Ich wache auf, bevor mein Wecker läutet. Ich mag gar nicht aufstehen. Müdigkeit und viele persönlichen Ereignisse neben den Entwicklungen hier machen es mir schwer. Ich raffe mich auf und schalte den Fernseher ein. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Stunden vor dem TV verbracht.
Nein, immer noch nicht. Al Jazeera, Tag Nummer sieben, morgens um neun Uhr, bringt keine guten Nachrichten, d.h. Mubarak ist weiterhin stur. Die Polizei kehrt zurück. Die Demonstrationen nehmen zu.
Ich frühstücke und hole meinen ersten Schüler an der Hauptstrasse ab. Während ich warte, erreicht mich ein Anruf einer Ägypterin, die gestern Kairo verlassen hat und nun in der Schweiz ist. Sie fragt, ob sie jemanden in Liechtenstein über meinen Aufenthalt unterrichten soll. Ich bedanke mich und teile ihr mit, dass ich mit meiner Mutter in Kontakt bin. Sie reicht ihr Telefon ihrer Tochter, die zu meiner riesigen Überraschung Liechtensteiner Dialekt spricht. Sie wird mich beim zuständigen Amt melden, sodass ich im Falle einer Evakuation informiert würde.
Diese Fürsorge berührt mich. Mein Beziehungsnetz funktioniert viel besser, als ich es eingeschätzt habe. Immer wieder werde ich in diesen Tagen von Freunden und Bekannten, Ägyptern und Ausländern, positiv überrascht. Ich bin in einem fremden Land, einer fremden Kultur, erlebe einen Volksaufstand mit, der Geschichte schreibt – und bin nicht alleine. Nur von meinen Freunden zu Hause höre ich nichts, ein Anruf ist wohl zu teuer. Internet und sms sind noch immer blockiert.
Nach dem Unterricht eile ich zum Flughafen, weil ein Bekannter her fliegt und mir einiges von zu Hause mitbringt. Er wird vier Wochen hier bleiben! Der Flughafen Hurghada ist leer: keine wartenden Busse und Taxis, keine Menschenmengen, weder beim Eingang, noch beim Ausgang.
Danach fahre ich erstmals seit ich umgezogen bin und erstmals seit dem grossen Protesttag am Freitag, durchs Zentrum Hurghadas und nach Dahar, um einzukaufen. Alles ist normal, nur die Schmuckgeschäfte haben die Rollläden herab gelassen. Auch Vodafone und die Banken sind geschlossen. Keine Spur von Plünderungen. Eine Freundin bestätigt die Aussagen vom Vorabend von anderen Bekannten: alles Gerüchte, keine Einbrüche, keine Plünderungen in Hurghada. Die Präsenz der Polizei fällt auf: sie ist wieder überall, auch die Armee ist noch da. Der Früchte- und Gemüsemarkt ist laut und geschäftig wie immer, die Supermärkte aufgefüllt.
Ich kaufe trotzdem mehr als üblich ein, stocke meinen Vorrat auf, falls es doch ändern sollte. Ich bin aber nach wie vor überzeugt, dass es sehr rasch zu einer klaren Änderung der Lage kommen muss, denn Ägypten ist erstens zu wichtig für den Westen und zweitens kann es sich das Land nicht leisten, dass der Tourismus und damit eine der wichtigsten Einnahmequellen völlig zusammen bricht. Die Finanzwelt hat heute weltweit sehr negativ reagiert. Mit meiner Zuversicht stehe ich nicht alleine da.
Mein nächster Termin ist bei einem achtjährigen Jungen, dessen Eltern mit einer Dahabeya auf dem Nil und einem Tauchboot in Sudan hundert Prozent vom Tourismus leben. (Wie alle hier am Roten Meer). Auch sie sind überzeugt, dass in den nächsten Tagen das Ersehnte eintreffen wird. Noch ist es aber nicht so weit: heute hat Mubarak das Kabinett umgebildet – was die Demonstranten überhaupt nicht beeindruckt hat.
Doch nicht alle können positiv denken: viele Bekannte, die sich hier eine Existenz aufgebaut haben, sind niedergeschlagen. Niemand weiss im Moment, wie es weiter geht, ob wir vielleicht in wenigen Tagen ins Flugzeug steigen müssen oder nicht, ob es bald wieder möglich ist, den Tourismusbetrieb fortzuführen, oder nicht. Wenn ich gefragt werde, wie es mir geht, kann ich gar nicht klar Auskunft geben. Zu viele Gefühle und Gedanken bewegen mich. Ich habe noch nie eine Revolution erlebt, alleine diese Tatsache berührt mich zutiefst. Meine Erkenntnis, dass ich Vorahnungen für Ereignisse habe, diese aber jeweils noch nicht klar einordnen kann, beschäftigt mich sehr. Dazu kommen noch persönliche Geschehnisse. Meine Umzugsschachteln sind fast leer, ich gebe mir Mühe, alles unterzubringen, jedem Ding seinen Platz zu geben. Die Wohnung ist sehr schön. Ich könnte mich hier wohl fühlen, wenn … Es gibt nur eines: abwarten.
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