Sonntag, Juni 13, 2010

Einkauf im Souk

Bei jedem Schritt rutsche ich mit den Fersen von meinen geliebten italienischen Sandalen. Monatelang schon übe ich das achtsame Gehen auf unebenem Untergrund. Trotzdem geschieht es noch täglich, dass ich ausrutsche und fast umknicke. Glücklicherweise bin ich erst einmal auf etwas Spitzes getreten, das mir in die Fusssohle schnitt. Und den Fussknöchel habe ich auch nur einmal schmerzhaft verrenkt, weil ich ein Loch übersah. Doch das war ganz am Anfang.

Die Sonne brennt mir ins Gesicht, mit der Hand versuche ich, mich vor den gleissenden Strahlen zu schützen. Ein paar Schritte noch und ich rette mich in den  Schatten. Zwischen zwei Gebäuden liegt ein freier Platz, der zum Eingang des Souks, des Gemüse- und Fruchtmarktes, führt. Links und rechts, direkt am Strassenrand, nur einen schmalen Durchgang gewährend, sind Bambusgitter wenige Zentimeter über dem Boden ausgebreitet; darauf liegen Hunderte von hellbraunen Brotfladen zum Verkauf. Ein etwas dickeres, ebenfalls rundes, vielleicht Teller grosses Brot fällt mir auf: das „Aisch Schamssi“ – das Sonnenbrot. Es wird in der Sonne gebacken und wird bis ca. vier Zentimeter dick.

Schwarz gekleidete Frauen mit dunklen Kopftüchern hocken neben ihren Brotfladen auf dem Boden, unter sich ein ausgebreitetes Stück Karton, tuscheln, schnattern und lachen munter miteinander, dazwischen fordern sie die Passanten auf, ihr Brot zu kaufen. Manchmal sind auch nur Kinder da: vielleicht acht- bis zehnjährige Mädchen und Buben, schmutzig, zerzaust und zerlaust; geschäftstüchtig balgen sie sich um jeden Kunden, jedes Pfund, das sie für sechs Brotfladen einnehmen können.

Einmal bisher kaufte ich das Sonnenbrot – es schmeckt herrlich, ist knusprig, vielleicht etwas zu wenig gesalzen. Aber die salzigen ägyptischen Speisen machen dies vermutlich wett. Scheinbar wird das Sonnenbrot zu gesalzenem Fisch gegessen. Doch das Fladenbrot...  nein, ich kann es einfach nicht vom Strassenboden kaufen... Ausserdem gibt es da ganz verschiedene und das da, das grobe, etwas dunklere, mag ich nicht so besonders. Es gibt auch ein helles, luftiges Fladenbrot, das mag ich sehr gern und kaufe es manchmal von einem Backstand.

Wenige Schritte weiter wird es eng und rutschig. Eiergrosse Steine sollen wohl Pflastersteine ersetzen; wenn sie regelmässig verteilt wären, wäre das Gehen einfach. So aber besteht der Boden praktisch aus unregelmässig verteilten Dellen und Unebenheiten. Weggeworfene Fruchtschalen, ihr Saft, Papier und anderes haben den Grund in einen rutschigen Parcours verwandelt. Noch enger wird es zwischen den vielen Frucht- und Dattelständen. Hunderte von Menschen gehen hier täglich ein und aus, kaufen kiloweise Früchte und Gemüse – trotzdem ist es unsäglich eng.


manchmal geht es auch ruhig zu und her
Kleine, dicke, schwarz gewandete und verschleierte Frauen humpeln, riesige Taschen schleppend oder ihre Einkäufe auf dem Kopf balancierend, durch die engen Gänge. Wendige Kinder zwängen sich zwischen den Leibern hindurch, schlanke, schlaksige Bauern in braunen Kaftanen, hellen Turbanen und ausgelatschten Sandalen drängeln durch den Menschenstrom. Hie und da stupst mich beharrlich etwas am Arm, an der Hand: eine Bettlerin murmelt irgend etwas. Lässt sie nicht rasch genug von mir ab, wird sie nicht selten von einem Verkäufer angeherrscht zu verschwinden.

Manchmal ist das Weiterkommen unmöglich: unförmige, schwitzende Leiber, riesige Körbe und Tragtaschen, Träger mit schweren Kisten versperren den Weg. Wirklich Mühe bereitet es mir, wenn sich Träger mit blutendem Fleisch oder Innereien an mir vorbei quetschen möchten – da suche ich schon mal das Weite oder es entwischt mir ein Ausruf in Deutsch! In solchen Momenten sind die Fliegen besonders lästig. Jeder  Bauern hat seine eigene Methode gegen die Fliegen: einige brennen Raucherstäbchen ab, andere fuchteln mit Lumpen oder fächern mit meterlangen Wedeln über ihre verderbliche Ware.

Vorbei an von der Decke herabhängenden Viehkörpern, auf dem Boden liegen gebliebenen Innereien und Viehschwänzen dringe ich ins Herz des Marktes vor: eine überdachte Halle mit je einem schmalen Ausgang an jeder Ecke. Den Wänden entlang haben die Fellachen ihr Gemüse oder ihre Früchte in kunstvollen Bergen aufgeschichtet. Einige hocken lediglich am Boden, vor sich ihre Kartoffeln, Gurken, Auberginen, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch oder Karotten ausgebreitet. Die meisten haben jedoch einen Holztisch und manchmal auch Körbe aufgestellt: Okra, Zucchetti, Bohnen, Limonen, Paprika und Chili sind da auch zu finden.

Im Inneren der Halle sind in einem grossen Rechteck weitere Stände mit Gemüse, aber auch Salaten, riesigen Kohlköpfen und frischem Grünzeug wie Minze, Salbei, Petersilie, Molochia, Spinat u.a. aneinander gereiht. Schönen Salat („andik chass täsa?“ – hast du frischen Salat?) gibt es bei einer kleinen Bäuerin mit dunkelblauem Kopftuch. Sie ist die einzige Frau im ganzen Markt, thront zuoberst auf ihrem Grünzeug und ihr linker Arm endet in einem Stumpf. Bei ihr stehen immer ein paar Frauen zum Schwatz; hilfsbereit picken sie für mich den schönsten Salatkopf heraus.

Der Durchgang zwischen den Ständen ist trotz der Grösse der Halle ebenso eng wie ausserhalb. Ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere. Wie an den schmalen seitlichen Durchgängen, stehen auch hier Kisten mit nicht mehr verkaufbarer Ware, daraus suchen sich in der Hocke kauernd die Ärmeren noch Verwertbares zusammen. Im Halbdunkel der Halle, halb unter den Tischen versteckt, sind sie mit ihrer dunklen Kleidung leicht zu übersehen. Hie und da huscht eine Ratte von da nach dort, das Weite suchend.

Im nördlichen Teil der Halle gibt es Saisonfrüchte zu kaufen: Bananen, Äpfel, Orangen, Feigen, Mangos, Granatäpfel, Trauben, Feigen. Die ersten Khakis sind auch schon aufgetaucht. Und Datteln in allerlei Farben, Formen, Grössen, frisch oder getrocknet. Am grössten war die Auswahl an Datteln während des Ramadans: zehn, fünfzehn verschiedene Sorten (oder mehr?) lagen in offenen Säcken zum Verkauf bereit.

Die Grösse der Halle schluckt den Lärm etwas; hie und da dringen die höflichen, freundlichen Aufforderungen der Händler an mein Ohr... „batatis, ia madaam“, „bitingaan kuaiessah ia madaam“... Manchmal lächle ich einem Händler zu, bedanke mich, morgen vielleicht... oder lächle einfach in mich hinein... Die Welt da, die ist so anders...

So laut wie draussen vor der Halle ist es hier drinnen nicht. Es ist auch einigermassen kühl: die riesigen Ventilatoren hoch oben an der Deck und die vier Ausgänge sorgen für einen Austausch der Luft. Sogar Fliegen hat es weniger – immer noch aber genügend, um sie als lästig zu empfinden.

An jeder Seite der Halle gibt es auch noch Nischen, vielleicht zwei Meter breit und drei Meter tief; dort werden Grundnahrungsmittel wie Reis, Nudeln, Hülsenfrüchte und manchmal auch Gewürze verkauft. Die Ware wird aus riesigen Säcken geschöpft und abgefüllt.

