Dienstag, September 28, 2010

Was übrig bleibt

Ganz kurz nur hat er seinen Dienst getan: er wurde fabriziert, um irgendeinen Einkauf zu halten: Pommes Chips, Sandwiches, Milch, ein Eis. Er ist nicht sehr kräftig, aber doch genügend fest, um ein paar Kleinigkeiten zu tragen, damit diese nicht auf die Strasse purzeln. Nun wurde der kleine weisse Plastiksack zusammen geknüllt und achtlos auf die Strasse geworfen. Dort rollt er sich hin und her, sucht halt an einem Stein, einem Zaun.

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Etwas abseits steht eine grosse schwere Mülltonne. Sie ist offen, einen Deckel hat sie nicht, braucht sie nicht, denn es regnet ja nicht. Sie steht an einem blöden Ort: am Ende einer steilen Strasse, die sich im Fels verliert. Der Sand rutscht den Abhang herunter, herumliegender Abfall und Scherben erschweren den Zugang und nachts bewachen streunende Hunde mit lautem Gebell ihre Spiel- und Nahrungsquelle. Solche Mülltonnen gibt es einige im Quartier.

Auch grosse graue Plastikkübel gibt es. Ideal platziert, nie weit von einem Hauseingang entfernt und doch weit genug, damit der Gestank nicht stört. Trotzdem liegen manche Kübel am Boden, Abfall türmt sich in, auf und um die Kübel herum auf. Katzen freuen sich darüber.

Und da sind auch diese ausgemergelten Männer, ihre Gesichter sind eine unergründliche Faltenlandschaft, dunkelblaue Overalls bedecken ihre knochigen Gestalten, ihr Turban ist aus wenigen Quadratzentimetern Stoff gewickelt. Sie schieben einen Kübel auf Rädern samt Reisigbesen vor sich her. Oder lassen ihn nicht weit von sich entfernt stehen. Sie wischen die Strassen, sammeln Unrat ein. Selten sieht man sie bei der Arbeit, oft sitzen sie auf dem Trottoir im Schatten und rauchen.

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Ein Müllmann nimmt den zusammen geknüllten Plastiksack auf und wirft ihn in seinen Kübel. Dort liegt er auf Plastikflaschen, Zigarettenkippen und Blechbüchsen. Weitere Plastiksäcke gesellen sich zu ihm, Glasflaschen und Pizzaschachteln erdrücken ihn. Nach einigen Tagen wird der Kübel ausgeleert, in einen grossen Metallcontainer. Fast könnte der Plastiksack mit dem Wind entwischen – doch schon wird er von anderem Unrat festgehalten.

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Einmal täglich – meistens – kommen die Zabaleen, die Müllsammler. Auf einen viel zu kleinen Lastwagen wird ein Teil des Abfalls geladen. Der Fahrer bleibt in der Führerkabine sitzen, zwei weitere Männer sortieren den Abfall: einer der beiden wählt aus dem Container mit blossen Händen aus, was auf den Lastwagen darf. Er reisst Abfallsäcke auf, entnimmt Karton, Plastik, Kleiderreste, Metall und anderes Verwertbares und reicht sie dem zweiten Mann hinauf auf die Ladefläche. Oben werden Kartone gefaltet und fein säuberlich am Rand der Lade verstaut – praktisch, denn somit kann das Fassungsvermögen enorm erhöht werden. Alles andere wird in verschiedene hellblaue Säcke auf dem Lastwagen verteilt. Organische Abfälle wie abgeschnittene Äste, verwelkte Blumen oder Palmwedel bleiben liegen. Ebenso Speisereste. Seit es in Ägypten keine Schweine mehr gibt, sehen die Zabaleen auch keine Möglichkeit, Lebensmittelreste zu verwerten. Die aus den Abfallsäcken befreiten Plastiktüten, Schächtelchen und Papierreste werden vom Wind über die Strasse gewirbelt, verheddern sich in Buschwerk und an Gartenzäunen und suchen sich den Weg überall dorthin, wo sie nicht hin gehörten.

Wenn die Zabaleen da waren, sind Container und Kübel meistens leer, dafür ist rundherum ein riesiges Chaos. In der Nacht wühlen Hunde und Katzen an den Resten, zerren sie quer über die Strasse, kämpfen um Speisereste.

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Mit einem heftigen Ruck wird der Container gekippt, plötzlich fühlt sich der kleine weisse Plastiksack befreit: ein Windstoss erfasst ihn, hebt ihn hoch, lässt ihn durch die Luft wirbeln! Diese unerwartete Freiheit irritiert ihn… wo soll er denn hin? Ziellos tanzt er in die Höhe, lässt sich herabfallen, treibt knapp über der Strasse dahin, weicht einem Busch aus und gewinnt wieder an Höhe. Am liebsten würde er jauchzen vor Freude, so herrlich ist es, sich mit dem Wind treiben zu lassen.

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Im Halbdunkel sind manchmal auch Männer zu erkennen, die über den Container gebeugt den Abfall durchwühlen… Wonach suchen sie? Essbarem? Fühlen sie sich beobachtet, senken sie den Blick, drehen sich um und gehen weg.
Gut gekleidete Herren lassen frühmorgens oder spätabends ihre Abfallsäcke an der Rückseite des Wohnblocks stehen oder ganz einfach mitten auf dem Trottoir! - und gehen in Seelenruhe weiter…

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Doch abrupt wird sein stilles Juchzen abgewürgt. Der Plastiksack hat sich in den Ästen eines hohen Baumes verfangen, der Wind drückt seine Schlaufen in verschiedene Richtungen, der Sack droht zu zerreissen, wehrt sich, flattert, zittert noch eine Weile, doch der Wind ist stärker.

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Alle paar Wochen verschafft ein riesiger Bagger vorübergehend Abhilfe: seine gierige Schaufel lädt alles auf einen grossen Lastwagen, was seit Wochen liegen blieb: Scherben, Knochen, Büchsen, verdorrtes Blattwerk, Stofffetzen, Steine, Sand. Danach sieht es für ein paar Stunden sauber aus – einzig die an Gartenzäunen und in Büschen hängen gebliebenen Plastiksäcke bleiben zurück.

Sonntag, September 26, 2010

Verstörende Erkenntnisse

„Es ist ein Schnäppchen, eine einmalige Chance, sieh Dir’s an!“

Habe ich gemacht. Eine kleine Wohnung in einer Wohngegend, die noch im Aufbau begriffen ist. Eine Zukunftsinvestition – der Preis überraschend tief.

