Heiss ist es heute. Sehr heiss. Schon um neun Uhr morgens
zeigte mein Thermometer über 33° C im Schatten. Es soll noch heisser werden,
auch im übertragenen Sinne.
Denn heute ist der erste von zwei Wahltagen, an denen die
Ägypter einen Präsidenten wählen, ohne im Voraus zu wissen, wer es sein wird. Die
Mehrheit weiss aber nicht, wen sie wählen soll. Ich fragte einige Bekannte.
S. fährt nach Alexandria, denn er ist dort registriert und
muss somit dort wählen. Er werde sich während der langen Autofahrt überlegen,
für welchen Kandidaten er die Stimme abgeben soll. Er hat um die neun Stunden
Zeit.
M.R. ist nach Ismaijlia (das liegt am Suezkanal) gefahren.
Er ist ein sehr konservativer, traditionell veranlagter und deshalb sehr religiöser
Mensch. Wählt er einen Muslim? Nein, auf keinen Fall: mit seinen Händen
beschreibt er die langen Bärte der Salfisten und Muslimbrüder und meint dazu, dass
sie trotz ihren langen Bärten alle Lügner seien. Was aussen steht, ist nicht
unbedingt auch drinnen.
Unser Wachmann M., ein älterer, höflicher Herr, der gerne
mit mir ein Schwätzchen hält, hat sich für Amr Moussa entschieden. Nach langem
Überlegen. Er bleibt dem Altbewährten treu. Und hofft.
M.A., ein junger, überraschend aufgeschlossener Mann,
tendiert zu Hamdi Sabbahi, einem Nationalisten und Nasseristen. Sabbahi hat in
den letzten Tagen bei den Umfragen grossen Zuwachs erhalten. Er steht wohl für
das kleinste aller Übel. Aber M.A. kann auch nicht in sein Heimat-Governorat
fahren – also keine Wahl.
Ein politisch sehr versierter, radikaler, gebildeter junger
Mann, S.K., wählt überhaupt nicht. Er ist von keinem der Kandidaten bzw. deren
Programmen überzeugt.
„Und wen wählst du morgen,“ fragte ich gestern Abend einen
Freund. „Ich darf nicht. Ich bin in Alexandria registriert und habe keine
Möglichkeit, dorthin zu fahren.“ Er regt sich darüber auf, dass jene Ägypter,
die im Ausland leben, wählen dürfen; er aber, und mit ihm Hunderttausende, darf
nicht wählen, obwohl er in Ägypten lebt. Wie ungerecht!
Doch nicht nur die Lebenden sind auf den Wahllisten, sondern
auch Tote, Soldaten und Polizisten, die eigentlich nicht wählen dürften. Warum
sind sie denn auf den Listen? Sie unterstützen jene Kandidaten, die vorbestimmt
sind oder sein sollen oder müssen…
Wenn die Islamisten verlieren, prophezeit S.K., machen die
Ärger und gehen wieder auf den Tahrirplatz. Und wie soll der Militärrat sich
dann verhalten? Gewalt? Bei der derzeit herrschenden Waffendichte in Ägypten und
der Gewaltbereitschaft unter den Islamisten birgt das eine gewisse Explosionsgefahr.
Jetzt ist Mittag und im Schatten hat es 39° C. Ein heisser
Tag. Die nächsten Tage soll es noch heisser werden – in jedem Sinne.
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