Ausserhalb der Halle haben weitere Gemüse- und Obsthändler ihre Tische aufgebaut: Berge von winzigen süssen, grünen oder gelben Bananen, saftigen Melonen und noch mehr Datteln sind dort in grosser Vielfalt zu finden. Abseits stehen einige Fischstände – denen ich aber noch nie zu nahe gekommen bin, besonders nachmittags. Auch Frischkäse in seiner Molke wird angeboten – der gleissenden Sonne, den Fliegen und allen vorübergehenden Menschen ausgesetzt. Seitlich der Halle können Eier, Huhn und Fleisch, frisch oder gefroren, erstanden werden. Dazwischen existieren auch noch die kleinen Supermärkte, die von Seifen über Öl bis zu Konserven, Getränken, Nudeln und Käse alles wichtige für den Haushalt anbieten. Diese kleinen Läden finden sich in jedem Quartier, in jeder Strasse, an jeder Ecke... Die einen überleben, die anderen schliessen nach wenigen Monaten wieder...


alles, was Magen und Gaumen begehren
 Meine vollen Taschen wiegen schwer und ich beeile mich, aus dem beengenden Ameisenhaufen hinaus zu kommen. Meine rechte Hand fühlt sich schmutzig und klebrig an: prüfen und auswählen der Ware, reichen und entgegennehmen der Münzen und Geldscheine hinterlassen ihre Spuren. Habe ich erst mal die Halle hinter mir, steht noch die „Fliegenallee“ und der letzte Spiessrutenlauf zwischen den wilden Händlern vor mir. Letztere bieten nur eine einzige Ware an: nur Grünzeug, nur Datteln, nur diese kleinen, grünen, kugelrunden Limonen, während des Ramadans auch noch Spielzeug made in China... Wohl sind sie die ärmeren Bauern, die ihre bescheidene Ernte am Ausgang feilhalten. Hier finden sich aber oft die schönsten Trauben, die süssesten Melonen, die grössten Datteln.

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint: alles hat auch hier seine bestimmte Ordnung, seine Regeln, jeder seinen Platz, jede Ware ihren Preis. Die Verkäufer sind ernst, aber höflich und viele erkennen mich wieder seit ich regelmässig herkomme. Ganz selten kommt es vor, dass ich etwas kaufen will, mich dann aber vom Stand abwende, weil ich nicht korrekt behandelt werde. Mehrheitlich  kaufen hier Einheimische ein, aber auch viele Ausländer wie ich kommen regelmässig hierher, um ihre Einkäufe zu erledigen. Die Auswahl ist gross und es findet sich immer ein Stand mit frischer Ware.

Ein Platz von vielleicht 100 Quadratmetern bleibt noch zu überqueren. Kürzlich stand da ein Müllwagen mit offener Lade: er hatte seinen gesamten Inhalt hier ausgekippt. Die „Zabaleen“, die von der Stadt angestellten Müllsammler, allesamt in dunkelblauer Arbeitskleidung mit breiten orangen Streifen auf den Ärmeln und weissen Turbanen, alte Männer, ausgemergelt, mit von der Sonne verbrannten, zerfurchten Gesichtern standen um Abfallberg und Müllwagen schwatzend herum. Mir wurde in Kopf, Bauch und Herz elend...

Später, bei einem weiteren Einkauf, fand ich den Platz wieder wie vorher: die unebenen Steine, Unrat, verstreutes Stroh, vielleicht ein paar mehr Steine, die Unebenheiten auszugleichen versuchend.

Weiter vorne, vielleicht 50 Meter entfernt, gegen die Hauptstrasse hin, warten die Mikrobusse, die von hier nach Sekalla fahren. Ich raffe mich auf, den Platz in der Sonne mit den schweren Einkäufen zu überqueren und einen Sitz in einem der engen, heissen Busse zu ergattern, um ihm nach einer zwanzigminütigen Stop-and-Go-Fahrt erleichtert wieder zu entfliehen.

Fünf Minuten Fussmarsch noch, dann können Hände gewaschen, verschwitzte Kleider abgestreift und alle Eindrücke und Empfindungen in der kühlen Dusche heruntergespült werden.

Freitag, April 16, 2010

Demokratie

Feierabend. Draussen ist es bereits dunkel und vor mir sitzt Ahmed, mein Deutschschüler. Ahmed ist ein guter Schüler, macht fast immer die Hausaufgaben - zumindest, wenn er gut drauf ist. Abends ist er todmüde, denn er arbeitet als Tauchlehrer und spielt für die Gäste den Sonnyboy. Deswegen hat er viele Stammgäste und er ist beliebt.

Eigentlich hat er Jurisprudenz studiert, in Alexandria. Dort könnte er auch als Anwalt arbeiten, aber seine französische Frau würde keine Arbeit finden. Deshalb arbeitet er am Roten Meer als Tauchlehrer. Seine Frau auch.

Wir üben Hilfsverben, heute ist das Verb möchten an der Reihe. Wir konjugieren ich möchte, du möchtest, er möchte, …. Dann bilden wir Sätze mit vorgegebenen Wörtern.

Und nun: bilde eigene Sätze mit dem Verb möchten!

Ahmed sieht in die Ferne und spricht langsam Wort für Wort:

Wir… möchten… Demokratie!



Donnerstag, März 04, 2010

Im Taxi

Draussen zieht die gelbrote Wüstenlandschaft an mir vorbei. Am Horizont flirrt die Luft, Himmel und Sand formen ein fremdes, verschwommenes Bild.

Es ist heiss. Der Fahrtwind zerzaust mir die Haare, wirbelt sie mir ums Gesicht und in die Augen. Weshalb nur vergesse ich jedes Mal, den Haargummi mitzunehmen, wenn ich ein Taxi nehme? Allmählich sollte ich es ja wissen! Fahre ich doch lieber mit offenem Fenster als mit Klimaanlage, wenn es so wahnsinnig heiss ist.

Der Sand leuchtet gelblich, die Berge im Hintergrund zeichnen sich klar gegen den stahlblauen Himmel ab. In der Ferne liegt ein unbewegliches blaues Band: das Meer.

Oh, wie sehr ich diese Hitze, den heissen Wind, die Wüste liebe! Die Fahrt könnte wegen meiner Stunden lang dauern. Die Strasse ist gut. Hie und da passieren wir einen Checkpoint und Mustafa ist ein ausgezeichneter Fahrer.

Eigentlich fährt er wie ich: keine starke Beschleunigung, sanftes Schalten, kein ruckartiges Bremsen. Behutsam lenkt er den Wagen, ohne dass ich es spüre. Wir gleiten ruhig und schweigsam durch diese scheinbar öde Landschaft. Eine Landschaft, die mich unendlich fasziniert: die Farbe des grobkörnigen Sandes, die vom Wind geformten Hügel, die in sanften Wellen vom Meer weg hin zum Gebirge rollen, die kargen, dunklen, brüchigen Felsen. Hin und wieder da ein Sträuchlein, dort ein paar Büschel Gras, ein einsamer windzerzauster Baum.

„Arabisch oder Englisch?“ Mustafa hält fragend eine Musikkassette in den Händen. Arabisch bitte! Als die Musik ertönt, blicke ich wieder in die Wüste hinaus, damit Mustafa mein Gesicht nicht sieht. Meine Augen werden feucht. Ich möchte ewig so weiter fahren.

Montag, Februar 15, 2010

Denderah

Von meinem Wohnsitz in Hurghada ist eine der am nächsten gelegenen Tempelanlagen jene von Denderah, mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar in einem Tagesausflug.

Denderah ist selten besucht, da es nördlich der vom Massentourismus frequentierten Route Luxor – Assuan liegt. Mir ist das recht so.

Morgens um halb acht besteige ich den Linienbus nach Qena. Zweimal täglich fährt er in rund drei Stunden in die Stadt am Nil, Pause in einer Raststätte auf dem Pass in den Bergen inbegriffen. Der Bus ist in einem enttäuschenden Zustand, gleich jenen Bussen, die mehrmals täglich zwischen Hurghada und El Gouna hin und zurück fahren. Die Sitze sind schmutzig und angeknabbert, die ebenfalls verschmutzten Vorhänge baumeln lose an den Fenstern und sind entweder im Weg – sofern man die Landschaft betrachten will – oder lassen sich nicht zu ziehen – sofern man sich vor der blendenden Sonne schützen will. Die Fenster lassen sich nicht öffnen oder nicht schliessen – ausser mit grossem Krafteinsatz - und sind verschmiert. Die Aufhängerichtung und das Netz an der Rücklehne des Vordersitzes sind meistens unbrauchbar. Ich habe Glück: meine Plastiktasche findet einen Haken.

Ausgerüstet mit Wasserflasche, belegten Broten, einem Schal, der mir gegen den Zugwind im Bus und als Kopfbedeckung gegen die Sonne dienen wird sowie meiner Fotokamera nehme ich auf Sitz nur 18 Platz. Neben mir sitzt ein älterer dicker Mann in einem wollenen Nadelstreifenanzug. Während der langen Fahrt redet er nicht ein einziges Wort und bewegt sich auch nicht. Meistens schläft er oder er hat zumindest die Augen zu. Ich versuche, mit meinen Feuchttüchlein der Fensterscheibe etwas Durchsicht zu verschaffen, was mir nur halbwegs gelingt.

Der Chauffeur ist ein gut gelaunter mittelalterlicher Ägypter, leicht angegraut und etwas beleibt. Er lacht viel und zeigt ebenso viele Zahnlücken. Er startet den laut knatternden Motor und fährt hinaus auf die Innere Ringstrasse. Kaum haben wir die letzten Aussenquartiere Hurghadas hinter uns gelassen, ertönt aus dem Kassettengerät in voller Lautstärke religiöse Musik, in welcher Prophet Mohammed Lob gepriesen wird. Leider wechselt er die Kassette während der ganzen Fahrt nie und ich bin fast dankbar, dass Lärm und Fahrtwind so etwas wie einen Schalldämpfer bilden.