„Wo ist der Haken?“ war sofort meine Frage. Er braucht dringend Geld. Cash. Hinter jedem Verkauf steht eine Geschichte…

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Ein lauer Wind bläst die letzte Hitze fort. Jetzt ist es endlich angenehm, draussen zu sitzen. Sieben oder acht sind wir, sitzen in einem bekannten Kaffee in El Memsha, treiben vorerst Smalltalk. Wie immer sitze ich am falschen Ort: der unvermeidliche Shisharauch bläst mir ins Gesicht.

Da ist die vielleicht gut fünfzigjährige Holländerin. Sie verwaltet Villen und Wohnungen und hat jede Menge Kontakte quer durch Hurghada. Und Erfahrungen. Schon an unserem ersten Treffen hat sie von sich erzählt. Ihr Exfreund schlug sie, betrug sie, sperrte sie ein, lockte sie gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn in einen Hinterhalt und schlussendlich war sie alle Mieteinnahmen eines Monats, ihre Laptops samt Buchhaltung und Kontakten, persönliches Bargeld und Schmuck los. Exfreund und Schwiegersohn sitzen für drei Monate im Gefängnis. Sie hat Angst vor dem, was nachher kommt. Heute Abend ist sie die harte Geschäftsfrau, die Käufer und Verkäufer zusammen bringt.

Da ist eine Österreicherin in meinem Alter, erst seit einem Jahr hier. Schickt mir ihr Töchterlein zum Französischunterricht. Und will mir unbedingt helfen. Warum nur? – frage ich mich verwundert.

Ihr ägyptischer Freund hat sie beim Hausumbau und der Einrichtung beraten. Die Registrierung beim Grundbuchamt hat er in viereinhalb Monaten erreicht – andere warten Jahre. Er hat Preise heruntergehandelt, die sonst doppelt so hoch sind oder das Dreifache betragen. Diese Erfahrung will er mir weitergeben – nicht gratis natürlich.

Und da ist noch das belgische Ehepaar, vielleicht Mitte fünfzig, das seine Wohnung verkaufen will. Irritiert bemerke ich, dass ein ägyptischer Jüngling bei ihnen ist. Sicher wegen den Dokumenten – denke ich mir. Sie können kein Arabisch, da braucht es eine Hilfe, auf die man sich verlassen kann. Rasch fällt mir aber auf, dass er sich wie ein Hündchen verhält, wie seltsam…

„Weisst du, ich muss mich operieren lassen. Ich habe Krebs. Einen Tumor im Kopf. Stabil. Es eilt nicht, aber je früher ich das machen lasse, umso besser. Und in Belgien gibt es keine Spezialisten dafür. Ich muss deshalb ins Ausland und dafür brauche ich Geld. Viel Geld.“ Mein Mitleid regt sich. Armer Tropf. „Und trotzdem rauchst du weiter?“ staune ich.

Seine rundliche, freundlich dreinschauende Frau sieht und hört nur zu. Sie sagt fast nichts. Erst als ich sie auf Französisch anspreche, erwidert sie lebhaft meine Fragen.

Ihr Mann zeigt mir die Papiere, gibt mir allerhand Informationen über die Wohnung, die finanziellen und nervlichen Investitionen. Er war an falsche Anwälte geraten und es dauerte zwei Jahre und viele Euros, bis er alle Papiere beieinander hatte. Trotzdem will er die Wohnung mit einem grossen finanziellen Verlust verkaufen.

Andererseits erzählt er, dass er hier in Ägypten erfolgreich Geschäfte betrieben habe – aber nun alles Geld verbraucht habe. Wie tragisch.

Inzwischen ist noch ein ägyptischer Vertrauter gekommen. Ich bin erleichtert, muss ihn aber fast nötigen, sich zu uns zu setzen. Ich lege es so aus, als dass er nicht stören will. Damit irre ich mich aber gewaltig.

Irgendwann ist alles gesagt, der Belgier wendet sich immer wieder seinem Hündchen neben sich zu, ich beachte ihn gar nicht, sehe ihn auch nicht, hatte ihn nicht mal begrüsst, denn er wurde mir nicht vorgestellt. Sie verlangen die Rechnung, bezahlen, man verabschiedet sich. Ich verspreche, mich innert Wochenfrist zu melden, falls ich mich zu einem Kauf entscheide.

Und Tschüss. Erleichterung.

Ich sehe die Österreicherin an. „Das stimmt gar nicht, zu mir hat er gesagt, er brauche Bargeld für ein Geschäft“ klärt sie mich auf. Er hat gelogen. Wieder einer, der mit meinen Gefühlen, meinem Mitleid spielt. Er braucht es wohl eher für etwas anderes.

Als ich meinen Vertrauten um seine Meinung bitte, bricht es aus ihm heraus. Er ist angewidert, bezeichnet ihn mit Ausdrücken, die ich nicht wiederholen kann. „Er hat ihn geküsst!!“

… Und seine Frau sass daneben!

Die Österreicherin und ich sitzen völlig verstört da. Ihr Freund lacht nur: „Vielleicht machen sie’s zu Dritt!“

„Hast du denn keine Lebenserfahrung? Wo lebst du denn?“ muss ich mir anhören. Doch, doch, habe ich. Aber die Anhäufung von Randexistenzen, Kriminellen und anderen rechtlosen Individuen, wie sie hier auftritt, verlangt eine Neuordnung meines Weltbildes… bevor es endgültig auseinander zu brechen droht.

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Wie gesagt, hinter jedem Verkauf steht eine Geschichte…

Montag, September 20, 2010

Einfach zum Lächeln

Wenn ich zum Einkaufen gehe, bemühe ich mich redlich, meine Wünsche in Arabisch zu formulieren. Je nach Geschäft und Ansprechpartner folgt dann die Antwort auf Englisch. So geht das dann hin und her – der Ägypter redet Englisch, das noch himmeltrauriger ist als mein Arabisch, und ich antworte mit meinem miesen Arabisch.

