Mit noch stärkerem Kopfweh wache ich nach wenig Stunden Schlaf auf. Noch bevor ich ins Bad gehe, schalte ich Al Jazeera ein. Nein, Mubarak ist nicht abgetaucht und er ist auch noch nicht zurück getreten.
Ich gehe ins Bad und richte mir anschliessend lustlos ein kleines Frühstück. Ägypten war wieder trotz Ausgangssperre die ganze Nacht auf den Beinen. Es hatte weitere Plünderungen gegeben. Nun sind es nicht mehr Zehntausende, sondern Hunderttausende. Ich bin stolz auf diese Menschen, ich fühle mit ihnen.
Ich muss mich beeilen, heute ist mein erster Arbeitstag nach dem Wohnungswechsel: fünf Unterrichtsstunden sind geplant. Meine erste Kundin wohnt nur wenige Häuser von mir entfernt. Da sie keine Türglocke hat, rufe ich sie an, um zu melden, dass ich vor der Türe stehe. Doch die nigerianische Hausangestellte öffnet nicht, stattdessen ruft mir Wala zurück. Sie entschuldigt sich… sie sei noch um Mitternacht geflohen nachdem sie von Einbrüchen in der Nachbarschaft gehört hatte.
Tja, was soll ich da sagen? Ich bin ja auch dageblieben, alleine. Müde gehe ich zurück, ziehe mich um und sitze aufs Rennvelo. Normalerweise tut es mir gut. Ich fahre Richtung Hurghada und sehe statt der üblicherweise allseits präsenten Polizei Panzerwagen und Soldaten. Der Verkehr ist stark, wie immer. Weiter fahre ich hinaus in die Wüste, zuerst Richtung Innere Ringstrasse und überlege mir, ob ich auf die Äussere Ringstrasse fahren soll. Häufiger als sonst winken mir die Ägypter aus dem Auto zu, hupen, wenn sie an mir vorbei fahren. Ich winke zurück, was ich sonst eher selten mache. Ich freue mich für sie, ich freue mich, dass ich mich ihnen zeige. Die äussere Ringstrasse ist wie immer: wenig Verkehr, keine besonderen Vorkommnisse. Der Erste Hilfe Posten ist verwaist, nur der Hund ist noch dort. Unterwegs erreicht mich ein Anruf von meiner Mutter und ich versuche, sie zu beruhigen, erzähle, was hier läuft.
Zuhause schalte ich natürlich als erstes wieder den Fernseher ein. Amerika macht mehr Druck, aber noch immer zu wenig. Welche Enttäuschung. Ebenso die EU. Unbeirrt fordern die Ägypter weiter den Rücktritt Mubaraks, Reformen und Demokratie. Sie haben keinen Führer und sind trotzdem geeint, unabhängig von Religion, Alter, Herkunft, finanziellen Verhältnissen. Ungeachtet der Opfer. Sie haben nichts mehr zu verlieren und zurück können und wollen sie nicht mehr. Ich bin tief bewegt, manchmal überwältigt.
Die Mutter einer Schülerin ruft mich an, sie habe Angst, ihre Tochter mit dem Auto herzubringen. Am helllichten Tag! Die Deutsche Schule bleibt die ganze Woche geschlossen. Sie erzählt, dass in ihrem Compound und im Supermarkt gegenüber weitere Sicherheitsleute engagiert wurden. Sie berichtet, wo überall eingebrochen worden war. Ich empfehle ihr, etwas spazieren zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen – sie getraut sich nicht. Wenn die wüsste, dass ich zwei Stunden auf dem Velo war! Ich sitze alleine in meinem Viertel, hier ist keine Security, keine Polizei, nicht mal die Doormen sind zu sehen. Eine Stunde später meldet sie sich nochmals und teilt mir mit, dass die Bekannte, die morgen im gleichen Flugzeug wie ein Bekannter von mir von München kommen soll, ihren Flug annulliert hat.
Auch mein nächster und mein übernächster Schüler kommen nicht. Den ersten erreiche ich nicht – der zweite meldet sich nicht.
Ob dieser erste „Arbeitstag“ ein Vorgeschmack auf die kommenden Tage ist?
Ich räume weiter meine Schachteln aus. Es fällt mir schwer. Wie lange würde ich denn hier bleiben? Ein paar Tage? Ein paar Wochen? Oder länger? Ich melde mich beim schweizerischen Konsulat in Kairo und hinterlege Name und Telefonnummer. Sie geben momentan keine Empfehlungen für die Region Rotes Meer ab, denn hier sei es ruhig.
Später telefoniere ich mit einer schweizerischen Freundin. Sie erzählt, dass es vereinzelte Schäden im Zentrum Hurghadas gegeben habe und viele Geschäfte geschlossen seien. Auch die Banken hätten die ganze Woche geschlossen. Da das Internet nicht funktioniere, können auch die Tauchbasen nur noch beschränkt arbeiten.
Das Fernsehen zeigt Bilder, wonach Helikopter und Kampfflugzeuge im Tiefflug über die Demonstranten in Kairo fliegen. Angst machen? Angeblich taucht auch wieder die Polizei auf, Gefängnisinsassen werden wieder eingefangen. Die Plünderungen scheinen nachzulassen. Mubarak wechselt die Strategie täglich. Aber er zeigt sich uneinsichtig, die Proteste gehen weiter.
Meine schwedische Freundin ruft mich mit Tränen erstickter Stimme an: ihr Arbeitgeber hat sie vor die Wahl gestellt, morgen nach Hause zu fliegen oder nicht. Alle Touristen aus Skandinavien werden evakuiert. Sie bleibt hier, sie weiss nicht, was sie zu Hause soll.
Ich rede mit einer Freundin in Alexandria. Es geht ihr gut, sie und ihre Tochter sind in der Wohnung, ihr Mann und ihr Sohn sind auf der Strasse, Bürgerwehr.
Mein nicht erreichbarer Schüler meldet sich auch noch. Angeblich seien die Schäden in Hurghada nicht so schlimm, aber die Telefonverbindung ist nicht gut und ich verstehe nicht alles, was er sagt. Er meint aber, dass er morgen zum Unterricht kommen werde.
Mittlerweile vereinigt sich die Opposition und El Baradei ist bereit, die Führung auf dem Weg zu einer Übergangsregierung zu übernehmen.
Mit einem weiteren ägyptischen Freund telefoniere ich. Er malt pechschwarz für die nächsten Monate. Ich teile seine Meinung nicht. Ich kann nicht glauben, dass das Regime noch lange durchhält, denn der Druck des Volkes ist riesig. Was zum letzten Schritt fehlt, ist das Wort aus den USA. Doch das lässt auf sich warten.
Wieder gehe ich mit dem Gedanken schlafen, dass Mubarak heute Nacht nachgibt.
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