Samstag, Oktober 30, 2010

Schnorcheln in Abu Dabbab (Marsa Alam)

„Es ist wie in der Karibik, komm doch mit!“ schwärmte die Stimme ins Telefon. Wie in der Karibik? Ich konnte es kaum glauben, denn ich weiss, wie es dort ist. Trotzdem sagte ich gerne zu – Abwechslung von Hurghada war nötig und willkommen.

Drei Fahrstunden südwärts, unterbrochen von einer kurzen Rast in El Quesir, entstiegen wir dem Minibus und fanden uns in einer anderen Welt wieder.
Sanfte Hügel rollen bis ans Meer, eine weit geschwungene Bucht gibt den Blick auf ein grosszügig angelegtes Hotel und das tiefblaue Meer frei. Und: ein lang gezogener, mit Muscheln und abgestorbenen Korallen übersäter feiner, heller Sandstrand, riesige, mit getrockneten Palmwedeln gedeckte Sonnenschirme; darunter versteckt laden Liegen aus Schilfrohr ein, sich niederzulassen, dem Rascheln der Palmwedel zu lauschen und auf das glasklare Meer hinaus zu träumen. Die Strandinfrastruktur bietet unaufdringlich alles an, was Taucher und Schnorchler benötigen.

Doch das wichtigste lag überaus verlockend vor uns: ein unglaublich glasklares Wasser, ein intaktes Korallenriff und die Aussicht, eine Seekuh und Meeresschildkröten zu sehen. So verliessen wir die Liegestühle eiligst wieder, befestigten Flossen, Masken und Schnorchel und glitten in das Badewasser warme Meer hinein. Wenige Padelbewegungen zur Mitte der Bucht genügten und tatsächlich: wenige Meter unter uns auf dem Meeresboden ruhte eine Meeresschildkröte und nahm von der menschlichen Hektik über ihr absolut keine Notiz. Nicht weit von ihr entdeckten wir weitere Meeresschildkröten; längliche, gelbliche Fische ruhten auf dem Panzer einer der Kröten. Putzerfische? – sicher bin ich nicht mehr, ob das der richtige Name war. Einzig die Seekuh wollte sich trotz intensiver Suche nicht sehen lassen.

Nach einer leckeren Verpflegung – von der Organisatorin selbst zubereitet – und einer wohltuenden Ruhepause setzten wir unsere  Meeresentdeckung fort. Inzwischen gehörte die Bucht fast uns alleine und wir schwammen entlang dem Korallenriff hinaus, bis das Meer zu tief, die Sicht zu schlecht, die Strömung zu stark wurde. Welch unerwartete Pracht sich da unten versteckt: Fische in den buntesten Farben, aber auch solche, die sich zu tarnen wissen. Korallen im schönsten dunkelblau, knalligsten gelb, verführerischstem lila und anderen Farben. Blaupunktrochen, Feuerfische, Steinfische, Kugelfische – als Laie konnte ich mir nicht viel mehr Namen merken. Umso eindrücklicher wirkte auf mich, was ich staunend sah: winzige Fischchen in Schwärmen, silberne Fische die miteinander einen Endlos-Reigen tanzten, ein bräunlicher schmaler Fisch, der jeweils mit einer seiner Flossen nach oben zu winken schien. Das schräg ins Meer fallende Licht der Nachmittagssonne verstärkte den zauberhaften Eindruck noch. Still lag ich auf der Wasseroberfläche und beobachtete dieses ruhige Treiben unter mir. Eine heile Welt schien das da unten zu sein, friedlich, gefahrlos, der Wirklichkeit entrückt. Dass dem nicht so ist, daran wollte ich momentan nicht denken.

Doch nur Minuten nach dem ich aus dem Wasser verlassen hatte, spürte ich, dass ein Finger schmerzte. Ich sah ihn an und stellte fest, dass er anschwoll und sich dunkel verfärbte. Berührt hatte ich nichts – ausser den Seilen, die das einzige Boot in der Bucht festhielten, und die wir queren mussten. Ich wurde informiert, dass sich am Seil winzige Korallen festsetzen und ich offenbar damit in Berührung gekommen war. Auch Quallen hatten Blasen auf meiner Haut hinterlassen. Allerdings war ich die einzige unserer Gruppe, die diese Erfahrungen gemacht hatte und noch längere Zeit daran erinnert wurde.

