Samstag, Dezember 21, 2024

Marc* und seine Heimat

Der einzige Moment, wo ich momentan zum Schreiben komme, ist die Schreibwerkstatt. Sie findet einmal im Monat statt. Vor zehn Tagen überraschte mich das Los mit wunderschönen, liebevoll gefertigten, roten und grünen Christbaumkugeln aus Karton als Inspiration. Ich hatte sofort eine Idee, doch bis ich diese zu einem sinnvollen Text verbinden konnte, kritzelte ich Gedanken auf eine Mindmap und brauchte weitere Zeit, um das, was in meinen Kopf stürmte, in einen kleinen Text zu verknüpfen. Diesen Text möchte ich mit euch teilen.

Über Mittag esse ich oft in einem Nebengebäude, wo uns eine Küche zur Verfügung steht. Dort treffe ich regelmässig Marc. Er war es, der mich an meinem ersten Arbeitstag mit einem „صباخ الخير „ begrüsste und mich für Sekunden sprachlos machte. Was passiert da? Warum Arabisch? Wie ist das möglich? Wo bin ich denn jetzt?

Trotzdem antwortete ich mit „صباخ النور „ – die Erwiderung auf den Guten-Morgen-Gruss in Arabisch. Erst einige Tage später trafen wir uns zufällig beim Mittagessen in der Wohnung. Der anfängliche Small Talk wich sehr bald tiefgründigen Diskussionen.

Mein Kollege stammt aus einem Land, das es nicht mehr gibt: aus Assyrien. Er spricht Assyrisch und Aramäisch – die Sprache, die Jesus sprach – und noch acht Sprachen.

Seine Familie, seine Gemeinschaft wurde von den Osmanen vertrieben und floh in alle Welt. Wenige blieben, verkauften Hab und Gut zu Spottpreisen, um der Enteignung zu entgehen.

Unsere Mittagspausen dauern nicht lang genug, um alle Themen, die uns beschäftigen, intensiv zu erörtern: Geopolitik, Geschichte, Philosophie, Psychologie, die Liebe zu Sprachen und unsere Zukunftspläne.

Ich möchte reisen und schreiben – er möchte noch weitere Sprachen lernen und seine bestehenden Sprachkenntnisse verbessern. Ein Grund dafür ist, dass er seine Kultur und Muttersprache den Jungen weitergeben möchte.

Ich fragte ihn, wo er denn Arabisch lernen wolle und welches Arabisch. Er erwiderte, in der Levante, Libanon oder Syrien. Dort spreche man seiner Meinung nach das schönste Arabisch.

Vor vier Wochen sprachen wir wieder über unsere Zukunftspläne und dass es nicht mehr viel Sinn mache, Pläne zu schmieden. Trocken bemerkte er: „Aus meinem Aufenthalt in einem Kloster in Syrien wird auch nichts.“ Sein Schwiegersohn komme aus Idlib. Die Situation dort sei sehr schwierig.

Ich musste gestehen, dass ich zu jenem Zeitpunkt nicht ganz auf dem Laufenden war.

Als wir uns eine Woche später wieder sahen, wusste ich mehr. Oft schon hatten wir über die Entwicklungen in der Region des Zweistromlandes, seiner Heimat, und der Levante diskutiert. Uns ist beiden klar: Dort wird es nie Frieden geben. Wir wissen auch, weshalb.

Nochmals eine Woche später steht Syrien vor dem Zerfall. Seine Urheimat liegt nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Kurden und Christen fliehen vor den Dschihadisten. Einmal mehr. Schutzlos. Den fremden Söldnern ausgeliefert.

Daran erinnert mich der herzige und liebevoll gestaltete Christbaumschmuck. Beinah möchte ich mich für meine Gedanken schämen. Ich habe wohl zu lange über den Tellerrand geschaut und kann nicht anders, als von der „anderen“ Seite zu erzählen.

Ich wünsche euch Allen friedliche Weihnachten 

und ein glückliches, gesundes 2025.

 

*Name geändert.