Dienstag, August 10, 2010

Der alte Mann und sein Land

Die Wände sind blau gestrichen, blau, wie die Farbe des Meeres vier Meter unter der Wasseroberfläche an einem klaren, sonnigen Tag. Bunte metallene Fisch- und farbige Korallenattrappen sind daran befestigt. Von der Decke hängen grosse, klobige Ventilatoren, die einen unangenehmen Luftzug verursachen. Der Raum ist hoch, eckige blau-weiss gestricheneTragpfeiler stützen die Decke und verbergen die Sicht auf den in einer Ecke viel zu hoch über den Tischen befestigten Fernseher. Unvermeidlich dröhnt daraus wahlweise arabische Popmusik oder die Übertragung eines sehr wichtigen Fussballspiels; manchmal auch zitiert ein Vorbeter aus dem Koran. Zehn rechteckige gusseiserne Tische mit weissen Tischplatten stehen im Raum, die gusseisernen Stühle mit den verschmutzen Sitzkissen hastig zurecht gerückt. Auf den sauberen Tischen steht je ein Aschenbecher, eine Schachtel Papiertücher, Salz und Pfeffer, Zahnstocher.

Im hinteren Teil des Raumes, links, steht ein grosser Tisch. Darauf liegt eine grosse Auswahl an frischen Fischen und Krabben, sorgfältig in Eis eingebettet, und wartet darauf, vom Gast erwählt und vom Koch zubereitet zu werden. Der Eingang zur Küche befindet sich neben den Toiletten. Das Personal hat aus der Küche direkten Durchblick zu Waschbecken und Spiegel, welches sich männliche und weibliche Besucher gleichsam teilen. Wenigstens ist der Blick in die separaten Toiletten verwehrt.

Der Raum strahlt den Charme eines zu gross geratenen und seit Jahren nicht mehr untergetauchten U-Bootes aus. Die runden Bullaugen zur Strasse hinaus unterstreichen den Eindruck noch. Es ist unmöglich, sich in diesem Fischrestaurant auch nur halbwegs wohl zu fühlen. Ein Rätsel, wie jemand auf die Idee zu solch einer Inneneinrichtung kommen kann!

Trotzdem: das Restaurant ist immer sehr gut frequentiert. Die Qualität der Fischspeisen ist herausragend, der Preis klein. Gerne kommen ganze Familienclans hierher, am liebsten ägyptische und russische. Besonders gut läuft auch das Take-away-business.


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Zwei Kellner tragen mit ausdrucksloser Miene alle Köstlichkeiten auf, die sie vor einer halben Stunde ausgewählt hatten. Der Tisch wird vollständig bedeckt mit Körbchen voller grosser Brotfladen und vielen Tellerchen und Schälchen: Tahina, ein Püree aus Sesam, Baba ghanoug, Püree aus Auberginen mit viel Knoblauch und Sesam, sauer eingelegtes Gemüse, schmackhaftem, braunem Reis, orientalischem grünem Salat mit Tomaten, Karotten und viel Zwiebeln, gegrilltem Fisch und gegrillten Riesenkrabben, kräftig gewürzt mit viel Paprika und Zwiebeln.

 „Stört es Dich, wenn ich meinen Fisch mit den Fingern esse“, fragt Salah höflichkeitshalber, während seine Finger schon die Haut des gebratenen Fischs ablösen. Die Frau ihm gegenüber schüttelt verneinend den Kopf. Natürlich stört es sie – es ist ihr ein Graus. „Ich bin es so gewohnt, in Qatar haben wir immer so gegessen.“ Sie hingegen hantiert mit Messer und Gabel – so hat sie immer gegessen.

Salah isst keinen Reis; er meint, es sei gesünder, abends nur Fisch und Brot zu essen. Er ist wortkarg, schiebt abgelöste Fischstückchen in den Mund, tunkt Tahina und Baba ghanoug mit einem Stück Brot auf, wie er es seit seiner Kindheit gewohnt ist. Im Orient wird gegessen, nicht geredet, und so widmet sich Salah vorerst voller Hingabe den vor sich ausgebreiteten Köstlichkeiten. Es ist sein Geburtstag.

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Seine Gedanken schweifen zurück, zu vergangenen Geburtstagen, mit Freunden im Ausland, mit der Familie daheim in Alexandria. Heute wurde er 62 und er wollte niemanden sehen, ausser dieser Ausländerin da. Er hat ihr gesagt, dass er hier niemanden kenne, was zwar nicht ganz stimmt, aber er hatte keine Lust, mit seinem Neffen Amr und dessen Familie zusammen zu sein. In letzter Zeit hatten sich ihre Diskussionen zu handfesten Meinungsverschiedenheiten zugespitzt. Einmal ein paar Stunden nicht daran denken müssen! Aber es fällt ihm schwer, er ist bedrückt, kann nicht glücklich sein.