Auf unserer Rückfahrt wurden wir von einem dieser wunderbar kitschigen Sonnenuntergänge begleitet, die die Wüste täglich neu zelebriert. Wir erfrischten uns in El Quesir nochmals in einem landestypischen Kaffee, in der Dämmerung am Strand sitzend, die Füsse beinahe im leise plätschernden Meer. Eigentlich zu schade, um weiterzufahren. Doch unterwegs erwartete uns noch eine kleine Überraschung: unser Bus musste mitten in der Wüste während einer Viertelstunde anhalten, weshalb wir in den Genuss eines – für Europäer - selten gewordenen Anblicks kamen: einen unglaublich klaren Sternenhimmel mit Abermillionen von Gestirnen, frei jeglicher Lichtverschmutzung. Wahrlich ein krönender Abschluss eines eindrücklichen Tages. Wie in der Karibik? Vielleicht… vielleicht auch schöner.


Informationen zu diesem und anderen Ausflügen sind zu finden bei: www.cleopatra-travel-hurghada.com/index.html



 

  

Dienstag, Oktober 12, 2010

Wasser ist zum...

… waschen da.
Oder eben nicht.
Dass es eben nicht vorhanden sein kann, habe ich hier in Hurghada – und früher schon in Südamerika und Spanien – öfters erlebt. Doch diesmal dauerte der Zustand schlichtweg zu lange.
*****
Ich verstaute mein soeben gekauftes Gemüse und Obst im Kühlschrank und ging ins Bad, um mir wie üblich nach dem Einkauf die Hände zu waschen. Doch…
… da kam kein Wasser. Ich wurde stutzig. Stromausfall? Schon gehabt. Ich drückte den Lichtschalter und – es wurde Licht. Soeben hatte ich doch auch Licht im Kühlschrank gesehen… oder nicht?
Ich rekapitulierte: Stromausfall bedeutet: weder Strom noch Wasser. Doch Wasserunterbruch OHNE Stromausfall? Das war was Neues. Entweder gab es gar kein Wasser oder die Pumpe war futsch. Mhm. Und ausserdem: es war der erste Feiertag nach dem Ramadan, das ist Ausnahmezustand wie bei uns Weihnachten. Niemand arbeitet, niemand ist erreichbar. Mir schwante Fürchterliches!
Als technisch unversiertes Wesen rief ich den Wohnungsbesitzer an. Er versprach, den Klempner aufzutreiben, der würde erfahrungsgemäss aber nicht vor 7 Uhr abends auftauchen, wenn überhaupt. Es war 3 Uhr nachmittags und 37° heiss. Ich solle die Hauptzuleitung abschalten und die entsprechende Stromsicherung. Was ich folgsam tat. Zudem übte ich mich in Geduld und Gelassenheit, was mir recht gut gelang.
Um 9 Uhr abends kam dann der gute Mann namens Mahmoud. Die Pumpe hatte tatsächlich ihren Geist aufgegeben, ihre Innereien – ein Gummibalg – waren ein Opfer der Hitze geworden und zerborsten, zerfleddert und landeten im Garten bzw. im Sand vor dem Haus (und nicht im Container fünf Meter daneben). Eine neue Pumpe wurde sogar aufgetrieben und um 11 Uhr nachts lief das Wasser wieder aus dem Hahn, kurz darauf auch über meinen verschwitzten Körper.
*****
Mein Wecker erinnerte mich morgens um 7 Uhr daran, dass ich mit dem Rennrad hinaus wollte. Also löste ich mich schlaftrunken von der Matratze, zog die Vorhänge zurück und blickte hinaus in die Wüste unter dem stahlblauen Himmel. Ich schlich ins Bad, drehte den Wasserhahn auf – doch da kam schon wieder nichts. Anstatt mich zu ärgern und zu sorgen stieg ich trotzdem aufs Rennrad und genoss eine zweistündige Fahrt, bei der ich sogar das Wasserproblem vergass. Als ich in die Wohnung zurückkam, erinnerte ich mich zwangsweise erneut daran. Ich hatte dringend eine Dusch nötig und holte die für diese Fälle abgefüllten Plastikkanister hervor, drei an der Zahl, zu je 6 Litern. Weit reichte es natürlich nicht und eine Flasche musste ich als Notration zurückbehalten.