Am Checkpoint gibt’s fröhliches Gelächter und freundliches Winken und zügig geht es weiter nach Safaga. Dort zweigt die gut ausgebaute zweispurige und richtungsgetrennte Fahrbahn Richtung Westen ab. Die Berge nähern sich, der Bus wird langsamer, obwohl es nicht wirklich steil ist. So habe ich Gelegenheit, die Stein- und Felswüste gemütlich an mir vorbei ziehen zu lassen. Seltsamerweise erinnere ich mich recht gut an diese Landschaft, die ich vor fast drei Jahren schon einmal – damals noch als ortsunkundige Touristin in einem modernen Reisecar einer grossen Reiseagentur und im polizeilich begleiteten Konvoi – in entgegengesetzter Richtung gesehen hatte. Ein einsamer Baum steht wie ein Schatten spendender Schirm im Sand. Dornengebüsch kauert in einer Mulde, hie und da ist Wasser zu vermuten, weil sich hier sofort etwas Grünzeug ansammelt.. Dort liegt ein Felsbrocken, hinter dem man ein dringendes Geschäft erledigen könnte...

Doch der Bus hält nur an den Checkpoints und schreitet nachher wieder zügig aus, manchmal in beängstigend hohem Tempo. Der Fahrer ist routiniert, hat den Wagen im Griff... einzig die Kurven nimmt er hie und da etwas übermütig und der Bus schlingert unmerklich. Gewiss beschützt uns Allah, denn dem Propheten Mohammed wird alle Ehre erwiesen: einige Mitreisende singen die Lieder mit!

Etwas abseits der Strasse bewegen sich farbige Punkte. Nein, es sind Beduinenfrauen und -mädchen, die Ziegen weiden, einen Esel oder ein Dromedar mit sich führend. Die Frauen tragen bodenlange knallbunte Röcke und einen hüftlangen tiefschwarzen Schleier. In der gelbbraunrötlichen Kargheit stechen diese Farben kontrastreich hervor. Die Szene wirkt wie eines dieser kitschigen Bilder aus Tausend und Einer Nacht, die man in Kairos Altstadt überall kaufen kann. Doch diese hier ist Wirklichkeit. Der Bildausschnitt rutscht aus meinem Blickfeld, wir sind auf dem Pass angelangt.

Wir halten vor einer dieser vielen Raststätten, die sich auf der langgestreckten Passhöhe aneinander reihen und die ich immer noch in Erinnerung habe. Leise hatte ich die Hoffnung gehegt, dass wir bei jenem grossen Restaurant anhalten würden, vor dem auch die Touristenbusse pausieren. Ich träumte wohl! So muss ich mich mit dem üblichen Standard von Toilette anfreunden. Während einige der Mitreisenden ihren Tee schlürfen, vertrete ich mir die Beine und warte im Schatten einiger Oleanderbüsche. Es ist nicht heiss, ein angenehm leichter Wind weht, aber die Sonne ist kräftig. Von weitem beobachte ich, wie traditionell farbig gekleidete Mädchen auf Touristen warten. Ein kleines Mädchen mit einem Lämmchen auf dem Arm, eine hübsche junge Frau mit einem Dromedar, ein paar dunkelbraune Ziegen drumherum – das sind dankbare Sujets für die Digitalkameras der Ausländer.

Wir nehmen wieder unsere Sitzplätze ein. Der schweigsame Mann neben mir überrascht mich: er hat ein Zweiglein blühenden Thymian abgeknipst und steckt es nun vor sich am Sitz fest. Der Duft ist angenehm und überdeckt die anderen Gerüche im Bus.

Nach einem weiteren Checkpoint rast der Bus talwärts. Mir wird fast etwas bange und ich halte mich am Griff vor mir fest – eine nutzlose Geste, wenn ich es mir genau überlege... Die Berge ziehen sich zurück, die Landschaft weitet sich. Plötzlich sehe ich grün. Felder mit grünen Pflänzchen, schön aufgereiht, dazwischen erkenne ich Wasserschläuche, eine Sprinkleranlage? Sehr bald sind die Pflanzungen in der Mehrzahl. Erstaunt stelle ich fest, wie wunderbar angenehm und beruhigend das Grün für meine Augen ist. Ich habe mich an die Wüste und die Trockenheit so sehr gewöhnt, sodass ich den Anblick der vielen Felder und Palmen regelrecht geniesse.

Wir erreichen Qena, überqueren den Nil und nach wenigen Minuten hält der Bus an. Endstation. Ich steige aus und frage sicherheitshalber ein drittes Mal, wann der Bus am Nachmittag wieder abfährt. Die Auskunft ist zum Glück identisch mit den vorherigen!

Ein paar Minuten bleibe ich unter einer grossen, Schatten spendenden Platane stehen und geniesse die anders riechende Luft, die Ruhe und die Umgebung. Eine Strasse wie viele in Ägypten: kleine Supermärkte, kleine Imbissbuden, Kaffeehäuser, davor sitzende Männer, die sich langweilen und alles und jeden beobachten. Die Ruhe hält leider nicht lange an, denn der erste Taxifahrer macht sich bemerkbar. Ich gebe ihm ein Zeichen, dass ich ihn vielleicht später brauche, dass er mich in Ruhe lassen soll.

Aus den Augenwinkeln schaue ich mir den Fahrer genauer an, doch, er scheint okay zu sein und ich frage ihn, wie viel er denn für die Fahrt nach Denderah verlange. Wir sind uns über den Preis einig, obwohl mir während der Fahrt wieder mal klar wird, dass ich zuviel bezahle. Entlang eines Bewässerungskanals und Feldern sind wir schon nach knapp 10 Minuten am Eingangstor der Tempelanlage. Die Wachleute fragen den Taxifahrer, woher ich komme, was ich will... er antwortet ihnen, dass ich Arabisch spreche.

Die Fragerei nervt mich seit eh und je und ich frage die uniformierten Männer, weshalb sie denn all das wissen wollten. Sie erklären mir, dass sie diese Angaben für die Statistik benötigen. Ah ja, klar. Im Polizeistaat Ägypten kann man keinen Schritt unbeaufsichtigt tun. Da ich nicht in einer Gruppe reise und somit kein Reiseführer Auskunft geben kann, muss ich das für mich selber machen.

Ich kaufe ein Ticket und gehe zu den Toiletten – wo ich mich zuerst mal beschwere. Für die Benützung wird Geld verlangt, aber es hat kein Wasser zum Spülen, obwohl die Räumlichkeiten internationalem Standard entsprechen und sauber sind. Der Chef der Putzequipe kommt herbei geeilt und meint, das Wasser würde halt immer wieder abgestellt. Mir egal. Ich bin wütend. Wiedermal. Als Tourist wird man einfach ausgenommen und wenn etwas nicht klappt, gibt es immer diese blöden hilflosen Erklärungen. Typisch ägyptisch.

Ich binde mir mit meinem Schal einen Turban und gehe hinaus in die Sonne. Ein grosser Platz führt zum Haupttempel, seitlich davon ziehen hübsche Gartenlauben meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich setze mich in den Schatten, trinke etwas und esse ein Brötchen. So komme ich wieder zur Ruhe und lache schlussendlich über mich. Während ich meinen Fotoapparat vorbereite, rufe ich mir wieder ins Bewusstsein, in welchem Land ich bin. Die Anlage scheint leer zu sein. Ein Pärchen strolcht zwischen den Trümmern einstiger Grösse durch, schwarze Uniformen lösen sich da und dort aus dem Schatten. Ich mache mich seelisch darauf gefasst, dass mich die Uniformen sofort in Beschlag nehmen werden – und geniesse noch ein wenig die schattige Stille unter den Lauben.

Ich trete durch ein weiteres Tor und bin schon gefangen. Der gross gewachsene und attraktive Mann führt mich ins Mammisi (Geburtshaus), zeigt mir dort Gemälde, welche Geschenkübergaben darstellen, weist mich auf die letzten Spuren einer koptischen Kirche... Dinge, für die ich ihn eigentlich nicht brauche; er fragt mich aus, wie es hier üblich ist. Ich spiele das Spiel mit, denn er spricht kaum Englisch und so kann ich mein Arabisch anwenden. Und hoffe natürlich, dass er mir etwas Interessantes zeigen kann. Dem ist nicht so und als wir uns dem Haupttempel nähern, erklärt er, dass er nicht weiter darf.

Mir ist das recht, drehe mich um und... da sehe ich schon den nächsten Wachmann lächelnd auf mich zukommen. Ich höre noch, wie der erste seine Kollegen über meinen Zivilstand informiert. Oh, muss das hier wichtig sein!!

