Sonntag, Juli 31, 2016

Alexandria

Mit dieser Stadt verbindet mich eine Hass-Liebe. Sie zieht mich an und stösst mich gleichzeitig ab. Die einstige Perle am Mittelmeer, einstiges Handelszentrum zwischen Westeuropa und dem fernen Osten, Heimat von Intellektuellen und Herrschern, Schmelztiegel von Kulturen, zweitwichtigste Stadt des römischen Reiches, ist heute eine vor sich hin zerfallende, zerbröckelnde ehemalige Schönheit, die sich immer mehr unter dem Druck von Bevölkerungswachstum, Armut und Korruption krümmt. Noch in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts trafen sich hier die Reichen und Schönen, florierten Theater, Geschäfte und Kaffeehäuser der Griechen, Armenier, Syrer, Libanesen, Türken, Italiener, Franzosen, Deutschen, Engländer, Ägypter, Libyer und anderen.

Um die Vergangenheit dieser Schönheit, Vielfalt und Klasse auszudrücken, müsste man eine stärkere Vergangenheitsform als das Perfekt oder das Präteritum erfinden.

*****
Keine andere Stadt Ägyptens verkörpert einstige Pracht und gegenwärtigen Zerfall besser, als Alexandria.

Sich durch die Strassen dieser Stadt bewegen, heisst: beinahe in den in den Autoabgasen ersticken, wegen der nie endenden Huperei taub zu werden und stundenlang in den Verkehrsstaus auszuharren.


Zu Fuss gehen heisst, sich durchzuschlängeln durch einen endlosen Strom von Fahrzeugen, unter tropfenden Klimaanlagen, an Strassenrändern und Gehsteigen liegendem Abfall, auf Tischen und Gehsteigen ausgebreiteten Billigwaren aus China, vorbei an ambulanten Verkäufern und Fruchtständen, Bettlern und Obdachlosen und einem immensen, nicht enden wollenden Strom an Menschen, Menschen, Menschen.

Ich bin hin- und hergerissen zwischen Faszination, Traurigkeit, Wut auf die Regierung und Ekel.

*****
Café Délices, altes Kaffeehaus in bester Lage im Zentrum, Blick auf das ehrwürdige Hotel Cecil und das Meer. Zwischen einer gepflegten Rabatte, einer wartenden Pferdekutsche und wartenden Minibussen geht ein Bettler zwei, drei Schritte hin und her. Er trägt einen beigen Kaftan und ein weisses Käppchen, blabbert zahnlos stumm vor sich hin. Stundenlang. Hin und wieder drückt ihm ein Passant eine Münze in die Hand.

Plötzlich steht ein Bettler vor mir, eine Hand fehlt ihm, die vorderen Zähne auch. Sein Gesicht ist eine Faltenlandschaft. Es krümmt mir das Herz, mein Portemonnaie geht auf.

Ein hagerer, gepflegter, älterer Herr mit Stock steht vor mir. Weist mit dem Kinn auf etwas und sagt leise: „Please, please, please“. Er bittet um einen Schluck Wasser. Ich ziehe einen Stuhl herbei, helfe ihm, sich hinzusetzen, reiche ihm ein Glas Wasser, damit er seine Medizin nehmen kann. „Thank you, thank you, thank you“, zieht er auf den Stock gestützt von dannen.

Ein sauber gekleideter und artig gekämmter Junge mit suchendem Blick geht vorbei, fragt den Zigarre rauchenden Herrn neben mir, ob er ihm die Schuhe putzen dürfe. Der verneint. Der Junge geht weiter, Verzweiflung blitzt in seinen Augen auf, doch der Blick sucht weiter: Schuhe, wo sind Schuhe?

Ein Mann in den Zwanzigern steht neben meinem Tisch, redet Arabisch auf mich ein, leiert die Sätze wohl zum Hundertsten Mal heute herunter. Ich verstehe kein Wort. Vor meinen Augen tanzen grüne, hellblaue und rosarote Dinge an Schüren, mit denen man Telefonakkus aufladen kann.