Irgendwie laufen alle Gespräche nach folgendem Muster ab:

Ich (in Arabisch): Guten Tag, ich hätte gerne dieses oder jenes. Oder: ist XY da?
Er (in Englisch): Guten Tag, ja, haben wir. Oder: nein. Oder: ich weiss es nicht.
Ich (in A): Wann ist es erhältlich oder wann kommt XY?
Er (in E): Morgen, In’scha’allah.
Ich (in A): Kannst Du bitte Arabisch mit mir sprechen?
Er: Wohnst Du hier? (mit viel Glück dann endlich in Arabisch)
Ich: Ja.
Er: Wie lange schon?
Ich: Seit dann und dann.
Er: Bist Du verheiratet?
Ich: Ja.
Er: Mit einem Ägypter?
Ich: Ja.
Er (wieder in Englisch): Oh, er ist ein glücklicher Mann!
Ich (weiterhin in Arabisch): danke.

Und künftig werde ich noch anfügen: ich werde es ihm (meinem fiktiven arabischen Ehemann) sagen.
Lächelnd verlasse ich das Geschäft. Ich habe zwar weder das gewünschte Produkt noch die nötige Auskunft erhalten, aber der Verkäufer hat das Beste aus der Situation gemacht: er hat mich einfach zum Lächeln gebracht!

Samstag, September 18, 2010

Abreisetag

Es gibt Augenblicke oder Situationen, in denen mir besonders bewusst wird, dass ich wirklich weit ab von meiner Heimat lebe. In einer anderen Kultur, einem anderen Kontinent.
Vor einigen Tagen war wieder so ein Moment. Es war Freitag, eine Woche nach Ende des Ramadans. Im Anschluss an den Ramadan wird tagelang gefeiert und gefestet, jede Familie zelebriert das auf ihre Art und Weise. Und viele fahren in die Ferien. Nach Hurghada zum Beispiel.
Hurghada und andere ägyptische Feriendestinationen am Roten Meer und am Mittelmeer sind bei den Einwohnern der benachbarten arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien / Emirate / Kuwait) wegen ihrer relativen Freizügigkeit und Sittenfreiheit, aber natürlich auch wegen des Klimas, sehr beliebt. So bricht während den islamischen Feiertagen, den grossen Ferien und zum Jahreswechsel hin jeweils eine Welle von Besuchern von dort über Hurghada herein. Die Angestellten der Hotels verzweifeln schier über den herrischen Befehlston und die masslosen Ansprüche der Saudis. In den Strassen herrscht blankes Chaos, dicke Bonzenwagen stehen überall dort, wo sie im Weg sind, schwarz gekleidete Frauen mit Gesichtsschleier, üppigem Schmuck und teurem Schuhwerk spazieren im Kreis ihrer Sippe abends durch Strassen und Fussgängerzonen.
Am vergangenen Freitag fuhr ich zufällig per Bus am Hafen vorbei. Ein riesiges Fährschiff ankerte schon seit Tagen dort. Die Strasse war zweispurig mit wartenden Autos belegt und behinderte den normalerweise flüssigen Verkehr: riesige moderne Geländewagen, altertümliche Familienkarossen, sündhaft teure europäische Personenwagen, ungepflegt, verbeult, völlig verschmutzt, überladen, innen mit wichtigen Habseligkeiten vollgestopft, auf dem Dachträger meterhoch Koffer und Kartons festgezurrt. Die Insassen waren hinter verdunkelten Fensterscheiben versteckt, doch da und dort waren tief verschleierte Frauen, schwitzende übergewichtige Männer mit Baseballmützen und zahlreiche Kinder zu erspähen.
Ich entzifferte die Autoschilder: „Saudia“ in arabischer Schrift, „KSA“ Kingdom of Saudi Arabia, Kuwait… Ferne exotische Länder, mit der Fähre nach Dubai innert Stunden erreichbar. Ein Hauch Orient in Gedanken… doch die Wirklichkeit vor mir sah anders aus. Die Rückreisewelle der nicht sonderlich beliebten Gäste hinterlässt vor allem eines: Erleichterung.
Überall standen Tagelöhner herum, sah sie selten so zahlreich. Manche streiften sich mitten auf der Strasse einen orangen Overall über, andere orange Männer standen wartend am Hafeneingang. Mein Bus zwängte sich durch die wartenden Autos und Tagelöhner hindurch, ich erhaschte einen Blick auf die riesige Fähre. Erinnerungen an eine Überfahrt von Genua nach Sizilien wurden wach, versuchte zu vergleichen… Wie es wohl auf dieser Fähre da zu und her gehen mag? Wenn all diese Leute dort ihre Kabinen bezogen haben und sich lärmend ausbreiten? Nach all dem, was ich bisher in diesem Land gesehen habe und weiss? Oh…

Mein Bus fuhr weiter, ich sass inmitten dieser Männer und Frauen und fühlte mich plötzlich als Teil von ihnen, in Sicherheit, fast geborgen. Lieber hier als dort… Auch Abneigung verbindet… Ich liess meine Gedanken und Vorstellungen lieber hinter mir im Chaos des Hafens zurück. Aufs dunkelblaue Meer hinaus blickend, schüttelte ich leise den Kopf…

Dienstag, August 10, 2010

Der alte Mann und sein Land

Die Wände sind blau gestrichen, blau, wie die Farbe des Meeres vier Meter unter der Wasseroberfläche an einem klaren, sonnigen Tag. Bunte metallene Fisch- und farbige Korallenattrappen sind daran befestigt. Von der Decke hängen grosse, klobige Ventilatoren, die einen unangenehmen Luftzug verursachen. Der Raum ist hoch, eckige blau-weiss gestricheneTragpfeiler stützen die Decke und verbergen die Sicht auf den in einer Ecke viel zu hoch über den Tischen befestigten Fernseher. Unvermeidlich dröhnt daraus wahlweise arabische Popmusik oder die Übertragung eines sehr wichtigen Fussballspiels; manchmal auch zitiert ein Vorbeter aus dem Koran. Zehn rechteckige gusseiserne Tische mit weissen Tischplatten stehen im Raum, die gusseisernen Stühle mit den verschmutzen Sitzkissen hastig zurecht gerückt. Auf den sauberen Tischen steht je ein Aschenbecher, eine Schachtel Papiertücher, Salz und Pfeffer, Zahnstocher.