Der zweite Wachmann ist klein, dicklich und wirkt schmuddelig. Genauso sind auch seine Gesten, als er mir den Zweck der Zugänge zum Grundwasser zeigt: die Menschen kamen und kommen noch heute hierher, um ihre Geschlechtsteile mit dem angeblich Fruchtbarkeit fördernden Nilwasser zu benetzen. Er entschuldigt sich x-mal und jedes Mal von neuem. Zu meiner Überraschung ist das Wasser glasklar, die Treppenstufen sind nicht von Algen bedeckt, d.h., das Wasser scheint sauber zu sein. Trotzdem tauche ich meine Hand nicht hinein – ich will ja nicht plötzlich schwanger werden!

Vier Treppen auf vier Seiten führen hinab zum Grundwasser. Die Mauern sind hoch und mitten drin stehen Palmen. Im Frühling, wenn der Nil das Hochwasser aus der äthiopischen Hochebene herführt, bildet sich ein See in diesem Mauerwerk.

Der Mann führt mich weiter rund um den Haupttempel, zeigt mir kleinere Tempel ausserhalb und die ewig selben Bilder zum Thema Fruchtbarkeit. Innerlich kugle ich mich fast vor Lachen. Der arme Kerl scheint noch nicht verheiratet zu sein.

Irgendwann wird es mir zu blöd und ich sage ihm, dass ich nun alleine weiter gehen möchte. Er akzeptiert dies sofort und geht weg. Ich setze mich erst mal auf einen über Zweitausend jährigen Steinklotz hin und schaue mir den Haupttempel von Aussen an: er ist voller Bilder und Zeichnungen, zeigt Cleopatra und Cäsarion, ihrem Sohn. Wenn ich an solchen Orten bin, möchte ich nicht nur sehen, sondern auch fühlen. Das ist aber in Begleitung eines geschwätzigen Wachmannes unmöglich. Ich bin froh, sind kaum Besucher hier, ja, es hat mehr Wachpersonal als Besucher.

Nach einiger Zeit gehe ich hinein: eine Halle mit 24 Säulen, in blau und gold bemalt, die Decke bis auf jeden Zentimeter mit Darstellungen des göttlichen Daseins in den gleichen Farben verziert. Ich bin fasziniert, stehe und staune schweigend. Es folgend weitere Hallen, kleinere, reicher verzierte Seitenhallen, eine Treppe führt hinauf aufs Dach – wo ich schon wieder in die Hände eines Wachmannes gerate. Er zeigt mir die Decke mit den zwölf Tierkreiszeichen, die ich ohne ihn genauso gut gefunden hätte. Was ich aber möchte, ist die Landschaft rundum sehen. Dazu müsste ich noch etwas höher steigen, denn die Ziegelsteinmauern rund um das Gelände versperren die Sicht. Doch der Wachmann lässt mich nicht. Sein klägliches Bitten nach einem Kugelschreiber kann ich nicht erfüllen – ich habe schlicht nicht daran gedacht. Und als er mich um Geld bittet, erzürnt mich diese direkte Bettlerei. Ich klettere über eine Mauer hinab und steige wieder in die Tiefen des dunklen Tempels hinab.

Bevor ich in die Sonne trete, mache ich zwei Geldscheine parat. Ich bin mir sicher, dass mich die zwei Wachmänner am Ausgang abfangen. Und tatsächlich! Sie verabschieden sich Händeschüttelnd. Als ich dem zweiten den Schein in die Hand drücke, will er aufmeckern, das sei aber wenig – da kommt der erste hinter einer Ecke hervor, freut sich über das Trinkgeld und wünscht mir alles Gute. Gut gegangen, denke ich und lenke meine Schritte dem Ort zu, wo ich Souvenirs und ein Kaffee gesehen habe. Ich möchte Karten schreiben und ein Wasser trinken; meine Flasche ist schon lange leer. Die Verkäufer stürzen regelrecht auf mich zu und preisen mir ihre Schals, T-Shirts, Galabyas und Souvenirs an. Mehrmals muss ich nachdrücklich kundtun, dass ich kein Interesse habe. Die Preise im Kaffee verschlagen mir fast den Atem: die ganze Anlage ist ausgestorben, aber Preise wie in Luxor! Ich handle mein Wasser runter, kaufe zwei Ansichtskarten und Briefmarken dazu. Noch während ich sie schreibe, ruft mir mein Taxifahrer schon an. Der hat wohl Angst, dass ich mit einem anderen Taxi zurück nach Qena fahre. So beeile ich mich, verzichte auf einen weiteren Toilettengang und verlasse die Tempelanlage von Denderah.

Ausserhalb lasse ich meinen Blick nochmals über diese seit der Pharaonenzeit scheinbar still stehende Welt schweifen: Fellachen mit wehenden Galabyas und weissen Turbanen auf Eseln reitend, vor sich ein Bündel geschnittenes Zuckerrohr oder Alfaalfa, Fellachen in der Hocke in den grünen Feldern arbeitend, spielende, schmutzige Kinder, im Schatten sitzende Fellachen, riesige Ochsen, dicke, schwarz gekleidete Bäuerinnen, im lauen Wind sanft wehende Palmenwedel... und über allem der blaue Himmel...

Mein Taxifahrer holt mich zurück in die Wirklichkeit... er redet so schnell und viel, dass ich kaum etwas verstehe. Ich bitte ihn, zur Post zu fahren, damit ich meine Ansichtskarten aufgeben kann. Dann plappert er etwas, von wir beide und gemeinsam und ob ich wieder nach Qena komme, ich solle ihn doch anrufen. Ohje... Ich bin selber schuld; in Zukunft muss ich wieder sagen, ich sei verheiratet, dann habe ich meinen Frieden.

Ich bedanke mich bei ihm und steige aus. Der Bus steht schon da und ich vor einer Entscheidung: wo finde ich eine Toilette? Ich frage die Männer, welche die Bustickets verkaufen. Sicher zehn Männer hören meine Frage, einer sagt, ich solle in den Bahnhof nebenan gehen. In der Bahnhofshalle stehen jede Menge Männer herum, ich spreche jemanden an, der aussieht, als ob er hier für irgend etwas zuständig sei. Ein älterer Mann, der ebenso aussieht, fordert mich auf, mitzukommen.

Wir marschieren den Bahnsteig entlang durch eine grosse wartende Menschenmasse. Er fragt mich, ob ich Ägypterin oder Ausländerin sei. Ausländerin, antworte ich... Und wundere mich im Stillen: ist denn mein Arabisch so gut? Der Mann scheint plötzlich grösser, seine Schritte werden entschlossener, die Wartenden links und rechts schauen noch neugieriger auf mich und der Mann befielt der einzigen Frau in der Toilette, sie solle heraus kommen und zwar rasch. Er nimmt mir meine Jacke und Plastiktasche ab und bleibt vor der Türe stehen, bis ich wieder herauskomme. Ich komme mir vor wie im Film: die Leute gaffen oder bestaunen mich, als ob sie noch nie eine Frau in Jeans und T-Shirt gesehen hätten. Ich lächle, grüsse ein paar junge Fräuleins, die wie aufgeschreckte Krähen auf meine arabischen Worte reagieren. Plötzlich tauchen in meinem Kopf Bilder des Filmfestivals von Cannes auf... hier stehen zwar keine Journalisten mit dicken Fotoapparaten, aber jede Menge Menschen, die für mich Spalier stehen. Ich kann mir das Grinsen überhaupt nicht mehr verkneifen und marschiere vergnügt hinaus, bedanke mich mit einem Baksheesh bei dem alten Mann.

Der Bus steht immer noch da. Ich kann noch fünf Minuten im Schatten warten und bemerke dabei, dass die jungen Männer sogar über die zwei Meter hohe Mauer des Bahnhofsgeländes herüber stieren. Arme Kerle...

Wir fahren hinaus aus der Stadt. Diesmal sitzt eine junge Ägypterin neben mir, die schon bei der Herfahrt im Bus war. Ich frage sie, weshalb sie denn nach Qena gefahren war. Sie studiere hier, wohne aber in Hurghada. Dreimal wöchentlich verbringt sie sechst Stunden im Bus – und findet das die allernormalste Sache der Welt. Was sie studiert, habe ich leider nicht verstanden und für den Rest der Fahrt hingen wir unseren eigenen Welten nach.

Mein Blick bleibt für einen Moment auf dem Nil hängen: wie lange geht es wohl noch, bis ich endlich einmal auf dem Nil fahre, statt nur darüber?

Die Rückfahrt verläuft sozusagen identisch wie die Herfahrt: Prophet-Mohammed-Musik, mitsingende Reisegäste, kurzer Halt an der gleichen Raststätte, Checkpoints und haarsträubende Kurventechnik des Chauffeurs.

Meinen Schal habe ich mir um den Hals gebunden, obwohl es im Bus ungemütlich heiss ist. Eine Lüftungsanlage bläst die heisse Luft vom hinteren Teil des Busses nach vorne. Die Fenster sind aufgerissen und es herrscht ein kräftiger Durchzug. Bei Sonnenuntergang wird es rasch kühl. Doch da nähern wir uns wieder der Küste und erreichen bald darauf Hurghada.

