Donnerstag, August 27, 2015

Engadin und Veltlin – per Bike durch die heile Bergwelt

Im August habe ich mir einen kleinen Traum erfüllt: ich bin mit dem Bike von Filisur über die Pässe Albula und Bernina gefahren, weiter hinab durchs Puschlav (alles Graubünden / Schweiz) nach Tirano / Italien und im Veltlin der Adda entlang zum Comer See und weiter nach Chiavenna. Gerne möchte ich euch daran teilnehmen lassen:

Von Filisur nach La Punt-Chamüesch
Fähnchen mit Schweizer Kreuzen dekorieren noch das Bahnhof-Häuschen in Filisur – zu Ehren des Schweizer Nationalfeiertags am 1. August. Voller Freude steige ich auf mein Bike, ein mulmiges Gefühl im Bauch. Schaffe ich die 1‘300 Höhenmeter mit dem Gepäck? In Hurghada habe ich keine Möglichkeit so viele Höhenmeter zu machen und bequem bin ich auch, wegen der Hitze, wegen dem früh aufstehen.

Bahnhof Filisur

im Landwassertal
Spektakulär ist nur das Vorwort für die Landschaft, die ich durchfahre: idyllische Siedlungen, Schluchten, Felsen, Wasserfälle, dunkle Wälder, dazwischen kunstvoll hinein gebaut das Trassee der Rhätischen Bahn. Die Viadukte und Tunnels sind weltberühmt. Kein Wunder steht die Strecke auf der UNESCO-Liste für Weltkulturerbe. Gigantisch, gewaltig, grandios. Auch die schmale Passstrasse passt sich den Superlativen an. Übrigens ist sie im Winter Schlittelbahn – zumindest ein Teil davon.


vom Albulapass Blick nach Norden


In stillen Momenten geniesse ich die Aussicht auf die Natur und die Einsichten auf den Bahnbau. Mal pfeifft der rote Zug unter mir, mal über mir, mal links von mir, dann wieder rechts. Leider wird die Stille immer wieder unterbrochen: brrrrrumm, brrrruuum, Grüezi, Hoi. Knapp an meinem linken Ellbogen drängen sich Autos und sogar Wohnmobile vorbei. Motorradfahrer geniessen den Rausch der Geschwindigkeit und dröhnen mir die Ohren zu, manchmal streifen sie mich fast. Rennradfahrer nähern sich mir lautlos und grüssen mich, worüber ich genauso erschrecke wie über die Motorradfahrer. Das bringt mich zwischendurch etwas aus dem Gleichgewicht, nicht aber aus der Fassung.

Oben, auf über 2‘300 m ü.M., ist das alles wieder vergessen. Glücklich stehe ich dort, geniesse den Ausblick nach Nord und Süd und stürze mich nach einer Pause hinab ins Engadin.
Hausinschrift in La Punt
La Punt-Chamüesch – Ausverkauf der Heimat, wie in Südfrankreich, wie an anderen, besonders pittoresken Orten der Welt. Die sorgfältig restaurierten Fassaden der behäbigen Engadiner Häuser gaukeln Tradition vor; innen sind sie für die Superreichen mit allem Komfort ausgebaut; drunter liegen riesige Tiefgaragen. „Unser Dorf hat seine Seele verloren“, erzählt mir meine Gesprächspartnerin. Sie betreibt eine einfache Pension (eine Rarität im Oberengadin!), hat das Land samt Liegenschaften von ihrem Onkel abgekauft, um den Betrieb vor der Immobilien-Spekulation zu retten. Architekten hatten schon eine Überbauung geplant – ebenfalls für die reichen Fremden. „Einheimische finden kaum mehr bezahlbare Wohnungen. Manche eifern den Reichen nach, lassen sich von Glanz und Glitter blenden.“ Ein Trauerspiel hinter dem Vorhang der „heilen“ Bergwelt.