Im hinteren Teil des Raumes, links, steht ein grosser Tisch. Darauf liegt eine grosse Auswahl an frischen Fischen und Krabben, sorgfältig in Eis eingebettet, und wartet darauf, vom Gast erwählt und vom Koch zubereitet zu werden. Der Eingang zur Küche befindet sich neben den Toiletten. Das Personal hat aus der Küche direkten Durchblick zu Waschbecken und Spiegel, welches sich männliche und weibliche Besucher gleichsam teilen. Wenigstens ist der Blick in die separaten Toiletten verwehrt.

Der Raum strahlt den Charme eines zu gross geratenen und seit Jahren nicht mehr untergetauchten U-Bootes aus. Die runden Bullaugen zur Strasse hinaus unterstreichen den Eindruck noch. Es ist unmöglich, sich in diesem Fischrestaurant auch nur halbwegs wohl zu fühlen. Ein Rätsel, wie jemand auf die Idee zu solch einer Inneneinrichtung kommen kann!

Trotzdem: das Restaurant ist immer sehr gut frequentiert. Die Qualität der Fischspeisen ist herausragend, der Preis klein. Gerne kommen ganze Familienclans hierher, am liebsten ägyptische und russische. Besonders gut läuft auch das Take-away-business.


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Zwei Kellner tragen mit ausdrucksloser Miene alle Köstlichkeiten auf, die sie vor einer halben Stunde ausgewählt hatten. Der Tisch wird vollständig bedeckt mit Körbchen voller grosser Brotfladen und vielen Tellerchen und Schälchen: Tahina, ein Püree aus Sesam, Baba ghanoug, Püree aus Auberginen mit viel Knoblauch und Sesam, sauer eingelegtes Gemüse, schmackhaftem, braunem Reis, orientalischem grünem Salat mit Tomaten, Karotten und viel Zwiebeln, gegrilltem Fisch und gegrillten Riesenkrabben, kräftig gewürzt mit viel Paprika und Zwiebeln.

 „Stört es Dich, wenn ich meinen Fisch mit den Fingern esse“, fragt Salah höflichkeitshalber, während seine Finger schon die Haut des gebratenen Fischs ablösen. Die Frau ihm gegenüber schüttelt verneinend den Kopf. Natürlich stört es sie – es ist ihr ein Graus. „Ich bin es so gewohnt, in Qatar haben wir immer so gegessen.“ Sie hingegen hantiert mit Messer und Gabel – so hat sie immer gegessen.

Salah isst keinen Reis; er meint, es sei gesünder, abends nur Fisch und Brot zu essen. Er ist wortkarg, schiebt abgelöste Fischstückchen in den Mund, tunkt Tahina und Baba ghanoug mit einem Stück Brot auf, wie er es seit seiner Kindheit gewohnt ist. Im Orient wird gegessen, nicht geredet, und so widmet sich Salah vorerst voller Hingabe den vor sich ausgebreiteten Köstlichkeiten. Es ist sein Geburtstag.

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Seine Gedanken schweifen zurück, zu vergangenen Geburtstagen, mit Freunden im Ausland, mit der Familie daheim in Alexandria. Heute wurde er 62 und er wollte niemanden sehen, ausser dieser Ausländerin da. Er hat ihr gesagt, dass er hier niemanden kenne, was zwar nicht ganz stimmt, aber er hatte keine Lust, mit seinem Neffen Amr und dessen Familie zusammen zu sein. In letzter Zeit hatten sich ihre Diskussionen zu handfesten Meinungsverschiedenheiten zugespitzt. Einmal ein paar Stunden nicht daran denken müssen! Aber es fällt ihm schwer, er ist bedrückt, kann nicht glücklich sein.

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Über seinem verrunzelten, von der Sonne gegerbten Gesicht wuchert ein dicker Teppich von weissen lockigen Haaren. Heute hat er sie gebändigt, gekämmt und für einmal von der obligaten Baseball-Mütze befreit. Auf seiner breiten Nase wachsen Haare, über seinen kleinen glänzenden Augen stehen buschige schwarze Augenbrauen, die beim Reden munter auf und ab hüpfen. Er hat sich sogar besser angezogen. So gut es ein niemals verheirateter zweiundsechzigjähriger Mann halt kann, der kaum auf sein Äusseres geachtet hat. Ihm waren seine Bücher und seine Musik wichtiger. Er sieht alt aus, nach europäischem Massstab eher achtzig als sechzig Jahre alt.


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Fünfundzwanzig Jahre lang lebte er in Qatar. Er hatte eine exzellente Anstellung beim Ministerium für Kommunikation, reiste häufig ins Ausland, kannte viele wichtige Persönlichkeiten. Er war in beinahe jedem Land der Welt, zwar nur kurz, aber er hat vieles gesehen. Und in Qatar liess sich gut leben. Er hatte Geld, er hatte viele Freunde und sie feierten gemeinsame Feste. Es waren ausgelassene Feiern, mit Alkohol, Frauen und Musik. Wenn er davon erzählt, leuchten seine kleinen braunen Augen vergnügt unter den buschigen Brauen hervor. Seine Freunde und deren Familien ersetzten seine leibliche Familie. Mit ihnen wurde nicht nur gefeiert, sondern auch klassische Musik gehört und über Literatur diskutiert. In seiner Wohnung standen überall Bücher. Auch jetzt noch liest er die ganze Nacht hindurch, bevor er sich bei Tagesanbruch für einige Stunden zum Schlafen hinlegt.

Doch in diesem Land hier, seinem Heimatland, gibt es niemanden, mit dem er über Literatur, über die grossen Denker und Schriftsteller diskutieren kann. Alle scheinen sich dem Fussball und dem schnellen Geld verdingt zu haben. Kultur, Allgemeinbildung, Kindererziehung, langfristiges Denken, soziale Verantwortung, Respekt vor Mensch und Umwelt sind während den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen. Das war einst anders. Angewidert schüttelt er die tristen Gedanken von sich.

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Die Ausländerin da ist eine Ausnahme. Mit ihr kann er über all dies reden, sie versteht ihn.

„Weisst du, alle drei bis fünf Jahre bin ich heim gekommen, nach Ägypten. Ich wollte meine Familie sehen, meine Freunde. Und ich wollte auch sehen, was aus meinem Land wird. Doch was ich da sah, machte mich jedes Mal trauriger.