Ich bin stolz auf mich. Müde, mit steifen Beinen entsteige ich dem grässlichen Bus und freue mich auf eine warme Dusche. Soeben habe ich meinen ersten Ausflug auf eigene Faust erfolgreich beendet.

Ein kleiner Nachgeschmack blieb während einiger Wochen in mir hängen: Ayman, der Taxifahrer versuchte mich immer und immer wieder anzurufen. Eines Tages rief er mich von einer unbekannten Nummer an. Ich sagte, ich sei beschäftigt, worauf er höflich fragte, ob er nochmals anrufen dürfe. Nein, erwiderte ich. Es tut mir wirklich leid, aber es gibt keinen Grund dazu...
                                      


Der Tempel von Denderah

Der Tempel ist römisch-griechischen Ursprungs und wurde in der Zeit  ca. 100 v. C. bis 60 n. C. erbaut. Schon früher waren an diesem Platz zu Ehren der Göttin Hathor Tempel errichtet worden. Die Griechen und Römer wollten die Tradition der Pharaonen mit diesem Tempel fortsetzen. Hathor wurde als Göttin der Fruchtbarkeit, der Liebe, der Musik und des Tanzes u.a. verehrt.
Die Farben und Malereien stechen hervor, weil sie so besonders gut erhalten sind. Grund dafür ist, dass der Tempel Jahrhunderte lang im Sand versunken war.

Denderah liegt gut 5 km westlich von Qena. Qena ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernorats und hat (gem. Wikipedia) fast 3 Mio. Einwohner.

Mehr Informationen zum Tempel von Denderah unter http://www.meritneith.de/dendera.htm




Montag, Januar 25, 2010

Einladung zum Iftar

Es ist Ramadan und ich bin in Ägypten. Bevor ich herkam, versuchte ich, mich über diesen Fastenmonat der Muslime zu informieren: Internet und Maghrebiner in Südfrankreich – wo ich mich zu jener Zeit aufhielt - gaben mir Auskunft.

Mit einer gewissen Portion Respekt bin ich sodann hergereist. Mein Ankunftstag war der erste Tag des Ramadans im Jahr 2008 und ich machte schon eine unschöne Erfahrung: ausserhalb des Flughafens Kairo, beim Busbahnhof, wollte ich – bereits ziemlich durstig - eine Flasche Wasser kaufen. Der Junge lag im Kiosk hinter dem Tresen auf dem Boden und verweigerte mir schlichtweg den Verkauf!

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Muslime fasten während des Ramadans von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Streng Gläubige nehmen während dieser Zeit keinerlei feste oder flüssige Nahrung zu sich, rauchen nicht und enthalten sich auch anderer körperlicher Wünsche. Andere schummeln ein bisschen... Täglich wird im Koran gelesen, denn der ganze Koran ist während des Ramadans durchzulesen. Viele Gebete werden absolviert, auch nachts, weshalb viele Muslime tagsüber müde sind und herumhängen. All dies fordert die Disziplin der Menschen heraus, besonders wenn die Tage lang und heiss sind, wie im Sommer.

Umso grösser sind Freude und Stolz, wenn ein weiterer Tag des Ramadans erfolgreich verlief und endlich das ersehnte Fastenbrechen, der „Iftar“, beginnt. Traditionellerweise werden Datteln und Nüsse gegessen, eine leichte Suppe und anderes. Häufig wird aber eher üppig, sehr süss und ausgiebig gespiesen, am liebsten im Kreis der ganzen Familie. Frauen und Töchter verbringen unzählige Stunden mit der aufwändigen Zubereitung aller Speisen. Krönung des Ramadans ist dann das „Aid al-fitr“-Fest, das drei Tage lang gefeiert wird.

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Im Verlaufe meines Aufenthaltes in Alexandria wurde ich mehrere Male zu einem „Iftar“ eingeladen. Ich empfand dies jeweils als grosse Ehre, bin ich doch Ausländerin und „Ungläubige“. Von einem dieser „Iftars“ möchte ich hier erzählen.

Ich erhielt die Einladung von einem Bekannten, den ich von Hurghada her kannte. Er hatte Ferien und weilte zuhause bei seiner Schwester und seinem Schwager. Ich war über die Einladung überrascht und erstaunt, lag dieses Zuhause doch näher bei Kairo als bei Alexandria! Unmöglich durfte ich diese Einladung jedoch ablehnen – ich hätte Hisham damit arg gekränkt!

Allerdings sass ich mit dieser Einladung etwas in der Klemme. Einerseits freute ich mich darüber, dass mir diese Gastfreundschaft und Herzlichkeit zuteil wurde. Andererseits konnte ich beim besten Willen Hisham’s Beteuerungen, die Fahrt zu ihm nach Zagazig City dauere höchstens zwei Stunden, keinen Glauben schenken. Lamia, eine Freundin in Alexandria, meinte, das sei viel weiter weg und die Fahrt dauere mindestens drei Stunden.

Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete mir die Aussicht auf mehrere Stunden Autofahrt auf den ägyptischen Strassen und einer Rückfahrt nachts, sofern mir das Glück hold sein würde.

Eine Wahl blieb mir nicht wirklich. Wie bei späteren Aufenthalten in diesem Land versuchte ich, mich mit dem Unvermeidbaren abzufinden und mich auf alles mögliche einzustellen. Das liest sich einfacher, als es dann in Wirklichkeit ist!

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Hisham versprach, er werde um zwei Uhr nachmittags in Alexandria ankommen – per Auto, mit einem Freund. Ich verliess meine Schule und das Stadtzentrum frühzeitig. Bald aber stellte ich fest, dass Hisham sich verspätete und sich in Alexandria überhaupt nicht auskannte. Ich liess ihn wissen, dass ich wieder ins Zentrum fahren würde, damit wir nicht noch mehr wertvolle Zeit verlören. Ein Iftar sollte schliesslich bei Sonnenuntergang beginnen können. Unterwegs rief er mich wieder an, ich solle doch zum Flughafen hinaus kommen! Mein Taxifahrer fluchte ärgerlich, denn inzwischen standen wir schon neben der berühmten Biblioteca Alexandrina im täglichen Vor-Iftar-Stau. Meine Vorahnung schien sich zu bewahrheiten...

Doch es klappte. Es war zwar schon halb vier und Hitze, die übliche hohe Luftfeuchtigkeit und der Stau hatten mir bereits so sehr zugesetzt, dass ich alles andere als Lust hatte, nochmals drei Stunden in ein Auto zu sitzen. Doch was sollte es? Ein Zurück gab es ja nicht mehr: da war ja Hisham!

Er erwartete mich an der Einfahrt zum Flughafen – offenbar ein beliebter Treffpunkt, denn überall standen Fahrzeuge kreuz und quer herum. Eine herzliche Begrüssung, ein kurzes Händeschütteln mit seinem Freund und Chauffeur Basim und hinein ins Auto – oder, wie soll ich das nennen? Das Auto war so winzig klein, etwas grösser als früher der Mini Cooper. Angeschrieben war es mit „Fiat“ – das Modell ist in ganz Ägypten verbreitet und uralt. Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass die Einzelteile importiert und dann in Ägypten zu einem Auto zusammen gebaut würden. Und der Zustand? Ich staunte, dass diese orange, verbeulte Blechbüchse überhaupt fuhr, dass meine Freunde die weite Strecke bis hierher geschafft hatten; überall hing etwas lose herab, klapperte, war verschmutzt und verschmiert. Unterwegs mussten wir immer wieder mal Öl nachfüllen. Es war heiss – sowieso –, eng und unbequem. Ich wusste nicht, wo ich meine Beine verstauen sollte. Lehnte ich mich am Rücksitz an, wehte mir ständig irgend etwas an den Kopf. So setzte ich mich in die Mitte, um wenigstens nach vorne sehen zu können. Hisham sass natürlich auf dem Beifahrersitz. Es kommt Ägyptern komischerweise nicht in den Sinn, eine Frau vorne sitzen zu lassen.

Einen positiven Effekt hatte die Hitze trotz allem: wir mussten die Fenster offen lassen. Zum Glück, denn sonst hätte uns das Gas vermutlich das Leben, mindestens aber das Bewusstsein genommen. So aber vermischte sich das Gas mit den Abgasen der anderen Fahrzeuge und dem Fahrwind und mir wurde lediglich schlecht.

Den ruckhaften Fahrstil der Taxis von Alex war ich bereits gewohnt – doch damit musste ich mich jeweils maximal 30 Minuten abfinden. Nun aber galt es, länger durchzuhalten...