Mein Wohnungsbesitzer schlief noch. Ich schrieb ihm ein sms. Nachmittags um 3 Uhr rief ich ihn an – hatte ihn soeben geweckt. Er meinte, sicher sei die Zisterne leer, ich soll das doch prüfen. Er hatte gehört, dass es Lieferengpässe in Mubarak 2 gegeben hatte. Tja, wie sollte ich das denn prüfen? Dass da unten eine Zisterne mit einem Eisendeckel drauf ist, weiss ich. Aber sehe ich den Wasserstand? Es hatte Wasser, aber ob das reichte? Ich fragte meine Nachbarn – ja, sie hatten Wasser. Also war wieder etwas kaputt. Niedergeschlagen rief ich meinen Vermieter wieder an. Der war verärgert und meinte, es wäre meine Schuld. Toll. Ich fühlte mich wunderbar…
Das Spiel ging von vorne los: der Klempner versprach, nach der Arbeit zu kommen (er arbeitete am Feiertag!?). Um 9 Uhr abends kam er und meldete kurz vor 11 Uhr, er könnte es nicht reparieren, eine Röhre sei gebrochen, er müsse Ersatz kaufen und das sei erst am folgenden Tag möglich. Mein Gott! Was mache ich jetzt?
Nichts natürlich. Katzenwäsche und schlafen. Mit Trinkwasser, weil ich sonst nichts mehr hatte. Und den Termin für nächsten Vormittag um 10 Uhr absagen.
*****
Stattdessen fuhr ich in einen teuren Strandclub, um wiedermal in den Genuss einer Dusche zu kommen und die Haare zu waschen. Es war eine Wohltat für Körper und Geist, eine Belastung für meinen Geldbeutel. Aber irgendwie ärgerte ich mich trotzdem. Immer mehr. Meine Geduld hat sich  klammheimlich in Nichts aufgelöst und ich spürte nur noch Zorn und Wut. Auf alles und jeden hier in diesem Lotterland.
Kurz vor halb 9 Uhr abends tauchte Mahmoud wieder auf. Bis um 11 Uhr nachts hämmerte, sägte und klopfte er im Dunkeln herum, bat mich, die Stromsicherung ein- und wieder abzuschalten. Wasser auf- und abzudrehen. Als das Wasser dann endlich wieder lief, schenkte ich ihm voller Dankbarkeit Schweizer Schokolade.
… ohne die Rechnung mit dem Wirt gemacht zu haben. Der Vermieter meinte, diesmal solle ich die Reparatur bezahlen. Ich tat es, allerdings stocksauer und noch wütender.
Aber ich hatte wieder Wasser, eine neue, zuverlässige Pumpe und ein einen Meter langes neues Stück grünes Rohr unten beim Wasserschacht. Was will man mehr? Zu allem Überfluss wusste ich nun sogar, was Rohr auf Arabisch heisst.
*****
Vor lauter Freude kaufte ich mir am darauffolgenden Tag frischen Fisch, trug ihn überglücklich nach Hause, bereitete ihn sorgfältig zu, legte ihn in die Pfanne und schaltete den Gasherd ein.
Doch, ach, es war kaum zu glauben, irgendetwas stimmte nun mit dem Gasherd nicht, der Fisch wurde nicht gar, die Flamme immer kleiner… bis sie endgültig erlosch. Ich traute meinen Augen nicht, stand wie versteinert vor dem elenden Gasherd, wusste aber, dass es wahr war: das Gas war aufgebraucht.
Enttäuscht wartete ich, übte mich erneut in Geduld… wofür? Dass nämlich der kleine Lastwagen mit Gasflaschen kommt, der zweimal täglich mit einem Heidenlärm durch die Strassen fährt und seine Anwesenheit unüberhörbar kund tut. Doch an diesem Tag wartete ich vergebens. Er kam nicht, entgegen seinen Gepflogenheiten.
Ich verstaute den Fisch im Kühlschrank und hatte plötzlich gar keinen Hunger mehr. Irgendwie hatte ich genug bekommen. Genug vom Wasserunterbruch, genug vom Vermieter, genug von… einfach allem.
Erst anderntags gegen Mittag, nachdem ich schon im Laden und beim Doorman nachgefragt hatte, ertönte der bekannte metallische Lärm, der mir diesmal so verheissungsvoll erschien. Ich rannte auf den Balkon und rief, dass ich eine „Anbuba“ bräuchte. Ein höchstens 13jähriger Knabe schleppte das Teil hoch, sein Boss, ein strohblonder Ägypter mit rabenschwarzen Händen und Füssen schloss es an.
Der Fisch war derselbe, noch tadellos, aber er schmeckte mir irgendwie nicht mehr, erfreute mich nicht mehr.

