Mittwoch, Juni 24, 2015

Augenblicke

Etwas zupft mich am Arm, zieht energisch an mir. Ich dreh mich um: ach, die kleine, alte Bettlerin, die tagaus- tagein am Markt ist und beharrlich um Almosen bittet. Beim Umdrehen ist mein Blick an einem hageren, lang gewachsenen Mann hängen geblieben. Er ist in einen dieser HEPCA-Overalls gekleidet, welche die Strassenfeger tragen.

Tomaten brauch ich noch. Dann geh ich hinüber zum Obst, kauf noch Aprikosen. Dazwischen bleib ich wieder stehen, weil mir der Mann nicht mehr aus dem Kopf geht. Zuerst denke ich, er bettle auch, er sieht so elend und armselig aus. Er wischt sich den Schweiss mit einem Zipfel seines Kragens von der Stirn. Er steht da und wartet und wartet und wartet, bis sich niemand mehr vor ihn drängt und auch niemand mehr kommt. Ist es Respekt oder Unterwürfigkeit oder Scham? Dann verlangt er Gemüse.

Irgendetwas stimmt mit seinen Augen nicht, er schielt oder ist einseitig blind. Unendlich dürr ist er. Die Rückseite seines Overalls ist nass.

Ich geh weiter, will hinaus aus dem Souq. Nochmals dreh ich mich um: der Mann trägt diese grässlichen weissen Gummistiefel, die zur HEPCA-Uniform gehören. Gummistiefel bei 40 Grad Celsius! Er bückt sich schwer und mühsam, nimmt seine Plastiktüten mit seinen Einkäufen in die Arme. Aus einer Stofftasche rinnt eine Flüssigkeit über seinen Rücken – drum ist der Overall nass. Seine Bewegungen sind langsam, wie die eines Erschöpften.

*****

Die Ampel vor dem riesigen Kreisel steht auf Rot. Dreispurig stehen die Fahrzeuge ungeduldig dahinter. Von rechts fährt ein dickes Motorrad heran. Der Fahrer: ein Polizist in makellos weisser Uniform, Glatze, ohne Helm, das Mobiltelefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. So schlängelt er sich durch die wartenden Fahrzeuge hindurch, ganz links an der Ampel vorbei. Er fährt quer über die Kreuzung, links um den Kreisel herum. 

In Ägypten gilt Rechtsverkehr – aber nicht für alle.



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