Panoramafahrt: von La Punt-Chamüesch nach Poschiavo
Frisch und klar ist die Luft. Zauberhaft liegt die Engadiner Hochebene vor mir: blauer Himmel, grüne Berghänge, weisse Gletscherhüte, der munter plätschernde junge Inn, blühende Hochmoore, Wälder. Stille. Nur wenige Radfahrer begegnen mir früh morgens auf dem Inn-Radweg, abseits von Verkehr und Dörfern. Ich kenn die Strecke vom Langlaufen her, unzählige Male habe ich am berühmten Engadiner Skimarathon teilgenommen – auf dem Rad war ich hier nie.
Inn-Radweg zwischen La Punt und Pontresina
am Inn-Radweg
Blick ins Val Bever
Blick Richtung Unterengadin
Das trockene Klima, die Höhenlage, die Sonne, die Natur – sie sind ein Geschenk des Himmels. Die Bevölkerung hat es genutzt – auf ihre Art und Weise. Von weitem dominiert ein trutziger Bau das Dorfbild von Pontresina: das Hotel Schloss. Im unteren  Dorfteil reihen sich Prunkhotels und Edelgeschäfte aneinander – Pontresina ist die Schwester von St. Moritz. Fein herausgeputzt, edel, teuer. Welch Kontrast in dieser Bergwelt. Buntgemischt ist auch der Touristenstrom: ehrgeizige Bergsteiger, ausdauernde Wanderer, trainierende Profi-Sportler, bunte Mountainbiker, im Bus herbeigeführte Senioren, Asiaten auf ihrem „in 10-Tagen-durch-Europa-Tripp“, ausländische Angestellte, Immobilienmakler, schwerreiche Fremde, ein paar Einheimische.


mitten in Pontresina
Der Bike-Weg zieht sich im Auf und Ab durch den Wald, manchmal recht knackig, vorbei am sommers wie winters stark frequentierten Bahnhof Morteratsch. Er ist wichtiger Ausgangspunkt zu Piz Morteratsch, Piz Palü, Piz Bernina, Piz Rosegg, Piz Bellavista und wie die Gletschergipfel alle heissen. Dort oben war ich auch, mehrmals – bis zu jenem unglückseligen Tag, als ich in eine Gletscherspalte stürzte und mein Sportlerleben eine abrupte Wende nahm. Wäre das damals nicht passiert, wäre mein Leben völlig anders verlaufen.
Berninabahn
kurz vor der Passhöhe
Piz Palü
Immer wieder gucke ich hinauf zum Palü, mache Fotos, schwelge in Erinnerungen. Ostpfeiler am morgen früh… der lange Abstieg… Der Bike-Weg entschädigt mich, macht riesig Spass, es geht rauf und runter im lichten Wald, vorbei am Wasserfall, vorbei an ungeübten Bikern, einem jungen Franzosen-Pärchen, weiter hinauf Richtung Berninapass. Der Wald bleibt zurück, links liegt die Passstrasse, daneben dicht angeschmiegt das Trassee der Berninabahn, weiter rechts der Bike- und Wanderweg. Soll niemand über Probleme zwischen Wanderern und Bikern jammern! Wir haben uns gegrüsst, angelächelt und sind unseres Weges gegangen bzw. gestrampelt. Jeder für sich glücklich, in dieser imposanten Bergwelt unterwegs zu sein.

Dann kommt der See, die Wasserscheide, das Ziel: komischerweise heisst er „Lago Bianco“ (weisser See) – dabei leuchtet er smaragdgrün. Am Ospizio treffe ich eine Freundin, die von Poschiavo herauf gekommen ist. Gemeinsam stürzen wir uns in das Abenteuer „Downhill“ von 1‘300 Höhenmetern!
allein war ich nicht
Lago Bianco am Berninapass
Blick von der Alp Grüm zum Lago di Poschiavo - unser downhill

Der Downhill ist berühmt, viele Biker geniessen die lange, steile, teils anspruchsvolle Abfahrt. Es ist herrlich, vom Hochgebirge über den alten Eselsweg und durch die tiefgrünen Wälder, später vorbei an grünen Wiesen nach Poschiavo zu fahren. Die Gletscher haben tolle Arbeit geleistet: vom Berninapass bis Tirano in Italien fällt das Tal über mehrere geologische und klimatische Stufen ab. Politiker hingegen blockieren die Leichtigkeit: sie haben einen Teil des Eselsweg kurzerhand mit einem Durchfahrtsverbot für Radfahrer versehen und ortsfremde Biker sind gezwungen, über einen viel gefährlicheren Streckenteil zu fahren.