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Über seinem verrunzelten, von der Sonne gegerbten Gesicht wuchert ein dicker Teppich von weissen lockigen Haaren. Heute hat er sie gebändigt, gekämmt und für einmal von der obligaten Baseball-Mütze befreit. Auf seiner breiten Nase wachsen Haare, über seinen kleinen glänzenden Augen stehen buschige schwarze Augenbrauen, die beim Reden munter auf und ab hüpfen. Er hat sich sogar besser angezogen. So gut es ein niemals verheirateter zweiundsechzigjähriger Mann halt kann, der kaum auf sein Äusseres geachtet hat. Ihm waren seine Bücher und seine Musik wichtiger. Er sieht alt aus, nach europäischem Massstab eher achtzig als sechzig Jahre alt.


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Fünfundzwanzig Jahre lang lebte er in Qatar. Er hatte eine exzellente Anstellung beim Ministerium für Kommunikation, reiste häufig ins Ausland, kannte viele wichtige Persönlichkeiten. Er war in beinahe jedem Land der Welt, zwar nur kurz, aber er hat vieles gesehen. Und in Qatar liess sich gut leben. Er hatte Geld, er hatte viele Freunde und sie feierten gemeinsame Feste. Es waren ausgelassene Feiern, mit Alkohol, Frauen und Musik. Wenn er davon erzählt, leuchten seine kleinen braunen Augen vergnügt unter den buschigen Brauen hervor. Seine Freunde und deren Familien ersetzten seine leibliche Familie. Mit ihnen wurde nicht nur gefeiert, sondern auch klassische Musik gehört und über Literatur diskutiert. In seiner Wohnung standen überall Bücher. Auch jetzt noch liest er die ganze Nacht hindurch, bevor er sich bei Tagesanbruch für einige Stunden zum Schlafen hinlegt.

Doch in diesem Land hier, seinem Heimatland, gibt es niemanden, mit dem er über Literatur, über die grossen Denker und Schriftsteller diskutieren kann. Alle scheinen sich dem Fussball und dem schnellen Geld verdingt zu haben. Kultur, Allgemeinbildung, Kindererziehung, langfristiges Denken, soziale Verantwortung, Respekt vor Mensch und Umwelt sind während den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen. Das war einst anders. Angewidert schüttelt er die tristen Gedanken von sich.

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Die Ausländerin da ist eine Ausnahme. Mit ihr kann er über all dies reden, sie versteht ihn.

„Weisst du, alle drei bis fünf Jahre bin ich heim gekommen, nach Ägypten. Ich wollte meine Familie sehen, meine Freunde. Und ich wollte auch sehen, was aus meinem Land wird. Doch was ich da sah, machte mich jedes Mal trauriger.

Kannst Du dir vorstellen, dass Kairo einst die sauberste Stadt der Welt war?“ eindringlich blicken seine kleinen Äuglein aus dem zerknitterten Gesicht über den Tisch zu ihr. Kairo? Sie sieht in Gedanken diesen Riesenmoloch, mit chronisch verstopften Strassen, mit Menschenmassen, die sich durch die viel zu engen lärmigen Gassen drängen, dem Smog, der in den Sommermonaten wie eine gelblichgraue Giftglocke über dem Herzen Ägyptens liegt? Wo sich täglich Fussgänger, Taxifahrer, Buschauffeure und Privatwagen zum Überlebenskampf rüsten? Wo extreme Armut und immenser Reichtum aufeinander prallen? Wo ganze Quartiere einstürzen und Menschen bei lebendigem Leibe begraben? Wo Abfallberge zum Himmel stinken und sich sowohl Menschen als auch Ratten daran gütlich tun?

Nein, die Vorstellungskraft reicht dazu nicht aus. Und doch… sie hat Fotos und Filmaufnahmen gesehen, die dies belegen. Ägypten war im Nahen Osten politisch und gesellschaftlich führend, Kairo und Alexandria standen den grossen europäischen Städten wie London und Paris in nichts nach. Die Schönen, Reichen und Mächtigen trafen sich hier wie dort.