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Ägyptische Überlandstrassen muss man sich so vorstellen: sie sind in der Regel  doppelspurig und richtungsgetrennt. Im dicht besiedelten Delta gibt es am Strassenrand entweder Häuser oder Bewässerungsgräben und Felder. Auf der Strasse tummelt sich alles, was sich irgendwie fortbewegen kann: Wasser- und Treibstoff-Lastwagen, Lastwagen mit Baumaterialien, Autos jeglichen Zustandes, Pick-ups, Traktoren, Mopeds und Motorräder, Esel mit Karren, Esel mit Männern, Esel mit Kindern, Toktoks, Radfahrer, Männer, Frauen und Kinder, Hunde, Ziegen, Gänse, Hühner, .... Obwohl richtungsgetrennt, muss man dringendst und ständig mit Gegenverkehr rechnen – beidseitig!

Entweder wollte er mir imponieren oder er hatte Hunger. Jedenfalls fuhr Hisham’s Freund in horrendem Tempo, überholte mal links, mal rechts, mal mitten zwischen zwei Lastwagen hindurch, wobei vielleicht ein Toktok links entgegen kam oder rechts ein auf seinem Esel reitender Mann mit einem Bündel Zuckerrohr oder Grünzeug vor sich. Ägypter können nicht Fahrrad fahren, tun es aber trotzdem. Sie schlingern meist links oder rechts dem Strassenrand entlang, geraten oft aber auch weit in die Fahrbahn hinein. Unsereiner würde auf die Bremsen stehen und hupen; Ägypter lassen das Bremsen sein, hupen dafür umso heftiger.

Überhaupt gibt es immer Gründe zu hupen: fährt das Fahrzeug davor zu langsam, setzt man zum Überholen an, geht es darum, andere Verkehrsteilnehmer – vorzugsweise die Schwächeren – von der Fahrbahn zu vertreiben oder jemanden zu grüssen, jemandem seinen Ärger zu zeigen, mitzuteilen, dass im Bus noch Platz wäre...

Mir wurde elend und die Fahrweise beängstigte mich wirklich. Ich bat Basim, doch ein bisschen weniger ruckhaft, weniger zickzack und weniger schnell zu fahren. Hisahm meinte dann mit einer Prise Humor, dass wir im Ramadan sicher keinen Unfall haben würden. Darüber war ich wirklich beruhigt!!

Der zu erwartenden Situation entsprechend hatte ich mich „züchtig“ gekleidet: über einem T-Shirt mit Spaghetti-Trägern trug ich eine Bluse mit drei Viertel langen Ärmeln und eine lange, weite Baumwollhose. Doch alles klebte an mir. Im Delta beträgt die Luftfeuchtigkeit fast 70%. Ich fühlte mich, als ob ich mit einer Lauge aus Öl und Wasser eingeseift worden wäre. Wischte ich mir den Schweiss vom Gesicht, hinterliess dies dunkelgraue Spuren auf dem Taschentuch. Sehnlichst wünschte ich mir eine Dusche, um Abgase und Schweiss abzuwaschen, frische, wohl riechende Kleider, Ruhe und Stillstand. Doch auf meine Fragen, wie weit es denn noch sei, bekam ich nur „höfliche“ Antworten! Allmählich wurde mir klar, dass meine beiden Gentlemen keinerlei Ahnung über Distanz oder Fahrzeit hatten, sondern einfach mal drauflos gefahren waren. Ich verlor fast den Mut... bis ich mir wieder bewusst wurde, dass  dies so eine der typischen Eigenschaften dieses Chaos liebenden Volkes ist.

Spätestens als wir die Smogglocke Tantas durchquerten – ich wusste zufällig, wo diese Stadt lag – und Basim sich verfuhr, schwante mir, dass wir noch lange nicht am Ziel waren. Zu allem Überdruss war nicht mehr zu übersehen, dass der Tag sich verabschiedete: eines dieser kitschigen Abendrot überzog den Himmel und die Strassen leerten sich; die Menschen beeilten sich, zum langersehnten Fastenbrechen zu kommen. Nur noch wenige Autos waren unterwegs – wohl verspätet wie wir.

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Plötzlich knallte etwas und ich spürte, dass etwas auf meinen Schoss gefallen war. Verdutzt sah ich an mir herab und um mich herum, staunte, lachte, staunte erneut! Da lag doch tatsächlich ein Plastiksack mit Fladenbrot, Datteln, Käse und Marmelade auf meinen Knien!

Nicht nur ich, sondern auch Hisham und Basim wurden beworfen: die Päckchen waren bei voller Fahrt durchs Fenster hereingeworfen worden.

Hisham erklärte, dass dies ein Iftar für die Reisenden ist, offeriert von einem reichen Geschäftsmann. Es ist Tradition, während des Ramadans den Bedürftigen Speisen und Getränke zu offerieren. Damit holen sich die Gläubigen ihre „Bonuspunkte“ bei Allah. So gibt es überall Zelte oder abgegrenzte Plätze mit Tischen und Stühlen, wo bei Sonnenuntergang Mahlzeiten ausgegeben werden. Der Brauch läuft aber auch hier aus dem Ruder: politische Parteien, religiöse Vereinigungen, Personen der Öffentlichkeit und andere nützen dies schamlos aus und verteilen Lebensmittelpakete zusammen mit ihrem Propagandamaterial. Was den einen billig, ist den anderen recht!

Egal, auf jeden Fall war nun klar: wir waren verspätet. Ich fastete inzwischen auch: meine 6-dl-Wasserflasche war schon seit Stunden leer und aus Respekt hatte ich darauf verzichtet, weiteres Wasser zu kaufen. Ausserdem hoffte ich immer noch, wir würden irgendwann mal ankommen.

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Dunkel war es schon lange und schweigsam lenkte Basim seine Blechkiste durch eine weitere hell erleuchtete fremde Stadt. Zagazig City! Ich konnte es kaum glauben, war aber heilfroh, als wir in einem Hinterhof zum Stillstand kamen. Mir war von der langen Fahrt schwindlig, meine Glieder steif und meine Klamotten klebten wie nach einem Ölbad an mir. Dreieinhalb Stunden Fahrzeit! Und: irgendwann musste ich wieder zurück. Daran durfte ich im Moment aber gar nicht denken! Vorerst galt es, Hände zu schütteln.

Häla erwartete uns schon längst und ihre vierjährige Tochter Riim schaute uns mit grossen Augen an. Schnell wurde sie zutraulich und nachdem ich mich notdürftig frisch gemacht hatte, sass sie schon auf meinem Schoss.

Anders als meine Kollegen war ich alles andere als hungrig. Ich war nur durstig und fühlte mich dreckig. Die Hitze in der winzigen Wohnung war zum Ersticken und als Häla das Fenster öffnete, war ich unendlich dankbar.

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Jetzt wurde keine Zeit mehr vertrödelt: Tischchen wurden zwischen den engen Sesseln zurecht gerückt und Häla brachte köstlichen frischen Mangosaft und Wasser. Ein riesiges, rundes Tablett mit darauf aufgetürmten Speisen in Schälchen und auf Tellern wurde in unsere Mitte gestellt: Molochia (eine Art Suppe aus einem Blattgemüse ähnlich dem Spinat), in Salzlake eingelegtes Gemüse (meist Karotten, Gurken, Paprika, Rettich und Oliven), gegrilltes Hühnchen, Mahschy (mit Reis gefülltes Gemüse wie Kohl, Paprika, Auberginen, Weinbeerblättern) und brauner Reis mit Nüssen (häufig mit Zimt gewürzt). Alles war würzig und frisch zubereitet. Hisham hatte mich schon vor Wochen gefragt, was ich denn am liebsten esse und ich bin sicher, dass Häla zwei Tage lang nur gekocht hat...

Es schmeckte mir, jedoch stellte ich mich offenbar etwas hilflos an, denn Hisham bat seine Schwester, mir doch Messer und Gabel zu bringen. In der Tat sah ich mit dem Löffel in der Hand und dem Hähnchen und den Mahschy auf meinem Teller einige Schwierigkeiten auf mich zukommen. Verbildet, irgendwie... aber ich stehe dazu: ich kann nicht mit den Fingern essen!

Ich ass mit Freude. Doch je mehr ich ass, umso voller wurde mein Teller – ein Wettlauf, bei dem ich kapitulieren musste. Meine Gastgeber verschlangen Riesenmengen  während ich nicht mal einen halben Teller zu leeren vermochte. Das hat nicht viel mit dem Fasten zu tun, sondern mit der Gewohnheit, dass Ägypter ihr Essen achtlos hinunter schlingen. Dafür sind sie so grosszügig, dass sie einem ständig den Teller nachfüllen, obwohl weder darauf, noch im Magen weitere Kapazitäten vorhanden sind. Für uns ist das eine schwierige Situation und es braucht viele Erklärungen, Beteuerungen und Danksagungen bis endlich glaubhaft wird, dass der Magen wirklich voll, der Hunger gestillt ist und auch das allerbeste Stückchen Fleisch absolut keinen Platz mehr findet.

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So rasch wie wir das Essen begonnen hatten, so rasch wurde wieder abgeräumt und ich suchte vergeblich nach meinem nur angetrunkenen Glas Mangosaft. Ich war einfach zu langsam...

Nun gab es Tee, auf den ich aber verzichtete. Ich hatte endlich Gelegenheit, meinen Blick durch die Wohnung schweifen zu lassen. Hisham forderte mich auf, die anderen Räume anzusehen.