Montag, Oktober 04, 2010

Gewürzladen

Ashraf sitzt auf dem Treppenabsatz vor seinem Geschäft. Links und rechts des Eingangs stehen dicht gedrängt grosse Körbe, Taschen und Kisten mit bunten, verlockenden Gewürzen, exotischen Teesorten, zarten Naturschwämmen und rauen Bimssteinen. Bescheiden ist sein Laden, nur 2 x 2 m gross. Innen stapeln sich in den hohen Regalen duftende Seifen, weitere kräftige Gewürze, vielerlei Nüsse, parfümierter Tabak, Räucherstäbchen, lauter Sinn betörende Köstlichkeiten.

Ashraf lächelt. Er ist immer fröhlich, hat für jeden ein freundliches Wort, ist hilfsbereit, beantwortet in gebrochenem Englisch, Russisch oder Deutsch jede Frage, springt Kollegen zu Hilfe, wo es nötig ist.

Heute ist der vierte des Monats. Morgen ist die Miete fällig.

Vor sechs Monaten hat Ashraf diesen winzigen Laden an einer mässig frequentierten Strassenecke im älteren Stadtteil eröffnet. Das Geld dafür hat er sich während zweieinhalb Jahren mit der harten Arbeit als Tellerwäscher und Gemüserüster in einem Hotel für Ausländer zusammengespart.

Vor drei Jahren hat Ashraf sein ländliches Dorf im Nildelta verlassen. Seine wenigen Habseligkeiten fanden in einer kleinen Tasche Platz. Er wollte sein Glück im berühmt-berüchtigten Badeort finden. Seine Eltern konnten ihn nicht mehr ernähren, Arbeit gab es in seinem Heimatdorf für ihn wie für zahlreiche andere Jugendliche nicht. So ist er losgezogen, in die Fremde, von der er viel Wundervolles gehört hatte. Man werde dort in kurzer Zeit reich. Die Touristen liessen viel Geld liegen. Nach fünf Jahren könne er nach Hause zurückkehren und für seine Familie eine bescheidene Wohnung kaufen. Vielleicht mit zwei Zimmern und einem Bad mit Dusche. Und vielleicht – wer weiss? – vielleicht reichte das Geld für eine Heirat mit seiner Cousine?

Ashraf wollte nicht auf eines dieser gefährlichen Boote, um hinüber nach Europa zu fliehen. Seine Familie hätte das Geld für die Schlepper niemals auftreiben können. Nein, er wollte in seinem Land bleiben, hier eine Zukunft finden, aus eigener Kraft!

Doch als er hier ankam, fand er nur schlechte Arbeit, schlecht entlöhnt. Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag, manchmal mehr. Die Unterkunft war schmutzig, aber wenigstens musste er nicht auf der Strasse oder in einem Rohbau schlafen wie so viele andere. Und zu Essen bekam er auch. Nicht so gut wie zuhause, aber er hungerte nicht.

Ashraf ging nie aus. Er suchte sich keine Freundin. Er lebte sparsam, legte jedes Pfund zur Seite.

Dann hatte er endlich genügend Geld beisammen, um diesen winzigen Gewürzladen zu eröffnen. Er hatte Glück, denn die Miete ist bescheiden und in dieser Strasse ist er der Einzige mit Gewürzen. Die Touristen schauen, fragen, riechen – aber sie kaufen wenig. Die Einheimischen holen hie und da Karkadee oder ein paar Gewürze.

Morgen ist die Miete fällig. Ashraf isst nur einmal am Tag, manchmal noch eine Handvoll Datteln, mehr liegt nicht drin. Hie und da kauft ihm ein Freund eine warme Mahlzeit, bestehend aus gekochten Bohnen, Reis und Fladenbrot.

Es ist ein Uhr morgens, Ashraf räumt die schweren Säcke und Kisten hinein und lässt laut ratternd den Rollladen herab. Lächelnd grüsst er seine Geschäftsnachbarn. Heute belaufen sich seine Tageseinnahmen auf zwei warme Mahlzeiten.

Morgen ist die Miete fällig. Er weiss nicht, wovon er sie bezahlen soll.