„Stell dir vor, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Autofahrer gebüsst, wenn sie nicht anhielten, um einen Fussgänger über die Strasse zu lassen!“ Nein – in Gedanken sieht sie, wie Fussgänger in Kairo wagemutig versuchen, eine mehrspurige Strasse zu überqueren. Nicht nur dort: überall in Ägypten grenzt es an Selbstmord, sich zwischen die rasenden Fahrzeuge zu werfen. Es ist ihr ein Rätsel, wie die sonst so höflichen Ägypter hinter einem Lenkrad plötzlich zu potentiellen Mördern werden können. Da gibt es weder für Kinder, weder für Frauen mit Kinderwagen, noch für alte, gehbehinderte Menschen Rücksicht… Einzig das Recht des Stärkeren gilt – und das ist hier der motorisierte Verkehr.


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Salah entfernt die Gräten und verschlingt mittlerweile seinen zweiten Fisch, immer noch mit den Fingern, noch immer ohne Reis. Seine Begleiterin wendet den Blick von ihm ab – diese Art Fisch zu essen ist doch etwas ungewohnt für sie. Ohne ihn anzusehen, hört sie ihm weiter zu. Sie spürt, dass er unendlich traurig ist über das, was aus seiner Heimat geworden ist. Oder ist es sogar Verbitterung?

„Früher verschleierte sich niemand hier, die Frauen trugen Miniröcke und Stöckelschuhe, Männer und Frauen gingen gemeinsam aus, man konnte überall Tanzen und Alkohol trinken! Wir lebten! Wir liebten das Leben! Diese Entwicklung der letzten Jahre ist nicht gut. Das ist nicht mehr Ägypten!“

Sie sieht ihn nachdenklich an und fragt, was sie schon unzählige Male in diesem Land gefragt hat… sich einfach nicht verkneifen kann, immer wieder bohrt… Was es seiner Meinung nach denn brauche, um den Absturz aufzufangen? Das Ruder herum zu reissen? Es wird doch Veränderungen geben in den nächsten Jahren? Ganz bestimmt, denn das Regime kann nicht mehr lange weiter machen. Bald gibt es Wahlen, es hat sich um eine bekannte Persönlichkeit eine demokratische Bewegung gebildet. Was würde er denn ändern, wenn er könnte? Gespannt wartet sie auf seine Antwort.

Salah schiebt seine Teller von sich, wischt sich Hände und Mund mit den Papiertüchern ab. Langsam lehnt er sich zurück und sieht sie fest an.

Sie hat ihn unterschätzt, seine Resignation ist umfassend: „Sie haben zu viel zerstört. Es würde Jahrzehnte dauern… viel zu lange.

Zwei Generationen! Zwei Generationen kennen nichts anderes als dieses Regime. Stell dir nur vor: jeder unter dreissigjährige Ägypter – das ist die Hälfte der Bevölkerung! - kennt nichts anderes, als was wir heute sehen: keine Bildung, keine Forschung, keine Demokratie, keine Freiheit, keine soziale Verantwortung, keine Eigeninitiative, keine Hygiene! Nur Korruption, Egoismus, Armut, Unwissenheit, Schmutz, Lärm und überall Polizei. Wie soll das ein neuer Präsident oder eine neue Regierung in wenigen Jahren korrigieren? Unmöglich, niemals! Ägypten ist kaputt. Für die Menschen zählt nur noch Geld, Geld, Geld und Fussball. Und wer kann, flieht ins Ausland! Sie interessieren sich nicht für Literatur, für Musik, für Politik, nicht für ein freiheitliches, selbstbestimmtes Leben. Sie haben keine Perspektive, keine Zukunft! Sie wollen sich nicht weiterbilden, sie sind träge, faul und bequem. Schau doch: wie fett alle sind. Sie wollen nur fernsehen und den ganzen Tag Chips und Kerne essen. Schau doch, wie dreckig es bei uns ist: sogar tagsüber hat es Ratten. Wenn ich dem achtjährigen Sohn meines Neffen etwas beibringen will, kann er sich nicht mal fünf Minuten konzentrieren! Er läuft wie ein alter Mann, ist übergewichtig und isst ständig. Ich habe es versucht, aber ich habe aufgegeben.“

Salah schnauft schwer. Er hat sich in Rage geredet. Er hat sich sein Rentnerdasein in seiner Heimat anders vorgestellt. Er hat mit seinem Neffen Amr in ein Café investiert. Hier wollte er zum rechten sehen, morgens seine Zeitungen lesen, nachmittags mit seinen Bekannten schwatzen und diskutieren, nachts seine Bücher lesen.