Wir waren in einem älteren Mietshaus im Parterre. Es gab eine kleine, enge Küche, die mit irgendwelchen Möbeln vollgestopft war. Das Schlafzimmer von Häla und ihrem Mann (der in Kairo arbeitet): ein Doppelbett, ein altmodischer Zimmer hoher Schrank, ein Hochzeitsbild an der Wand, ein Tisch mit Wäsche. Hisham’s Zimmer war ausgefüllt mit einem riesigen Bett, einem ebensolchen Fernseher auf der Kommode, ein Schrank. Um an den Schrank zu gelangen, musste er übers Bett klettern. Das Bad war winzig: eine Toilette, ein winziges Waschbecken, ein Spiegel. Von der Decke hing ein Duschkopf. Die Handtücher hingen vor der Badezimmertüre.
Und der Raum in dem wir waren: er war Eingang, Wohn- und Esszimmer zugleich. Vier Sessel, zwei kleine Beistell-Tischchen – das war alles. Die Feuchtigkeit nagte an den hölzernen Türrahmen, die Teppiche waren vom vielen bürsten abgewetzt, die Farbe blätterte von den Wänden ab. Alles war peinlich sauber.

Hisham wollte meine Meinung zu dieser Wohnung wissen. Er hatte mir früher mal erzählt, dass er sie finanziert hat. Er ist der einzige überlebende Bruder; sein Bruder und seine Eltern waren vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Ja, was soll ich denn zu dieser gemäss europäischem Massstab ärmlichen, aber sauberen Behausung sagen? Meine Antwort fiel höflich und respektvoll gegenüber Häla aus, anerkennend gegenüber Hisham. Häla wirkte irgendwie erleichtert...

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Inzwischen war Rim nach draussen gerannt, um uns ihr Fahrrad vorzuführen. Ihre braunen Zöpfchen wippten im Takt der Pedale; ungelenk zog sie voller Stolz grosse, unförmige Kreise im staubigen, schwach erleuchteten Hinterhof. Die Nachbarskinder gesellten sich zu ihr, wirbelten munter schwatzend und rufend durcheinander, rannten rund um die fahrende Rim herum. Sie war die Prinzessin: als einzige besass sie ein Fahrrad! Ihr Onkel Hisham hatte es ihr geschenkt und der platzte selber fast vor Stolz.

Häla hatte sich auch nach draussen gesellt, Hisham und ich standen am Fenster. Der kühle Abendwind tat mir wohl und ich war heilfroh, mal ein paar Minuten nicht sitzen zu müssen. Nun konnte ich auch Häla näher betrachten: sie hatte ein rundliches, hübsches, sehr sympathisches Gesicht. Ihre Haut war hell und sie war eher klein gewachsen. Über ihrer rundlichen Figur trug sie eine Art Nachthemd. Darüber hatte sie achtlos eine schwarze Galabya geworfen, ihr Kopftuch hing lose über ihrem dunklen, zu einem Knoten gebundenen Haar. Im Hinterhof waren die Bekleidungsvorschriften wohl etwas lockerer – oder sie nahm sie hier nicht so ernst. Mir erschien sie deshalb umso sympathischer!

Meine Erleichterung über die frische Luft und das Stehen dauerte leider nur kurz: Häla ermahnte uns, ich solle nicht am Fenster bleiben, denn die Nachbarn würden herschauen! Sie gab mir zu verstehen, dass ich ja kein Kopftuch trage und als Ausländerin auffalle.

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Dieses „Auf-die-anderen-Leute-schauen“ begegnet mir in Ägypten immer und immer wieder. Der soziale Druck bezüglich Verhalten, Kleidung, Arbeit und Bekanntschaften  ist enorm. Teilweise ist das Verhalten in der Öffentlichkeit gegenüber einer nahe stehenden Person schon fast verletzend und rührt daher, dass man auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Leute in der Nähe erregen will. Bekannte erzählen mir immer wieder, dass sich die Ägypter über ihr Äusseres, ihre Sprache, ihre Gesten, aber auch durch ihre Begleitung, ihren Freundeskreis regelrecht gegenseitig klassieren. Das kann einen Geschäftsinhaber in die unangenehme Lage bringen, dass er sich mit gewissen Bekannten gar nicht in der Öffentlichkeit zeigen darf. Was Freundschaften mit dem anderen Geschlecht angeht, wird es dann noch um einiges komplizierter. Falls die Familie Wind von einer – womöglich völlig harmlosen Bekanntschaft – bekommt, fangen echte Probleme an.

Ironischerweise fühlen sich die Ägypter durch diese sozialen Normen riesig unter Druck gesetzt und wünschen sich mehr persönliche Freiheiten. Doch kaum einer wagt einen Schritt nach vorne, sondern duckt sich, macht eine Faust im Sack und versucht auf kreativen Umwegen, den konservativen Traditionen irgendwie auszuweichen.

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Ich bedauerte, dass ich dem abendlichen Spektakel mit Frischluftzufuhr nicht weiter beiwohnen durfte. Aus Gewohnheit hatte ich kurz vergessen, dass ich als Ausländerin stets auffalle, besonders weitab von den Touristenzentren oder den grossen Städten wie Alexandria und Kairo.

Nun konnte ich den unbeholfenen Anmachversuchen Basim’s nicht mehr ausweichen und ärgerte mich innerlich über seine unverschämte Art. Wollte er mir nur seine Englischkenntnisse vorführen? Oder endlich mal mit einer Europäerin reden? Wäre er nur gar nicht so plump! Doch zurechtweisen durfte ich ihn nicht, schliesslich war ich hier Gast wie er und er hatte sieben Stunden Autofahrt wegen mir hinter sich.

Ein Blick zu Hisahm brachte endlich Besserung; er bat seinen Freund, mit seinen dummen Sprüchen aufzuhören. Ich nickte ihm dankbar zu und empfand dies schon fast als Abkühlung – jedenfalls fiel es mir nun leichter, die drückende Hitze und Luftfeuchtigkeit in dem niederen Raum zu ertragen.

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Häla hatte sich wieder zu uns gesetzt und Rim schlief erschöpft auf dem Teppich ein – alle Viere von sich gestreckt! Häla trug sie ins Schlafzimmer hinüber und legte sie sanft auf ihr Bett.

Trotz meinen mickrigen Arabischkenntnissen und den bescheidenen Englischkenntnissen meiner Gastgeber gerieten wir in eine heisse Diskussion. Angefangen hatte es mit den in derart zusammen gewürfelten Runden üblichen Fragen und Antworten. Weshalb ich nicht verheiratet sei, weshalb ich keine Kinder hätte usw. Hisham klärte mich einmal mehr über die traditionelle Rolle der Frau in dieser (seiner) Gesellschaftsschicht auf.

Die Frau wird dazu erzogen, folgsam ihre Pflichten zu erfüllen, die da sind: ohne aufzumucken einen Haushalt zu führen, erst brave Tochter, später dienende Gattin und fürsorgliche Mutter zu sein. Sie kümmert sich um Haus und Kinder. Das Haus (auch wenn es noch so klein ist, wie dieses Heim hier) verlässt sie höchstens zum Einkaufen, um Besorgungen zu machen und die Kinder zur Schule zu bringen. Alles weitere bleibt ihr verwehrt, es sei denn, ihr Ehemann oder sofern sie noch unverheiratet ist, ihr Vater bzw. ihr Bruder geben ihre Zustimmung und begleitet sie.

Ich zeigte mich gar nicht einverstanden mit diesem Rollenverständnis, wohlwissend, dass Häla meine Art zu denken, meine Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben überhaupt nicht nachvollziehen kann. Sie kennt nichts anderes, denn sie wurde so erzogen und wird ihr Dasein auch niemals hinterfragen. Hisham hingegen behauptete, er könne mich verstehen, schliesslich habe er ja schon viel mit Europäern zu tun gehabt. Er widersprach sich dann aber gründlich mit einem einzigen Satz: für den Mann sei es besser so!

Ich musste laut herauslachen und stimmte ihm zu. Ja, als Mann würde mir das auch behagen: ich hätte alle Freiheiten, meine Arbeit, meine Kollegen, meine Laster und Freuden, und zuhause wartete eine ergebene Dienerin, die für mich kochte, putzte und wusch und meine leiblichen Bedürfnisse erfüllte. Wenn nicht, könnte ich sie davon jagen!

Mir gefiel Häla und ich lud sie spontan ein, heute Nacht mit mir nach Alex zurückzufahren. In meiner Wohnung war noch ein Zimmer mit zwei Betten frei, dort könnten sie und Rim schlafen. Tagsüber könnten sie den Strand geniessen, bummeln, einkaufen und kochen – ganz wie ihr beliebte! Nach zwei, drei Tagen könnte Hisham sie wieder abholen und zurück nach Zagazig City begleiten. In meinen Augen war das ein auf die hiesigen Verhältnisse abgestimmter Vorschlag – sie musste ja nicht alleine reisen.