Ein gepflegter Herr in mittlerem Alter, gute Statur, leicht angegraut, hält in seiner linken Hand fünf oder sechs Uhren, streckt die Hand hoch: wer will eine Uhr kaufen?

Ich kann nicht mehr, es zerbricht mir fast das Herz. Ich zahle und geh.

*****
Wenn ich Gouverneur dieser Stadt wäre, wenn ich Präsident dieses Landes wäre – ich würde mich aus Schande erhängen.

*****
Es ist Sonntag. Meine Beine tragen mich durch Manscheya, einen alten Stadtteil. Alle Geschäfte sind zu – offenbar wohnen hier Christen. Es ist leer, kein Verkehr, nur Abfall liegt da und dort herum. Ich schaue mir die einstigen Paläste an: hohe Räume, grosse Fenster mit Fensterläden, Holzbalkone, Stuckaturen. Die Farbe der Fassade bleibt unter der Abgasschicht ein Geheimnis. In kunstvoller Schrift gemalte Ladenschriften in Arabisch und meist noch Französisch. Vergangener Charme hängt in den Gassen. Ich entdecke eine Ladentüre mit buntem venezianischem Glas, es ist eine Polsterei. Kunstvoll ist der Name des Gründers in das Glas eingearbeitet. Seit 1920. Eines der Prachtstücke, von denen es da und dort noch welche zu sehen gibt, sofern sich der Besucher die Mühe gibt, sie zu finden.

*****
„Überquer den Platz da vorne, geh gerade aus, dort beginnt der Markt.“ Ich schlängle mich durch Verkaufsstände mit Spielwaren, Unterwäsche, Schuhen, ducke mich unter Lampen und Kinderkleidern. Je mehr Waren ausgestellt werden, je mehr Leute versuchen mit Handel ihr Auskommen zu finden, umso desolater ist die wirtschaftliche Lage. Je billiger die Ware, umso ärmer. Wer soll all das Zeug kaufen? Der Markt in Al Attarin zieht sich dahin – ich gelange zu den Lebensmitteln: getrockneter Fisch, Torschy (in Salzwasser eingelegtes Gemüse und Früchte), Oliven, buntes Obst, Gemüse, Rinderbeine, Brot, verlockendes Gebäck. Alles wunderschön ausgebreitet, dekoriert, mit ganzen (!) Sonnenschirmen vor der Sonne geschützt, mit durchsichtigen Folien vor Fliegen und Händen abgedeckt. Zivilisiert und höflich geht es zu und her: niemand rempelt mich an, niemand pöbelt mich an oder nötigt mich, näher zu treten oder etwas zu kaufen. Selbst wenn ich Fotos mache, lässt man mich kommentarlos gewähren. Ich „darf“ Arabisch reden, werde nicht mit Englischen Wortbrocken beworfen, nur weil ich hellhäutig bin. Oft werde ich für eine Ägypterin gehalten. Es ist sauber – kein Vergleich mit „meinem“ Markt in Dahar/Hurghada. Erleichterung – auch das ist Alexandria.

*****
Ich zieh weiter, suche meinen Weg durch den Strom der Fussgänger, vorbei an Auslagen auf den Trottoirs. Junge Männer verkaufen ab kleinen Karren Kaktusfrüchte. Einen fotografiere ich, er sieht es. Ich gehe zu ihm hin, erkläre ihm, warum und weshalb. Er schämt sich, will nicht erkenntlich sein. Ich versichere ihm, dass er den Kopf in die Hände stützt und zeige ihm das Bild. Er stimmt zu. Sein Blick ist müde, traurig, erschöpft. 

Studienabgänger, Mitte zwanzig, durchschnittliche Arbeitslosigkeit gemäss offiziellen Schätzungen: 50%.

Ich glaube, allein in Alexandria liegt die Arbeitslosigkeit quer durch alle Bevölkerungsschichten bei mindestens einem Drittel. Mir ist elend.