Foto: A.I.
Poschiavo
Das Puschlav ist eines dieser Schweizer Täler, die irgendwie nur „teilweise“ zur Schweiz gehören: es ist südwärts, also Italien zugewandt, zumindest was Sprache, Kultur, Küche, Klima und Mentalität anbelangt. Also eine Gegend, in der ich mich sofort wohlfühle, auch wenn die Einheimischen „Pus‘ciavin“ reden und ich nur ein paar Wortbrocken davon verstehe. Hier lege ich einen Ruhetag ein, an dem meine Freundin im kühlen Lago di Poschiavo badet und ich zuschaue, und wir dann in Le Prese zu einem Aperitif einkehren. Dort machen die Fahrer der Alpen Classic grad Mittagspause, während ihre schnuggeligen Oldtimer-Sportwagen auf dem Parkplatz bewundert werden.

Weinberge und Apfelhaine: von Poschiavo ins Veltlin
Immer noch blauer Himmel; etwas frisch ist es, als wir früh am Morgen dem Lago di Poschiavo entlang radeln. Ein paar Jogger und Spaziergänger begegnen uns. Heute wollen wir die letzten Talstufen bis nach Italien nehmen. Immer auf Natur- und Nebenstrassen rollen wir durch verwinkelte Häuseransammlungen, Gemüsegärten und Weideland zuerst nach Brusio, wo die Rhätische Bahn nochmals ein Kunstwerk vollführt, und schliesslich über die Grenze hinab ins Veltlin. Der heisse Sommer empfängt uns im „Valtellina“. Das Tal hat einst zu Graubünden gehört, sich mithilfe Napoleons aber von seinen Unterdrückern befreit. Noch heute gehören viele Rebberge den „Bündnern“. Ich fühl mich pudelwohl: die Wärme, die steilen Hänge mit Rebbergen, das uralte Grenzstädtchen Tirano, wo ich einst ein zauberhaftes Live-Konzert von Franco Battiato erleben durfte, und die Vorfreude auf die Weiterfahrt in Italien.
Tirano
in Tirano
am Sentiero Valtellina

Bis Sondrio werde ich noch begleitet. Wir fahren auf dem „Sentiero Valtellina“ dem Flüsschen Adda entlang, das sich weiter westlich in den Comer See ergiesst. Zu unserer Rechten türmen sich die Berge gegen die Gletscher auf, an den Hängen reifen Trauben, dazwischen ducken sich die alten Stein-Dörfer. Die Talebene ist Landwirtschaftsgebiet, Äpfel, Äpfel, Äpfel, die in die ganze Welt exportiert werden  - auch nach Hurghada. Zu unserer Linken ducken sich dann wieder Stein-Dörfer an die Hänge, darüber stehen Wälder und wieder Berge mit nochmals über 3‘000 m hohen Gipfeln. Normal und doch eindrücklich.

im Veltlin
Sentiero Valtellina
die Adda
Vor kurzem habe ich gelesen, dass die Qualität der italienischen Agrarprodukte die beste in der EU ist. Doch im Vergleich zu anderen Landwirtschaftsproduzenten in der EU exportiert Italien wenig. Es fehlt an der Vermarktung; oft sind es Klein- und Familienbetriebe, die lokale Spezialitäten herstellen, und ein Familienmitglied arbeitet auswärts, da die Einnahmen zum Leben nicht ausreichen. Woher noch die Mittel für Vermarktung nehmen? Slow Food ist eine Organisation, die sich inzwischen erfolgreich etabliert hat.