Kannst Du dir vorstellen, dass Kairo einst die sauberste Stadt der Welt war?“ eindringlich blicken seine kleinen Äuglein aus dem zerknitterten Gesicht über den Tisch zu ihr. Kairo? Sie sieht in Gedanken diesen Riesenmoloch, mit chronisch verstopften Strassen, mit Menschenmassen, die sich durch die viel zu engen lärmigen Gassen drängen, dem Smog, der in den Sommermonaten wie eine gelblichgraue Giftglocke über dem Herzen Ägyptens liegt? Wo sich täglich Fussgänger, Taxifahrer, Buschauffeure und Privatwagen zum Überlebenskampf rüsten? Wo extreme Armut und immenser Reichtum aufeinander prallen? Wo ganze Quartiere einstürzen und Menschen bei lebendigem Leibe begraben? Wo Abfallberge zum Himmel stinken und sich sowohl Menschen als auch Ratten daran gütlich tun?

Nein, die Vorstellungskraft reicht dazu nicht aus. Und doch… sie hat Fotos und Filmaufnahmen gesehen, die dies belegen. Ägypten war im Nahen Osten politisch und gesellschaftlich führend, Kairo und Alexandria standen den grossen europäischen Städten wie London und Paris in nichts nach. Die Schönen, Reichen und Mächtigen trafen sich hier wie dort.

„Stell dir vor, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Autofahrer gebüsst, wenn sie nicht anhielten, um einen Fussgänger über die Strasse zu lassen!“ Nein – in Gedanken sieht sie, wie Fussgänger in Kairo wagemutig versuchen, eine mehrspurige Strasse zu überqueren. Nicht nur dort: überall in Ägypten grenzt es an Selbstmord, sich zwischen die rasenden Fahrzeuge zu werfen. Es ist ihr ein Rätsel, wie die sonst so höflichen Ägypter hinter einem Lenkrad plötzlich zu potentiellen Mördern werden können. Da gibt es weder für Kinder, weder für Frauen mit Kinderwagen, noch für alte, gehbehinderte Menschen Rücksicht… Einzig das Recht des Stärkeren gilt – und das ist hier der motorisierte Verkehr.


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Salah entfernt die Gräten und verschlingt mittlerweile seinen zweiten Fisch, immer noch mit den Fingern, noch immer ohne Reis. Seine Begleiterin wendet den Blick von ihm ab – diese Art Fisch zu essen ist doch etwas ungewohnt für sie. Ohne ihn anzusehen, hört sie ihm weiter zu. Sie spürt, dass er unendlich traurig ist über das, was aus seiner Heimat geworden ist. Oder ist es sogar Verbitterung?

„Früher verschleierte sich niemand hier, die Frauen trugen Miniröcke und Stöckelschuhe, Männer und Frauen gingen gemeinsam aus, man konnte überall Tanzen und Alkohol trinken! Wir lebten! Wir liebten das Leben! Diese Entwicklung der letzten Jahre ist nicht gut. Das ist nicht mehr Ägypten!“

Sie sieht ihn nachdenklich an und fragt, was sie schon unzählige Male in diesem Land gefragt hat… sich einfach nicht verkneifen kann, immer wieder bohrt… Was es seiner Meinung nach denn brauche, um den Absturz aufzufangen? Das Ruder herum zu reissen? Es wird doch Veränderungen geben in den nächsten Jahren? Ganz bestimmt, denn das Regime kann nicht mehr lange weiter machen. Bald gibt es Wahlen, es hat sich um eine bekannte Persönlichkeit eine demokratische Bewegung gebildet. Was würde er denn ändern, wenn er könnte? Gespannt wartet sie auf seine Antwort.

Salah schiebt seine Teller von sich, wischt sich Hände und Mund mit den Papiertüchern ab. Langsam lehnt er sich zurück und sieht sie fest an.

Sie hat ihn unterschätzt, seine Resignation ist umfassend: „Sie haben zu viel zerstört. Es würde Jahrzehnte dauern… viel zu lange.

Zwei Generationen! Zwei Generationen kennen nichts anderes als dieses Regime. Stell dir nur vor: jeder unter dreissigjährige Ägypter – das ist die Hälfte der Bevölkerung! - kennt nichts anderes, als was wir heute sehen: keine Bildung, keine Forschung, keine Demokratie, keine Freiheit, keine soziale Verantwortung, keine Eigeninitiative, keine Hygiene! Nur Korruption, Egoismus, Armut, Unwissenheit, Schmutz, Lärm und überall Polizei. Wie soll das ein neuer Präsident oder eine neue Regierung in wenigen Jahren korrigieren? Unmöglich, niemals! Ägypten ist kaputt. Für die Menschen zählt nur noch Geld, Geld, Geld und Fussball. Und wer kann, flieht ins Ausland! Sie interessieren sich nicht für Literatur, für Musik, für Politik, nicht für ein freiheitliches, selbstbestimmtes Leben. Sie haben keine Perspektive, keine Zukunft! Sie wollen sich nicht weiterbilden, sie sind träge, faul und bequem. Schau doch: wie fett alle sind. Sie wollen nur fernsehen und den ganzen Tag Chips und Kerne essen. Schau doch, wie dreckig es bei uns ist: sogar tagsüber hat es Ratten. Wenn ich dem achtjährigen Sohn meines Neffen etwas beibringen will, kann er sich nicht mal fünf Minuten konzentrieren! Er läuft wie ein alter Mann, ist übergewichtig und isst ständig. Ich habe es versucht, aber ich habe aufgegeben.“

Salah schnauft schwer. Er hat sich in Rage geredet. Er hat sich sein Rentnerdasein in seiner Heimat anders vorgestellt. Er hat mit seinem Neffen Amr in ein Café investiert. Hier wollte er zum rechten sehen, morgens seine Zeitungen lesen, nachmittags mit seinen Bekannten schwatzen und diskutieren, nachts seine Bücher lesen.

Doch nicht mal das ist möglich. Zu verschieden sind seine Vorstellungen und jene seines um viele Jahre jüngeren Neffen was die Geschäftsführung betrifft. Amr sieht nur das kurzfristige schnelle Geld – während Salah etwas aufbauen will. Salah möchte zwei Kellner anstellen, damit sie genügend Schlaf und Erholung haben, sich eine anständige Mittagspause sowie einen freien Tag pro Woche gönnen können, anstatt  übermüdet 14 Stunden ohne Pause zu arbeiten. Er möchte, dass das Café sauber ist, die Bedienung höflich und aufmerksam. Seinem Neffen hingegen ist das zu teuer, denn dann wirft sein Investment nicht genügend rasch Profit ab. Alle sind korrumpiert – so nennt Salah dies und meint damit nicht nur seinen Neffen sondern das ganze Establishment kreuz und quer durch die Gesellschaft… die Regierung… das Land…

Er wird wieder aussteigen müssen aus diesem Geschäft. Finanziell und dann auch persönlich. Dann muss er mit seiner Familie brechen, denn das Eine ist vom Anderen nicht trennbar.


