ein Schock.
Nach Auszählung der Stimmen von 25 der 27 Gouvernements hat Mohamed
Mursi angeblich die höchste Zahl an Wählerstimmen erhalten, gefolgt von Ahmed Shafiq.
Wie ist das nur möglich?
Mursi ist der „Ersatzreifen“ der Muslimbrüder – der Ausdruck
stammt von den Ägyptern – und ist erst vor fünf Wochen ins Kandidatenrennen
eingestiegen. Die Propagandamaschinerie der MB lief perfekt geölt auf
Hochtouren: Stimmenkauf für 50 Pfund und Lebensmittelpakete für Bedürftige
inklusive.
Trotzdem: viele Ägypter sagten, sie seien enttäuscht von der
Leistung der MBs im Parlament und würden denen nicht nochmals eine Chance geben.
Und dennoch hat ihr Kandidat den höchsten Stimmenanteil erhalten?
Und es kommt noch schlimmer: Ahmed Shafiq ist angeblich der
Zweitplatzierte. Das bedeutet, dass die beiden Mitte Juni in einer Stichwahl gegeneinander
antreten werden. Er ist ein „Felul“, ein Vertreter des Regimes, ebenfalls erst
vor kurzem ins Rennen gestiegen, wohlwissend, dass er auf bewährte
Unterstützung zurückgreifen konnte.
Was für eine Auswahl ist das: einer der die Scharia
einführen möchte, dessen Partei aber inzwischen für ihre politische Unfähigkeit
und ihre Lügen bekannt ist, gegen einen, der das alte Regime verkörpert? Armes
Ägypten! Was für ein Schock!
Überraschend erfolgreich hat sich Hamdeen Sabbahi gehalten,
der die drittmeisten Stimmen erhielt. Er wurde von den Intellektuellen und von
der Mittelschicht gewählt. Abgeschlagen sind Abu El Fatuh, der abtrünnige
Muslimbruder, der auch die Salafisten hinter sich scharen konnte, und Amr Moussa,
der Staatsmann und ehemalige Präsident der Arabischen Liga.
Komisches Ergebnis, wenn ich es mir überlege. Schlussendlich
kommt es aber doch so heraus, wie ich es schon lange vermute oder befürchte:
Shafiq (oder soll ich gleich „SCAF“ sagen?) wird gewinnen. Es kann nicht anders
sein. Ich nannte den Namen in meinen vorherigen Blogs nicht, wollte nicht „besserwisserisch“
sein. Aber wenn ich den Schock etwas wegschiebe, sehe ich klarer: es sieht aus,
wie eine schallende Ohrfeige, wie eine Rache des SCAF an das aufmüpfige Volk
Ägyptens. Es sieht aus wie eine böse Strafe: nun seht ihr, was euch eure
Revolution gebracht hat: entweder ein Religionsstaat oder aber wir machen
weiter wie bisher. Ägypten schafft offenbar das Unfassbare: es entfacht eine
Revolution, jagt einen Diktator davon, bezahlt dafür mit Blut und einem
Wirtschaftszusammenbruch, um kurze Zeit später einen Vertreter derselben
Diktatur zum Präsidenten zu erkoren.
Aktivisten, Revolutionäre und Liberale wissen nun auch, dass
sie die vergangenen 15 Monate nicht gut genug genützt haben. Sie werden daraus
lernen.
Daraus lernen werden auch jene, die die Macht haben und
nicht verlieren wollen. Was für ein Desaster. Was für ein weiter weg hat
Ägypten noch zu gehen, um wahre Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie zu
erreichen.
Der Schock sitzt tief, nicht so sehr bei mir, sondern bei
den Leuten um mich herum.
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