Montag, November 10, 2014

Warum vergessen wir?

Oder: weshalb sich die Geschichte wiederholt.

Es gibt zahlreiche Mahnmale, Denkstätten und Orte zur Erinnerung an die Gefallenen in Kriegen, an Völkermord, an Unrecht, an Naturkatastrophen, an Epidemien, an Not. Völker, Rassen, Andersgläubige, Aufständische, Mittellose, Kinder, Frauen oder ganz einfach unschuldige Zivilisten waren Opfer. „Wider das Vergessen“ liest man auf poliertem Granit und in Zeitungsüberschriften. „Nie mehr Krieg“. Trotzdem vergessen wir Menschen und werden an Jahrestagen aus unserer Lethargie für ein paar Sekunden oder Minuten wachgerüttelt.

Wie dieser Tage, da Deutschland den Mauerfall vor 25 Jahren feiert. Was zusammen gehört, darf nicht getrennt werden und muss wieder vereint werden. Allen Deutschen ist dies klar, wenn sie dieser Tage die bewegenden Bilddokumente und Erfahrungsberichte verfolgen. Viele erinnern sich, waren selbst direkt oder indirekt betroffen. Ich erinnere mich auch daran, genauso wie an den 9.11.2001, weil ich im Ausland weilte und mich in einer besonderen Situation befand.

Trotzdem werden rund um den Globus munter Mauern zwischen Völkern hochgezogen, wie z.B. in Israel. Ägypten ist dabei, eine „Pufferzone“ zu Israel zu erstellen und hat die Bewohner am Grenzgebiet kurzerhand umgesiedelt.

Der Kalte Krieg gehört in die Vergangenheit – richtig? Doch Achtung: Die Geschichte wiederholt sich, der Kalte Krieg steht vor seiner Wiedergeburt.


Religionskriege und Kreuzzüge gehören ins Mittelalter… und spielen sich trotzdem heute, im November 2014, mit aller Grausamkeit und Brutalität, nur wenige Flugstunden entfernt, ab.

Wir wissen, dass wir nie mehr Krieg wollen, nie mehr getrennt sein wollen, nie mehr Unrecht erleben wollen. Wir sind dankbar, wenn wir Naturkatastrophen überleben und wenn wir von Epidemien verschont bleiben.

Trotzdem vergessen wir. Offensichtlich. Denn es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo Kriegshandlungen geschehen, Menschen durch Raketenbeschuss ihr Hab und Gut verlieren, durch Giftgas oder im Kugelhagel umkommen, Kinder zu Waisen werden, unschuldige Menschen zu Krüppeln werden. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo Menschen verhungern und an einfachen Infektionen sterben. Das wollen wir ja nicht, trotzdem geschieht es. Warum? Weil wir wegschauen, weil es so weit weg ist, weil wir vergessen.

Aber warum vergisst der Mensch?

Die Frage beschäftigt mich seit längerem und ich habe eine Antwort gefunden, die aber nicht der einzige Grund ist:

Wir sind so furchtbar beschäftigt. Als Teenager stecken wir in einem Hormoncocktail, der uns schwindlig macht und wir gegen Alle und Alles sind. Wir lernen zwar in der Schule, was anno dazumal geschehen ist – es interessiert uns aber keinen Deut, obwohl es einen Einfluss auf unsere Zukunft hat, wenn auch nur durch die Noten.

In der nächsten Dekade sind wir intensiv damit beschäftigt, uns weiterzubilden, eine Karriere anzustreben oder überhaupt einen Job zu finden, um endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Oder wir stürzen uns in die Lebensaufgabe „Familie gründen.“ Für das Weltgeschehen bleibt da nur am Rande Zeit. Darüber diskutieren, politisieren und zu Widerstand aufrufen tun ein paar Spinner und Andersartige.

In den Dreissigern haben wir alle Hände voll zu tun: Karriere ausbauen oder Position halten, für unsere Familie sorgen, sie zusammen halten oder eine neue gründen. Vielleicht sind wir auch dabei, einen Neustart zu wagen, in einem anderen Land, einem anderen Job, einer anderen Ausbildung.

In den Vierzigern können wir uns endlich mal zurücklehnen: die Kinder sind aus dem Gröbsten heraus, die Position an der Arbeitsstelle ist gefestigt, die Hypothek auf dem Haus ist tragbar, Ferien und ein Auto liegen auch drin. Wir kümmern uns wieder um uns selbst und fangen ein neues Hobby an oder lernen unseren Partner neu kennen. Oder wir erfüllen uns sonst einen schon lang gehegten Traum.

In den Fünfzigern, wenn endlich alles mehr oder weniger reibungslos und in geordneten Bahnen läuft, finden wir endlich Zeit und Musse, um – vielleicht – über das Weltgeschehen nachzudenken und uns zu engagieren. Oder doch nicht. Es wird uns – vielleicht – bewusst, dass wir die falschen Politiker gewählt, die falschen Menschen unterstützt, den Kindern zu wenig Engagement beigebracht haben und sie von den grauenhaften Erinnerungen des Krieges, der Trennung und anderer Not ferngehalten haben.

In den Sechzigern interessieren wir uns wieder mehr für uns selbst, denn wir stellen plötzlich fest, dass die Zeit abläuft. Wir wollen nochmals intensiv leben, den Alltag geniessen, kümmern uns um unsere Enkel und Freunde.

Später wollen wir auch nicht mehr von den Schrecken der Welt reden, auch wenn uns unsere erwachsenen Kinder oder heranwachsenden Enkelkinder danach fragen „Wie war das denn, damals…?“. Wir wollen uns nicht mehr daran erinnern, wir wollen vergessen. So war das zumindest bei meinen Grosseltern, die den Zweiten Weltkrieg erlitten und überlebt haben. Ich kann’s ihnen nicht verübeln!

Wir wollen vergessen. Als im Juni dieses Jahres die Soldaten der irakischen Armee vor den Kämpfern des ISIS davon liefen, schrieb ich auf Facebook: die Welt sieht 22 Männern zu, wie sie sich um einen Ball balgen, während die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens neu gezeichnet wird. Ein Freund bemerkte dazu: lass uns Spass haben!

Und weil wir vergessen wollen, werden weiterhin Mauern errichtet, die Völker trennen, und Kriege angezettelt, die Menschenleben zerstören und riesige Flüchtlingsströme über Landschaften, Grenzen und Meere fliessen lassen.

Und es gibt natürlich immer jene, die wissen, wie man sich die Not der Menschen zunutze machen kann und deshalb die Not (den Krieg, die Vertreibung, die Katastrophe) anzetteln. Doch auch das vergessen wir geflissentlich. Deshalb wiederholt sich die Geschichte.


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