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Ach, er wollte diesen Abend geniessen, doch nun ist ihm so schwer ums Herz. „Im Juni läuft meine Sperrfist ab. Dann kann ich wieder nach Qatar zurück.“ Im 60. Altersjahr wurde er in Qatar pensioniert und damit lief seine Aufenthaltsgenehmigung ab. Die Sperrfrist dauert zweieinhalb Jahre. Wohin soll er denn sonst noch? Die schönste Zeit seines Lebens hatte er dort verbracht.

Seine Begleiterin versteht ihn und es tut ihr fast leid, dass sie ihn gefragt hat. Angesichts seines Alters muss er die Zukunft seines Landes wohl so negativ sehen – sie hingegen gibt ihm trotz allem eine Chance. Wenn nur mal ein Schritt nach dem anderen gemacht wird, denn sie weiss: auch ein langer Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Aber für Salah ist es sicher zu spät.

Sie waschen sich Hände und Mund, begleichen die Rechnung und verlassen das riesige blaue U-Boot mit den bunten Metallfischen.

*****

Draussen werden sie von der lauen Februar-Abendluft umfasst. Das Hupen der Autos dröhnt in den Ohren, während sie sich einen Weg durch die stehenden und drängelnden Autos suchen. Der Gehsteig ist zu schmal: rohe Fleischberge sind zum Verkauf ausgehängt und die in Galabyas gekleidete Männer im landestypischen Café haben ihre Holztische und –stühle bis an den Strassenrand gerückt, wo sie genüsslich an ihren Wasserpfeifen ziehen, geräuschvoll süssen Schwarztee schlürfen und über das Tagesgeschehen schwatzen oder spielen.

Salah lädt seine europäische Begleiterin zum Abschluss seines Geburtstags noch auf ein Bier in einem von Touristen frequentierten Lokal ein. Vergnügt hüpft er im Takt der Musik auf seinem Stuhl auf und ab. Seine Gedanken scheinen wieder in die Ferne geschweift zu sein. Tanzen, ah!, er hat so gerne getanzt… Zum Reden ist es zu laut, denn sie sitzen an der Hauptstrasse und in der Bar dröhnt die viel zu laute Musik aus den Lautsprechern.

*****

Tage später sieht sie ihn nicht mehr im Café in ihrer Wohnsiedlung sitzen. Eilig geht sie weiter, macht sich Gedanken, schiebt die Gedanken mit einer weiten Armbewegung von sich. Sie hat momentan andere Sorgen, hat auch keine Zeit, seine Hilfe im Arabisch Lernen anzunehmen.

Wochen später sieht sie von weitem anderes Personal im Café. Sie wundert sich darüber. Hat er es durchgesetzt? Oder ist er ausgestiegen? Viele Stunden hatten sie darüber diskutiert, hat er ihr erzählt, wie schwierig das für ihn ist. Geduldig hat sie zugehört und ihm Mut gemacht. Doch jetzt geht sie wieder eilig weiter, sie hat noch immer eigene Sorgen.

*****

Monate später erfährt sie, dass Salah fort ist. Er hat sich endgültig mit seinem Neffen Amr entzweit. Es trifft sie, denn sie weiss wie unglücklich er darüber sein und sich noch einsamer fühlen wird.

Juni, hat er gesagt… Juni ist schon lange vorbei. Sicher ist er wieder zurück nach Qatar. Ob er dort wohl glücklicher ist?

Freitag, Juli 30, 2010

Süsser Duft der Nacht

Allmählich lässt die Glutofenhitze des Frühsommertages nach. Bleischwer lag sie unbeweglich über Gassen und Plätzen, selbst Sand und Staub blieben träge liegen. Kein Windhauch schaffte Linderung, schweisstreibend war allein das unbewegliche Sein.

Nun, da die Sonne der Dämmerung gewichen ist, fliegen Fensterläden und Türen auf, die Hitze macht einer hauchfeinen Brise Platz und lässt einen wohlig aufatmen. Die Bewohner machen es sich auf ihren Balkonen behaglich, setzen sich vor die Kaffeehäuser; Parkbänke und Mäuerchen werden belegt, auf Dachterrassen werden Kissen aufgeschüttelt und Erfrischungen gereicht, Kerzen und Windlichter zaubern ein weiches Licht in die herannahende Nacht.

Fröhliches Geplauder, befreiendes Lachen, herzliche Begrüssungen vertreiben die letzte Tageshitze. Im Kreis von Familie und Freunden lässt es sich nun aushalten, werden Tagesereignisse kommentiert, lustige und traurige Geschichten verbreitet. Ein süsslicher Duft umschmeichelt die Nase, vermischt sich mit dem Geruch von Zigaretten und dem mit Kardamom gewürzten Kaffee.

Schwer unterscheidbar für die ungeübte Nase sind die vielfältigen Aromen der Wasserpfeife. Da gibt es allerlei Früchte- und Beerenaromen wie Apfel, Erd- oder Waldbeere, doch auch Pfirsich, Melone, Ananas, Orange oder andere noch exotischere Düfte finden ihre Abnehmer.

Das Blubbern der Shisha wirkt beruhigend. Von Zeit zu Zeit wird ein glühendes Stück Kohle nachgelegt, damit das muntere Blubbern fort dauert und der aromatisierte Rauch seine beglückende Wirkung entfalten kann.

Der süsse Duft vereint sich mit dem warmen Gelächter, dem feinen Wind, dem nahen Sternenhimmel und der im Hintergrund erklingenden arabischen Musik zu einem orientalischen Traum, der einen forttragen und die Zeit ein für allemal anhalten möchte. Eine verzauberte Welt umwirbt, umhüllt, fängt denjenigen ein, der sich ihr öffnen mag. Berauschend, schier betäubend legen sich diese parfümierten, lauen Nächte wie ein sanfter Schleier über die erdrückenden Sorgen des fernen Alltags und entführen in eine andere Welt ...