Fast 60% der Bevölkerung Ägyptens sind unter 25 Jahre alt. 90% aller Arbeitslosen sind unter 30 Jahre alt. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 23% (je nach Quelle auch 28%). Der Staat hat im nächsten Fünfjahresplan (2010 bis 2015) einen Betrag von 17 Milliarden ägyptische Pfund (rund 3,4 Milliarden Schweizer Franken) budgetiert, um 3 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen und die Jugendarbeitslosigkeit auf 15% zu reduzieren [Al-Ahram l’Hebdo, Mai 2009]. Allerdings hat das immense Wirtschaftswachstum der vergangenen sieben Jahre keine Reduktion der Arbeitslosigkeit bewirk, im Gegenteil sie ist auf knapp 10% gestiegen. Dies sind offizielle Zahlen, die Realität sieht anders aus.

Was tut sie denn?

Es ist schon dunkel, sicher ist es nach acht Uhr abends. Ich trage meine Einkäufe nach Hause. Schritt für Schritt, langsam. Nicht weil meine Einkäufe schwer sind, nein, nur damit ich nicht noch mehr schwitze.
Vom Supermarkt zu meiner Wohnung habe ich mehrere Möglichkeiten: der lärmigen, verkehrsreichen Hauptstrasse entlang, mitten durchs Quartier an den Geschäften und Imbissstuben vorbei oder oberhalb, wo es etwas ruhiger ist und Bänkchen stehen.
Auch da hat es Geschäfte, aber es ist bedeutend ruhiger und ich gehe da eigentlich am liebsten durch. Hier hat es kaum Taxis, weniger Verkehr, weniger Fussgänger. Manchmal spielen Kinder Fussball, tuscheln kleine Mädchen, sitzen Frauen tratschend auf den verwahrlosten Steinbänkchen.
Eine verschleierte Frau vor mir schiebt ihren Kinderwagen vor sich her. Sie geht gemächlich, wie ich. Doch plötzlich dreht sie ihren Kinderwagen abrupt zu einem der Bänkchen hin. Ich folge ihr mit meinem Blick und entdecke: da liegt jemand. Dieses jemand ist eine junge Frau, kreidebleich, liegt seitwärts auf der steinharten Bank. Ihr Kopf liegt auf ihrem ausgestreckten Arm, ihr Jeanskleid wirkt europäisch, dazu trägt sie Leggings. Das schwarze Stofftäschchen liegt achtlos im Gras unter der Bank. Was hat sie denn? Ist sie krank? Ist ihr etwas zugestossen? Lebt sie überhaupt noch?
Die Frau mit dem Kinderwagen versucht sie mit dem internationalen „Hallo“ anzusprechen. Die junge Frau reagiert nicht, liegt reglos da. Ich will weitergehen, doch irgendwie geht das nicht und ich geselle mich zu der Frau mit dem Kinderwagen. „Hallo“… „hallo“ – nichts. Sie schüttelt sie und redet Englisch, dann plötzlich in einer Sprache, die ich nicht beherrsche. Russisch. Die junge Frau bewegt sich leicht fahrig.
Die Frau mit dem Kinderwagen bleibt hartnäckig und fragt weiter. Nach einer Weile erhält sie eine undeutliche Antwort. Was sagt sie? frage ich. Sie sieht mich an, packt wieder ihren Kinderwagen und sagt: sie ist sturzbetrunken.
Wir gehen ein paar Schritte neben einander her, ich versuche ein Gespräch anzufangen. Ohne Erfolg.
Die Frau biegt mit ihrem Kinderwagen rechts ab, ich trage meine Einkäufe weiter.
Betrunken. So jung, liegt da allein, hier! Irgendwie … ja, ich weiss gar nicht, was ich denken soll…. so jung… so bleich… liegt da an einem Ort, wo ich mich nicht mal hinsetzen würde… Irgendwie bestürzt bin ich… Und doch schiebe ich die Gedanken an sie von mir weg. Hier gibt es nichts, das unmöglich ist.
Fast schon mechanisch frage ich mich, was mir wohl als nächstes in die Quere kommen wird…

Dienstag, September 28, 2010

Was übrig bleibt

Ganz kurz nur hat er seinen Dienst getan: er wurde fabriziert, um irgendeinen Einkauf zu halten: Pommes Chips, Sandwiches, Milch, ein Eis. Er ist nicht sehr kräftig, aber doch genügend fest, um ein paar Kleinigkeiten zu tragen, damit diese nicht auf die Strasse purzeln. Nun wurde der kleine weisse Plastiksack zusammen geknüllt und achtlos auf die Strasse geworfen. Dort rollt er sich hin und her, sucht halt an einem Stein, einem Zaun.