Doch oh weh! Erneut wurde mir bewusst, dass ich mich da in einer völlig anderen Welt bewegte.

Häla war verheiratet und das hiess, dass ihr Ehemann sein Einverständnis geben musste. Ich bat Hisham, Ahmed doch anzurufen. Hisham erwiderte jedoch, dass das nicht genügen würde: Ahmed hätte mich sehen, mit mir sprechen müssen, selbst wenn Hisham als ihr leiblicher Bruder ein gutes Wort für diesen Ausflug eingelegt hätte. Ahmed war aber in Kairo und würde erst zwei Tage später heim kommen.

Ich hatte Mühe mit dieser Argumentation, denn ich wusste, dass der Bruder fast gleich wichtig ist, wie der Ehemann. Insbesondere wusste ich um Hishams Stellung als einziger Bruder und Zuverdiener. Gleichzeitig war mir aber klar, dass da eine unüberbrückbare Kluft in unserem Denken bestand! Wie weit waren wir doch voneinander entfernt! Natürlich wusste ich, dass nicht alle Ägypter so denken, so erzogen sind, doch die grosse Mehrheit (die unteren Gesellschaftsschichten) tat dies.

Es ist Eines, solches aus einem Buch, aus Erzählungen zu erfahren – wird man jedoch direkt damit konfrontiert, ist es nochmals etwas ganz anderes. Mich schmerzte es irgendwie. Frauen wie Häla sind eingesperrt in einem winzigen Lebensrahmen – und bemerken dies nicht mal, weil ihr Denken gar nicht darüber hinaus gehen kann! Ein Leben lang werden sie zu Folgsamkeit und Demut angehalten; selbstständiges Denken, ein selbstbestimmtes Leben ist ihnen so fremd wie die schneebedeckten Berge der Alpen! Mich schauderte...

Nun wollte mich Häla über Nacht hier behalten. Es lag also an mir, gute Argumente dagegen zu finden, was sich als schwierig erwies, denn Basim und Hisham unterstützten sie mit vereinten Kräften. Wo um alles in der Welt hätte ich denn schlafen sollen? In Hisham’s Bett? In Häla’s Bett? Ohne Zahnbürste, ohne frische Wäsche? Meine Gastgeber lächelten: das sei doch alles kein Problem! Für Ägypter sicher nicht, für mich aber wohl! Ich erklärte ihnen, dass ich in dieser Hitze und mit den gierigen Moskitos keine Sekunde würde schlafen können. Für diesen Einwand hatten sie nun gottlob Verständnis und ich fühlte mich gerettet.

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Das war also geregelt. Von nun an galten unsere Anstrengungen dem Ziel, für mich eine Rückfahrgelegenheit zu finden.

Hisham hatte mir versichert, es gäbe Züge, Busse, Taxis und im schlimmsten Fall eine Limousine (Auto mit Chauffeur), ich müsste nur sagen, was ich wollte. Angesichts der späten Stunde und den damit verbundenen Schwierigkeiten erbot sich Basim, mich wieder zurückzufahren. Das war des Guten denn doch zuviel! Er hatte schon sieben Stunden hinter dem Steuer verbracht – weitere Stunden waren nicht mehr zumutbar. Dass mir davor graute, nochmals in sein Auto zu sitzen, verschwieg ich besser.

Wieder einmal sah ich mich mit einem typischen ägyptischen Wesenszug konfrontiert: es wird weder geplant, noch vorausgedacht. Unsereiner würde sich schon vorher um die ideale Rückfahrgelegenheit kümmern, um dem Gast dann ganz konkrete Vorschläge zu geben, Geld und Zeit zu sparen. Würden alle Ägypter zusammen nur ein bisschen weiter voraus schauen bzw. handeln, hätte das einen riesigen positiven Einfluss auf den Zustand dieses Landes. Soweit meine Theorie – die Praxis sieht anders aus.

Hisham meinte, ich solle ein Taxi oder eine Limousine nehmen; der offerierte Preis dafür war aber derart hoch, dass ich dies ablehnte.

Zug? Ein Schnellzug fuhr nicht mehr um diese Zeit. Das hiesse fünf oder mehr Stunden in einem Zweit-Klasse-Abteil zu sitzen, alleine als Frau und Europäerin und in Kairo umzusteigen und einen Anschlusszug finden zu müssen. Die Vorstellung daran weckte in mir nicht allzu viel Lust, dies auch wirklich ausprobieren zu wollen.

Mikrobus? Das kam für mich auf gar keinen Fall in Frage. „Fliegende Särge“ werden sie wegen der zahlreichen Unfälle genannt, in die sie verwickelt sind. Die Erfahrungen mit diesen Bussen in Alexandria genügten mir vollauf.

Hisham telefonierte weiter herum. Nach zwei Stunden schlug er mir eine gute Variante vor: es gab da einen PW – einen Peugeot – in welchen acht Fahrgäste passten. Diese Peugeots verbinden Städte direkt miteinander, waren effizient und günstig. Ich hatte Glück und konnte zwei Plätze auf der Sitzbank neben dem Fahrer ergattern. So hatte ich einen angenehmen Platz, konnte mich anschnallen und sah noch etwas von der langen Nachtfahrt.

Das ist die Kehrseite der ägyptischen Chaos-Mentalität: es gibt immer eine Lösung, man muss nur genügend Zeit und Geduld investieren, um sie zu finden. Beides scheinen die Ägypter im Übermass zu haben...

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Der Abschied von Häla fiel mir schwer – ihr ging es ebenso. In der Hoffnung, dass wir uns irgendwann wieder sehen würden, umarmten wir uns. Basim und Hisahm fuhren mich zum hell erleuchteten Busbahnhof, zum Abschied noch eine Einbahnstrasse richtungsverkehrt benützend, weil es kürzer war.

Im Busbahnhof ging es trotz fortgeschrittener Stunde hektisch und betriebsam zu und her. Reisende mühten sich mit ihren Koffern und Reisetaschen über Pfützen und unebene Pflastersteine ab, suchten nach Bussen und PWs. Dazwischen riefen Chauffeure und Ordnungsleute die Fahrgäste auf, ihre Plätze einzunehmen. Händler boten Erfrischungen, Snacks, Taschentücher und anderes an, Busse und Autos drängten sich haarscharf an den Fussgängern vorbei hinaus in die Nacht.

Hisham fand rasch mein Fahrzeug und ich nahm erleichtert darin Platz. Witzigerweise befand sich inmitten gut beleibter Frauen nur ein einziger Mann in unserem Auto. Ich musste innerlich grinsen und es war mir recht so. Irgendjemand meckerte, dass der Platz neben mir leer war, doch der Fahrer klärte das Missverständnis rasch auf.

Ein letztes Händeschütteln mit Basim und Hisham – und hinaus fuhren wir in die Dunkelheit.

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Gleich fühlte ich mich wohl. Der Wagen lief trotz seines Alters gut – jedenfalls gab er weder seltsame Geräusche noch Gase von sich – und der Fahrer hatte Auto und Strasse im Griff. Zu meiner Erleichterung nahm er die Schnellstrassen und irgendwann gelangten wir auf die bekannte „Wüsten-Autobahn“ zwischen Kairo und Alex. Er kannte jedes Schlagloch, jede Bodenwelle, jeden Bahnübergang! Was für ein Unterschied zur Herfahrt am Nachmittag! Ich genoss die ruhige Fahrt, den wechselnden Ausblick auf Dörfer und Dunkelheit.

Schleierhaft blieb mir jedoch, woran der Fahrer den Gegenverkehr erkannte: die Ägypter fahren nämlich nachts ohne Abblendlicht und lediglich wenn sie überholen oder mit herannahenden Fahrzeugen kreuzen, blinken sie kurz auf. Für mich ein riesiges, beängstigendes Rätsel! Mir schoss durch den Kopf, dass unzählige Unfälle mit noch mehr Verletzten und Toten vermieden werden könnten, wenn die Fahrer hier das Abblendlicht benützten.

Wohlbehalten erreichten wir die Aussenquartiere Alexandrias morgens um halb zwei Uhr. Mein Telefon zeigte mir mehrere verpasste Anrufe und Nachrichten an und ich beeilte mich, meinen Freunden rundum meine Ankunft mitzuteilen. Eine weitere Dreiviertelstündige Taxifahrt brachte mich nach Hause.

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Während des restlichen Ramadans hoffte ich fast, keine weiteren Einladungen zum Iftar mehr zu erhalten. Das mag undankbar erscheinen. Mit einem Iftar pro Woche war ich jedoch bedient – es war äusserst anstrengend, wenn auch interessant. Für dieses Jahr war es jedoch erledigt.

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Hisham traf ich zwei Monate später nochmals in Hurghada. Als ich wieder zuhause war, hatten wir bis Ende Winter regelmässig Kontakt - bis dieser plötzlich abbrach, weshalb auch immer. Es hiess, er sei nach Saudi Arabien gereist, um dort zu arbeiten. Auch das ist typisch...