... bis sich der Zauber der Nacht vor der nahenden Morgendämmerung davon schleicht und das herannahende Tageslicht erneut Hitze und Bürde ankündigt.

Sonntag, Juni 13, 2010

Einkauf im Souk

Bei jedem Schritt rutsche ich mit den Fersen von meinen geliebten italienischen Sandalen. Monatelang schon übe ich das achtsame Gehen auf unebenem Untergrund. Trotzdem geschieht es noch täglich, dass ich ausrutsche und fast umknicke. Glücklicherweise bin ich erst einmal auf etwas Spitzes getreten, das mir in die Fusssohle schnitt. Und den Fussknöchel habe ich auch nur einmal schmerzhaft verrenkt, weil ich ein Loch übersah. Doch das war ganz am Anfang.

Die Sonne brennt mir ins Gesicht, mit der Hand versuche ich, mich vor den gleissenden Strahlen zu schützen. Ein paar Schritte noch und ich rette mich in den  Schatten. Zwischen zwei Gebäuden liegt ein freier Platz, der zum Eingang des Souks, des Gemüse- und Fruchtmarktes, führt. Links und rechts, direkt am Strassenrand, nur einen schmalen Durchgang gewährend, sind Bambusgitter wenige Zentimeter über dem Boden ausgebreitet; darauf liegen Hunderte von hellbraunen Brotfladen zum Verkauf. Ein etwas dickeres, ebenfalls rundes, vielleicht Teller grosses Brot fällt mir auf: das „Aisch Schamssi“ – das Sonnenbrot. Es wird in der Sonne gebacken und wird bis ca. vier Zentimeter dick.

Schwarz gekleidete Frauen mit dunklen Kopftüchern hocken neben ihren Brotfladen auf dem Boden, unter sich ein ausgebreitetes Stück Karton, tuscheln, schnattern und lachen munter miteinander, dazwischen fordern sie die Passanten auf, ihr Brot zu kaufen. Manchmal sind auch nur Kinder da: vielleicht acht- bis zehnjährige Mädchen und Buben, schmutzig, zerzaust und zerlaust; geschäftstüchtig balgen sie sich um jeden Kunden, jedes Pfund, das sie für sechs Brotfladen einnehmen können.

Einmal bisher kaufte ich das Sonnenbrot – es schmeckt herrlich, ist knusprig, vielleicht etwas zu wenig gesalzen. Aber die salzigen ägyptischen Speisen machen dies vermutlich wett. Scheinbar wird das Sonnenbrot zu gesalzenem Fisch gegessen. Doch das Fladenbrot...  nein, ich kann es einfach nicht vom Strassenboden kaufen... Ausserdem gibt es da ganz verschiedene und das da, das grobe, etwas dunklere, mag ich nicht so besonders. Es gibt auch ein helles, luftiges Fladenbrot, das mag ich sehr gern und kaufe es manchmal von einem Backstand.

Wenige Schritte weiter wird es eng und rutschig. Eiergrosse Steine sollen wohl Pflastersteine ersetzen; wenn sie regelmässig verteilt wären, wäre das Gehen einfach. So aber besteht der Boden praktisch aus unregelmässig verteilten Dellen und Unebenheiten. Weggeworfene Fruchtschalen, ihr Saft, Papier und anderes haben den Grund in einen rutschigen Parcours verwandelt. Noch enger wird es zwischen den vielen Frucht- und Dattelständen. Hunderte von Menschen gehen hier täglich ein und aus, kaufen kiloweise Früchte und Gemüse – trotzdem ist es unsäglich eng.


manchmal geht es auch ruhig zu und her
Kleine, dicke, schwarz gewandete und verschleierte Frauen humpeln, riesige Taschen schleppend oder ihre Einkäufe auf dem Kopf balancierend, durch die engen Gänge. Wendige Kinder zwängen sich zwischen den Leibern hindurch, schlanke, schlaksige Bauern in braunen Kaftanen, hellen Turbanen und ausgelatschten Sandalen drängeln durch den Menschenstrom. Hie und da stupst mich beharrlich etwas am Arm, an der Hand: eine Bettlerin murmelt irgend etwas. Lässt sie nicht rasch genug von mir ab, wird sie nicht selten von einem Verkäufer angeherrscht zu verschwinden.

Manchmal ist das Weiterkommen unmöglich: unförmige, schwitzende Leiber, riesige Körbe und Tragtaschen, Träger mit schweren Kisten versperren den Weg. Wirklich Mühe bereitet es mir, wenn sich Träger mit blutendem Fleisch oder Innereien an mir vorbei quetschen möchten – da suche ich schon mal das Weite oder es entwischt mir ein Ausruf in Deutsch! In solchen Momenten sind die Fliegen besonders lästig. Jeder  Bauern hat seine eigene Methode gegen die Fliegen: einige brennen Raucherstäbchen ab, andere fuchteln mit Lumpen oder fächern mit meterlangen Wedeln über ihre verderbliche Ware.

Vorbei an von der Decke herabhängenden Viehkörpern, auf dem Boden liegen gebliebenen Innereien und Viehschwänzen dringe ich ins Herz des Marktes vor: eine überdachte Halle mit je einem schmalen Ausgang an jeder Ecke. Den Wänden entlang haben die Fellachen ihr Gemüse oder ihre Früchte in kunstvollen Bergen aufgeschichtet. Einige hocken lediglich am Boden, vor sich ihre Kartoffeln, Gurken, Auberginen, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch oder Karotten ausgebreitet. Die meisten haben jedoch einen Holztisch und manchmal auch Körbe aufgestellt: Okra, Zucchetti, Bohnen, Limonen, Paprika und Chili sind da auch zu finden.

Im Inneren der Halle sind in einem grossen Rechteck weitere Stände mit Gemüse, aber auch Salaten, riesigen Kohlköpfen und frischem Grünzeug wie Minze, Salbei, Petersilie, Molochia, Spinat u.a. aneinander gereiht. Schönen Salat („andik chass täsa?“ – hast du frischen Salat?) gibt es bei einer kleinen Bäuerin mit dunkelblauem Kopftuch. Sie ist die einzige Frau im ganzen Markt, thront zuoberst auf ihrem Grünzeug und ihr linker Arm endet in einem Stumpf. Bei ihr stehen immer ein paar Frauen zum Schwatz; hilfsbereit picken sie für mich den schönsten Salatkopf heraus.