*****

Etwas abseits steht eine grosse schwere Mülltonne. Sie ist offen, einen Deckel hat sie nicht, braucht sie nicht, denn es regnet ja nicht. Sie steht an einem blöden Ort: am Ende einer steilen Strasse, die sich im Fels verliert. Der Sand rutscht den Abhang herunter, herumliegender Abfall und Scherben erschweren den Zugang und nachts bewachen streunende Hunde mit lautem Gebell ihre Spiel- und Nahrungsquelle. Solche Mülltonnen gibt es einige im Quartier.

Auch grosse graue Plastikkübel gibt es. Ideal platziert, nie weit von einem Hauseingang entfernt und doch weit genug, damit der Gestank nicht stört. Trotzdem liegen manche Kübel am Boden, Abfall türmt sich in, auf und um die Kübel herum auf. Katzen freuen sich darüber.

Und da sind auch diese ausgemergelten Männer, ihre Gesichter sind eine unergründliche Faltenlandschaft, dunkelblaue Overalls bedecken ihre knochigen Gestalten, ihr Turban ist aus wenigen Quadratzentimetern Stoff gewickelt. Sie schieben einen Kübel auf Rädern samt Reisigbesen vor sich her. Oder lassen ihn nicht weit von sich entfernt stehen. Sie wischen die Strassen, sammeln Unrat ein. Selten sieht man sie bei der Arbeit, oft sitzen sie auf dem Trottoir im Schatten und rauchen.

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Ein Müllmann nimmt den zusammen geknüllten Plastiksack auf und wirft ihn in seinen Kübel. Dort liegt er auf Plastikflaschen, Zigarettenkippen und Blechbüchsen. Weitere Plastiksäcke gesellen sich zu ihm, Glasflaschen und Pizzaschachteln erdrücken ihn. Nach einigen Tagen wird der Kübel ausgeleert, in einen grossen Metallcontainer. Fast könnte der Plastiksack mit dem Wind entwischen – doch schon wird er von anderem Unrat festgehalten.

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Einmal täglich – meistens – kommen die Zabaleen, die Müllsammler. Auf einen viel zu kleinen Lastwagen wird ein Teil des Abfalls geladen. Der Fahrer bleibt in der Führerkabine sitzen, zwei weitere Männer sortieren den Abfall: einer der beiden wählt aus dem Container mit blossen Händen aus, was auf den Lastwagen darf. Er reisst Abfallsäcke auf, entnimmt Karton, Plastik, Kleiderreste, Metall und anderes Verwertbares und reicht sie dem zweiten Mann hinauf auf die Ladefläche. Oben werden Kartone gefaltet und fein säuberlich am Rand der Lade verstaut – praktisch, denn somit kann das Fassungsvermögen enorm erhöht werden. Alles andere wird in verschiedene hellblaue Säcke auf dem Lastwagen verteilt. Organische Abfälle wie abgeschnittene Äste, verwelkte Blumen oder Palmwedel bleiben liegen. Ebenso Speisereste. Seit es in Ägypten keine Schweine mehr gibt, sehen die Zabaleen auch keine Möglichkeit, Lebensmittelreste zu verwerten. Die aus den Abfallsäcken befreiten Plastiktüten, Schächtelchen und Papierreste werden vom Wind über die Strasse gewirbelt, verheddern sich in Buschwerk und an Gartenzäunen und suchen sich den Weg überall dorthin, wo sie nicht hin gehörten.

Wenn die Zabaleen da waren, sind Container und Kübel meistens leer, dafür ist rundherum ein riesiges Chaos. In der Nacht wühlen Hunde und Katzen an den Resten, zerren sie quer über die Strasse, kämpfen um Speisereste.

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Mit einem heftigen Ruck wird der Container gekippt, plötzlich fühlt sich der kleine weisse Plastiksack befreit: ein Windstoss erfasst ihn, hebt ihn hoch, lässt ihn durch die Luft wirbeln! Diese unerwartete Freiheit irritiert ihn… wo soll er denn hin? Ziellos tanzt er in die Höhe, lässt sich herabfallen, treibt knapp über der Strasse dahin, weicht einem Busch aus und gewinnt wieder an Höhe. Am liebsten würde er jauchzen vor Freude, so herrlich ist es, sich mit dem Wind treiben zu lassen.