Doch nicht mal das ist möglich. Zu verschieden sind seine Vorstellungen und jene seines um viele Jahre jüngeren Neffen was die Geschäftsführung betrifft. Amr sieht nur das kurzfristige schnelle Geld – während Salah etwas aufbauen will. Salah möchte zwei Kellner anstellen, damit sie genügend Schlaf und Erholung haben, sich eine anständige Mittagspause sowie einen freien Tag pro Woche gönnen können, anstatt  übermüdet 14 Stunden ohne Pause zu arbeiten. Er möchte, dass das Café sauber ist, die Bedienung höflich und aufmerksam. Seinem Neffen hingegen ist das zu teuer, denn dann wirft sein Investment nicht genügend rasch Profit ab. Alle sind korrumpiert – so nennt Salah dies und meint damit nicht nur seinen Neffen sondern das ganze Establishment kreuz und quer durch die Gesellschaft… die Regierung… das Land…

Er wird wieder aussteigen müssen aus diesem Geschäft. Finanziell und dann auch persönlich. Dann muss er mit seiner Familie brechen, denn das Eine ist vom Anderen nicht trennbar.


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Ach, er wollte diesen Abend geniessen, doch nun ist ihm so schwer ums Herz. „Im Juni läuft meine Sperrfist ab. Dann kann ich wieder nach Qatar zurück.“ Im 60. Altersjahr wurde er in Qatar pensioniert und damit lief seine Aufenthaltsgenehmigung ab. Die Sperrfrist dauert zweieinhalb Jahre. Wohin soll er denn sonst noch? Die schönste Zeit seines Lebens hatte er dort verbracht.

Seine Begleiterin versteht ihn und es tut ihr fast leid, dass sie ihn gefragt hat. Angesichts seines Alters muss er die Zukunft seines Landes wohl so negativ sehen – sie hingegen gibt ihm trotz allem eine Chance. Wenn nur mal ein Schritt nach dem anderen gemacht wird, denn sie weiss: auch ein langer Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Aber für Salah ist es sicher zu spät.

Sie waschen sich Hände und Mund, begleichen die Rechnung und verlassen das riesige blaue U-Boot mit den bunten Metallfischen.

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Draussen werden sie von der lauen Februar-Abendluft umfasst. Das Hupen der Autos dröhnt in den Ohren, während sie sich einen Weg durch die stehenden und drängelnden Autos suchen. Der Gehsteig ist zu schmal: rohe Fleischberge sind zum Verkauf ausgehängt und die in Galabyas gekleidete Männer im landestypischen Café haben ihre Holztische und –stühle bis an den Strassenrand gerückt, wo sie genüsslich an ihren Wasserpfeifen ziehen, geräuschvoll süssen Schwarztee schlürfen und über das Tagesgeschehen schwatzen oder spielen.

Salah lädt seine europäische Begleiterin zum Abschluss seines Geburtstags noch auf ein Bier in einem von Touristen frequentierten Lokal ein. Vergnügt hüpft er im Takt der Musik auf seinem Stuhl auf und ab. Seine Gedanken scheinen wieder in die Ferne geschweift zu sein. Tanzen, ah!, er hat so gerne getanzt… Zum Reden ist es zu laut, denn sie sitzen an der Hauptstrasse und in der Bar dröhnt die viel zu laute Musik aus den Lautsprechern.

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Tage später sieht sie ihn nicht mehr im Café in ihrer Wohnsiedlung sitzen. Eilig geht sie weiter, macht sich Gedanken, schiebt die Gedanken mit einer weiten Armbewegung von sich. Sie hat momentan andere Sorgen, hat auch keine Zeit, seine Hilfe im Arabisch Lernen anzunehmen.

Wochen später sieht sie von weitem anderes Personal im Café. Sie wundert sich darüber. Hat er es durchgesetzt? Oder ist er ausgestiegen? Viele Stunden hatten sie darüber diskutiert, hat er ihr erzählt, wie schwierig das für ihn ist. Geduldig hat sie zugehört und ihm Mut gemacht. Doch jetzt geht sie wieder eilig weiter, sie hat noch immer eigene Sorgen.

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Monate später erfährt sie, dass Salah fort ist. Er hat sich endgültig mit seinem Neffen Amr entzweit. Es trifft sie, denn sie weiss wie unglücklich er darüber sein und sich noch einsamer fühlen wird.

Juni, hat er gesagt… Juni ist schon lange vorbei. Sicher ist er wieder zurück nach Qatar. Ob er dort wohl glücklicher ist?