Der Durchgang zwischen den Ständen ist trotz der Grösse der Halle ebenso eng wie ausserhalb. Ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere. Wie an den schmalen seitlichen Durchgängen, stehen auch hier Kisten mit nicht mehr verkaufbarer Ware, daraus suchen sich in der Hocke kauernd die Ärmeren noch Verwertbares zusammen. Im Halbdunkel der Halle, halb unter den Tischen versteckt, sind sie mit ihrer dunklen Kleidung leicht zu übersehen. Hie und da huscht eine Ratte von da nach dort, das Weite suchend.

Im nördlichen Teil der Halle gibt es Saisonfrüchte zu kaufen: Bananen, Äpfel, Orangen, Feigen, Mangos, Granatäpfel, Trauben, Feigen. Die ersten Khakis sind auch schon aufgetaucht. Und Datteln in allerlei Farben, Formen, Grössen, frisch oder getrocknet. Am grössten war die Auswahl an Datteln während des Ramadans: zehn, fünfzehn verschiedene Sorten (oder mehr?) lagen in offenen Säcken zum Verkauf bereit.

Die Grösse der Halle schluckt den Lärm etwas; hie und da dringen die höflichen, freundlichen Aufforderungen der Händler an mein Ohr... „batatis, ia madaam“, „bitingaan kuaiessah ia madaam“... Manchmal lächle ich einem Händler zu, bedanke mich, morgen vielleicht... oder lächle einfach in mich hinein... Die Welt da, die ist so anders...

So laut wie draussen vor der Halle ist es hier drinnen nicht. Es ist auch einigermassen kühl: die riesigen Ventilatoren hoch oben an der Deck und die vier Ausgänge sorgen für einen Austausch der Luft. Sogar Fliegen hat es weniger – immer noch aber genügend, um sie als lästig zu empfinden.

An jeder Seite der Halle gibt es auch noch Nischen, vielleicht zwei Meter breit und drei Meter tief; dort werden Grundnahrungsmittel wie Reis, Nudeln, Hülsenfrüchte und manchmal auch Gewürze verkauft. Die Ware wird aus riesigen Säcken geschöpft und abgefüllt.

Ausserhalb der Halle haben weitere Gemüse- und Obsthändler ihre Tische aufgebaut: Berge von winzigen süssen, grünen oder gelben Bananen, saftigen Melonen und noch mehr Datteln sind dort in grosser Vielfalt zu finden. Abseits stehen einige Fischstände – denen ich aber noch nie zu nahe gekommen bin, besonders nachmittags. Auch Frischkäse in seiner Molke wird angeboten – der gleissenden Sonne, den Fliegen und allen vorübergehenden Menschen ausgesetzt. Seitlich der Halle können Eier, Huhn und Fleisch, frisch oder gefroren, erstanden werden. Dazwischen existieren auch noch die kleinen Supermärkte, die von Seifen über Öl bis zu Konserven, Getränken, Nudeln und Käse alles wichtige für den Haushalt anbieten. Diese kleinen Läden finden sich in jedem Quartier, in jeder Strasse, an jeder Ecke... Die einen überleben, die anderen schliessen nach wenigen Monaten wieder...


alles, was Magen und Gaumen begehren
 Meine vollen Taschen wiegen schwer und ich beeile mich, aus dem beengenden Ameisenhaufen hinaus zu kommen. Meine rechte Hand fühlt sich schmutzig und klebrig an: prüfen und auswählen der Ware, reichen und entgegennehmen der Münzen und Geldscheine hinterlassen ihre Spuren. Habe ich erst mal die Halle hinter mir, steht noch die „Fliegenallee“ und der letzte Spiessrutenlauf zwischen den wilden Händlern vor mir. Letztere bieten nur eine einzige Ware an: nur Grünzeug, nur Datteln, nur diese kleinen, grünen, kugelrunden Limonen, während des Ramadans auch noch Spielzeug made in China... Wohl sind sie die ärmeren Bauern, die ihre bescheidene Ernte am Ausgang feilhalten. Hier finden sich aber oft die schönsten Trauben, die süssesten Melonen, die grössten Datteln.

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint: alles hat auch hier seine bestimmte Ordnung, seine Regeln, jeder seinen Platz, jede Ware ihren Preis. Die Verkäufer sind ernst, aber höflich und viele erkennen mich wieder seit ich regelmässig herkomme. Ganz selten kommt es vor, dass ich etwas kaufen will, mich dann aber vom Stand abwende, weil ich nicht korrekt behandelt werde. Mehrheitlich  kaufen hier Einheimische ein, aber auch viele Ausländer wie ich kommen regelmässig hierher, um ihre Einkäufe zu erledigen. Die Auswahl ist gross und es findet sich immer ein Stand mit frischer Ware.

Ein Platz von vielleicht 100 Quadratmetern bleibt noch zu überqueren. Kürzlich stand da ein Müllwagen mit offener Lade: er hatte seinen gesamten Inhalt hier ausgekippt. Die „Zabaleen“, die von der Stadt angestellten Müllsammler, allesamt in dunkelblauer Arbeitskleidung mit breiten orangen Streifen auf den Ärmeln und weissen Turbanen, alte Männer, ausgemergelt, mit von der Sonne verbrannten, zerfurchten Gesichtern standen um Abfallberg und Müllwagen schwatzend herum. Mir wurde in Kopf, Bauch und Herz elend...

Später, bei einem weiteren Einkauf, fand ich den Platz wieder wie vorher: die unebenen Steine, Unrat, verstreutes Stroh, vielleicht ein paar mehr Steine, die Unebenheiten auszugleichen versuchend.

Weiter vorne, vielleicht 50 Meter entfernt, gegen die Hauptstrasse hin, warten die Mikrobusse, die von hier nach Sekalla fahren. Ich raffe mich auf, den Platz in der Sonne mit den schweren Einkäufen zu überqueren und einen Sitz in einem der engen, heissen Busse zu ergattern, um ihm nach einer zwanzigminütigen Stop-and-Go-Fahrt erleichtert wieder zu entfliehen.

Fünf Minuten Fussmarsch noch, dann können Hände gewaschen, verschwitzte Kleider abgestreift und alle Eindrücke und Empfindungen in der kühlen Dusche heruntergespült werden.