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Im Halbdunkel sind manchmal auch Männer zu erkennen, die über den Container gebeugt den Abfall durchwühlen… Wonach suchen sie? Essbarem? Fühlen sie sich beobachtet, senken sie den Blick, drehen sich um und gehen weg.
Gut gekleidete Herren lassen frühmorgens oder spätabends ihre Abfallsäcke an der Rückseite des Wohnblocks stehen oder ganz einfach mitten auf dem Trottoir! - und gehen in Seelenruhe weiter…

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Doch abrupt wird sein stilles Juchzen abgewürgt. Der Plastiksack hat sich in den Ästen eines hohen Baumes verfangen, der Wind drückt seine Schlaufen in verschiedene Richtungen, der Sack droht zu zerreissen, wehrt sich, flattert, zittert noch eine Weile, doch der Wind ist stärker.

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Alle paar Wochen verschafft ein riesiger Bagger vorübergehend Abhilfe: seine gierige Schaufel lädt alles auf einen grossen Lastwagen, was seit Wochen liegen blieb: Scherben, Knochen, Büchsen, verdorrtes Blattwerk, Stofffetzen, Steine, Sand. Danach sieht es für ein paar Stunden sauber aus – einzig die an Gartenzäunen und in Büschen hängen gebliebenen Plastiksäcke bleiben zurück.

Sonntag, September 26, 2010

Verstörende Erkenntnisse

„Es ist ein Schnäppchen, eine einmalige Chance, sieh Dir’s an!“

Habe ich gemacht. Eine kleine Wohnung in einer Wohngegend, die noch im Aufbau begriffen ist. Eine Zukunftsinvestition – der Preis überraschend tief.

„Wo ist der Haken?“ war sofort meine Frage. Er braucht dringend Geld. Cash. Hinter jedem Verkauf steht eine Geschichte…

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Ein lauer Wind bläst die letzte Hitze fort. Jetzt ist es endlich angenehm, draussen zu sitzen. Sieben oder acht sind wir, sitzen in einem bekannten Kaffee in El Memsha, treiben vorerst Smalltalk. Wie immer sitze ich am falschen Ort: der unvermeidliche Shisharauch bläst mir ins Gesicht.

Da ist die vielleicht gut fünfzigjährige Holländerin. Sie verwaltet Villen und Wohnungen und hat jede Menge Kontakte quer durch Hurghada. Und Erfahrungen. Schon an unserem ersten Treffen hat sie von sich erzählt. Ihr Exfreund schlug sie, betrug sie, sperrte sie ein, lockte sie gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn in einen Hinterhalt und schlussendlich war sie alle Mieteinnahmen eines Monats, ihre Laptops samt Buchhaltung und Kontakten, persönliches Bargeld und Schmuck los. Exfreund und Schwiegersohn sitzen für drei Monate im Gefängnis. Sie hat Angst vor dem, was nachher kommt. Heute Abend ist sie die harte Geschäftsfrau, die Käufer und Verkäufer zusammen bringt.

Da ist eine Österreicherin in meinem Alter, erst seit einem Jahr hier. Schickt mir ihr Töchterlein zum Französischunterricht. Und will mir unbedingt helfen. Warum nur? – frage ich mich verwundert.

Ihr ägyptischer Freund hat sie beim Hausumbau und der Einrichtung beraten. Die Registrierung beim Grundbuchamt hat er in viereinhalb Monaten erreicht – andere warten Jahre. Er hat Preise heruntergehandelt, die sonst doppelt so hoch sind oder das Dreifache betragen. Diese Erfahrung will er mir weitergeben – nicht gratis natürlich.

Und da ist noch das belgische Ehepaar, vielleicht Mitte fünfzig, das seine Wohnung verkaufen will. Irritiert bemerke ich, dass ein ägyptischer Jüngling bei ihnen ist. Sicher wegen den Dokumenten – denke ich mir. Sie können kein Arabisch, da braucht es eine Hilfe, auf die man sich verlassen kann. Rasch fällt mir aber auf, dass er sich wie ein Hündchen verhält, wie seltsam…

„Weisst du, ich muss mich operieren lassen. Ich habe Krebs. Einen Tumor im Kopf. Stabil. Es eilt nicht, aber je früher ich das machen lasse, umso besser. Und in Belgien gibt es keine Spezialisten dafür. Ich muss deshalb ins Ausland und dafür brauche ich Geld. Viel Geld.“ Mein Mitleid regt sich. Armer Tropf. „Und trotzdem rauchst du weiter?“ staune ich.