Falls ich es noch nicht gewusst habe – jetzt weiss ich: es ist Sommer, Italien hat zu. Zumindest sieht das in Sondrio so aus: Kein einziges Restaurant ist geöffnet, nur ein Café gibt uns die Chance, unseren Hunger zu stillen. Die Italiener sind verreist… ja, ok und wohin? In die Berge, an die Seen, ans Meer. Auf meiner Weiterfahrt Richtung Morbegno suche ich vergeblich bei Agriturismi und Bed&Breakfeast-Anbietern ein Bett für eine Nacht. Alle sind weg.

Auf halber Strecke zwischen Sondrio und Morbegno liegt ein bekanntes Restaurant und Hotel. Ich erreiche es nach einem Regenschauer und staune: direkt an der Strasse gelegen, gut frequentiert, tolle, moderne Zimmer. Und das Essen! Der Betrieb hat es erkannt: es werden nur lokale Erzeugnisse („km zéro“) verwendet. Natürlich ist der Betrieb Mitglied von Slowfood. Es geht also doch!
Morbegno
Morbegno
Von Morbegno nach Chiavenna mit Badespass
Meine Muskeln sind müde. Trotzdem nehme ich den Umweg nach Cólico am Lago di Como auf mich – ich will den See sehen und Eis essen! Beim nächsten See auf meinem Weg, dem Lago di Mezzolo, gönne ich mir eine lange Pause und schwimme im herrlich warmen, weichen Seewasser. Mein Ziel Chiavenna erreiche ich ziemlich k.o. Einen Spaziergang durch die historische Stadt mache ich aber noch – er lohnt sich: historische Häuser, ein Palast der Von-Salis-Familie (die einflussreiche Familie hat zahlreiche Spuren in Graubünden und im Veltlin hinterlassen), ein Kloster, kleine Apéro-Beizchen mit Balkonen hoch über der tosenden Mera und etwas Besonderes: die Crotti. Das sind Höhlen bzw. Hohlräume in den Felsen, welche dank einem kühlen Wind stets eine Temperatur von 8 bis 10°C aufweisen und von der Bevölkerung seit jeher zur Aufbewahrung von Käse, Salami und Wein genutzt werden. 90 gibt es allein in Chiavenna! Die Stadt liegt an der Wegscheide von den Pässen Septimer, Splügen und Maloja und bleibt zu Unrecht oft links liegen. Ihr herber Charme gefällt mir, die historischen Häuser wecken Neugierde und die lokalen Spezialitäten verführen! Selber schuld, wer das verpasst.
Sentiero Valtellina
Lago di Mezzola
Chiavenna
Kloster in Chiavenna
die Mera

Abschied mit Bus, Bahn und auf dem Bike
Den Maloja Pass erklimme ich mit dem Bus. Um die 1‘300 Höhenmeter durch das Bergell bis zum Pass hinauf zu radeln, hätte ich doch noch ein bisschen mehr Zeit gebraucht. Nochmals bike ich durch die liebliche Landschaft des Engadins, welche so viele Künstler inspiriert hat. Es ist das einzigartige Licht über den Bergen und Lärchenwäldern, welche sich in den Oberengadiner Seen spiegeln, und die Schaffenskraft von Bildhauern, Malern und Schriftstellern anspornt.
Lago di Maloja

St. Moritz bildet wieder die Ausnahme: es ist hektisch, am St. Moritzer See tummeln sich Menschen aus aller Welt, und ich mache, dass ich rasch durchkomme. In Samedan ist Endstation meiner kleinen Reise: Ich steige in den Zug und fahre nach Hause. Müde und überglücklich, mir diesen alten Traum erfüllt zu haben.

Und ich bin auch wieder in Hurghada hoffe, endlich Zeit für meine Blogs zu finden, die noch nicht veröffentlicht sind.

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