Seine rundliche, freundlich dreinschauende Frau sieht und hört nur zu. Sie sagt fast nichts. Erst als ich sie auf Französisch anspreche, erwidert sie lebhaft meine Fragen.

Ihr Mann zeigt mir die Papiere, gibt mir allerhand Informationen über die Wohnung, die finanziellen und nervlichen Investitionen. Er war an falsche Anwälte geraten und es dauerte zwei Jahre und viele Euros, bis er alle Papiere beieinander hatte. Trotzdem will er die Wohnung mit einem grossen finanziellen Verlust verkaufen.

Andererseits erzählt er, dass er hier in Ägypten erfolgreich Geschäfte betrieben habe – aber nun alles Geld verbraucht habe. Wie tragisch.

Inzwischen ist noch ein ägyptischer Vertrauter gekommen. Ich bin erleichtert, muss ihn aber fast nötigen, sich zu uns zu setzen. Ich lege es so aus, als dass er nicht stören will. Damit irre ich mich aber gewaltig.

Irgendwann ist alles gesagt, der Belgier wendet sich immer wieder seinem Hündchen neben sich zu, ich beachte ihn gar nicht, sehe ihn auch nicht, hatte ihn nicht mal begrüsst, denn er wurde mir nicht vorgestellt. Sie verlangen die Rechnung, bezahlen, man verabschiedet sich. Ich verspreche, mich innert Wochenfrist zu melden, falls ich mich zu einem Kauf entscheide.

Und Tschüss. Erleichterung.

Ich sehe die Österreicherin an. „Das stimmt gar nicht, zu mir hat er gesagt, er brauche Bargeld für ein Geschäft“ klärt sie mich auf. Er hat gelogen. Wieder einer, der mit meinen Gefühlen, meinem Mitleid spielt. Er braucht es wohl eher für etwas anderes.

Als ich meinen Vertrauten um seine Meinung bitte, bricht es aus ihm heraus. Er ist angewidert, bezeichnet ihn mit Ausdrücken, die ich nicht wiederholen kann. „Er hat ihn geküsst!!“

… Und seine Frau sass daneben!

Die Österreicherin und ich sitzen völlig verstört da. Ihr Freund lacht nur: „Vielleicht machen sie’s zu Dritt!“

„Hast du denn keine Lebenserfahrung? Wo lebst du denn?“ muss ich mir anhören. Doch, doch, habe ich. Aber die Anhäufung von Randexistenzen, Kriminellen und anderen rechtlosen Individuen, wie sie hier auftritt, verlangt eine Neuordnung meines Weltbildes… bevor es endgültig auseinander zu brechen droht.

*****

Wie gesagt, hinter jedem Verkauf steht eine Geschichte…

Montag, September 20, 2010

Einfach zum Lächeln

Wenn ich zum Einkaufen gehe, bemühe ich mich redlich, meine Wünsche in Arabisch zu formulieren. Je nach Geschäft und Ansprechpartner folgt dann die Antwort auf Englisch. So geht das dann hin und her – der Ägypter redet Englisch, das noch himmeltrauriger ist als mein Arabisch, und ich antworte mit meinem miesen Arabisch.

Irgendwie laufen alle Gespräche nach folgendem Muster ab:

Ich (in Arabisch): Guten Tag, ich hätte gerne dieses oder jenes. Oder: ist XY da?
Er (in Englisch): Guten Tag, ja, haben wir. Oder: nein. Oder: ich weiss es nicht.
Ich (in A): Wann ist es erhältlich oder wann kommt XY?
Er (in E): Morgen, In’scha’allah.
Ich (in A): Kannst Du bitte Arabisch mit mir sprechen?
Er: Wohnst Du hier? (mit viel Glück dann endlich in Arabisch)
Ich: Ja.
Er: Wie lange schon?
Ich: Seit dann und dann.
Er: Bist Du verheiratet?
Ich: Ja.
Er: Mit einem Ägypter?
Ich: Ja.
Er (wieder in Englisch): Oh, er ist ein glücklicher Mann!
Ich (weiterhin in Arabisch): danke.

Und künftig werde ich noch anfügen: ich werde es ihm (meinem fiktiven arabischen Ehemann) sagen.
Lächelnd verlasse ich das Geschäft. Ich habe zwar weder das gewünschte Produkt noch die nötige Auskunft erhalten, aber der Verkäufer hat das Beste aus der Situation gemacht: er hat mich einfach zum Lächeln gebracht!