*****
Ich war schon oft in Alexandria, bin per Zug, per Flugzeug, per Bus und nun per Auto hergekommen. Ich war länger hier oder nur für drei Tage. Ich habe in einem Nobelquartier oder in schmuddeligen Hotels gewohnt und die berühmte Bibliothek besucht. Ich ging zum Arabisch-Unterricht. Ich war am Strand. Ich war in den Einkaufszentren. Ich ging auf den Markt. Ich bin durch die Stadt spaziert, habe mich verirrt, durchgefragt und neu orientiert. Ich sass stundenlang im Stau, fuhr mit Taxi und Minibussen. Und jedes Mal fand ich die Stadt in einem noch erbärmlicheren Zustand, noch mehr Menschen aus der Mittelschicht nahe am finanziellen und sozialen Abgrund.

*****
Alexandria steht auf löchrigem Untergrund. Die Stadt wimmelt von römischen und griechischen Grabstätten, unterirdischen Gängen, Zisternen und wer weiss noch was (Zitat National Geographic Traveller). Bei früheren Besuchen habe ich die Pompeiussäule und das römische Theater besucht. Diesmal habe ich es dank einem Freund zu den Gräbern Kom El-Shoukafa geschafft. Die Grabkammern liegen in einem ärmeren, südlichen Stadtteil und wurden entdeckt, weil ein Esel in einem Erdloch verschwand.

Über eine Rundtreppe gelangt man in die Tiefen der Hauptgräber. Rund um die Treppe sind mehrere Grabkammern angelegt, wie bei den Pharaonen. Der unterste Teil ist nicht zugänglich, er liegt im Wasser. Andere Gräber liegen nur wenige Meter unter der Oberfläche des Hügels. Auf dem Gelände liegen wahllos römisch-griechische Säulenfragmente, Steinbrunnen, Figuren, Kapitele. Erbärmlich, wie mit Kultur und Geschichte umgegangen wird, und trotzdem faszinierend… Ausserdem ist es hier ruhig.

*****
Es sind aber nicht nur diese über zweitausend Jahre alten Zeugen der Vergangenheit, sondern auch die Villen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die Gier und Vernachlässigung zum Opfer fallen. Trotz Denkmalschutz. Korruption. Deshalb ist auch die Skyline Alexandrias mit Wolkenkratzern verunstaltet, deshalb brechen Wohnblöcke in sich zusammen.

*****
Einer der Zeugen aus jener Zeit ist das ehrwürdige Hotel Cecil Steigenberger. Es wurde in den zwanziger Jahren von einer jüdischen Familie im Kolonial-Stil erbaut. Schriftsteller, Politiker und Schauspieler beehrten das Haus. Während die Gebäude rundum verfallen, strahlt dieses Hotel noch immer seinen einstigen Charme aus. Besonders begeistert haben mich der Käfig-Lift mit schmiedeeiserner Falttüre, der Jugendstil-Saal und der Blick über den Ost-Hafen.

*****
Einige Nächte verbrachte ich aus praktischen Gründen in einem Kloster. Die Anlage ist eine Insel der Ruhe: der Verkehrslärm dringt nur gedämpft über die Gärten heran. Erstaunt hat mich, dass Besucher und Mönche sich auf Französisch begrüssen und dann auf Arabisch weiterreden – oder sich in Italienisch unterhalten. Die Kathedrale St. Catherine beherbergt den Leichnam von König Vittorio Emanuele III von Italien. Der König fand nach seiner Abdankung hier Exil.

*****
Allein, was diese Stadt an Kultur und Geschichte zu bieten hat, würde einen Besucher wochenlang beschäftigen. Doch wer kommt noch nach Alexandria? Im Sommer überschwemmen Ägypter aus der Unterschicht die Stadt auf ihrer Flucht vor der Hitze und auf der Suche nach günstigen Ferien in engen Wohnungen. Sie bevölkern die Uferpromenade, Grünflächen und Plätze mangels erschwinglichen Vergnügungsmöglichkeiten. Die Reichen zieht es westwärts an die Nordküste, wo Top-Ressorts aus dem Boden gestampft werden. Ein paar wenige europäische und asiatische Touristen verirren sich her, um Arabisch zu lernen oder die Bibliothek zu besuchen.
Die Hotels sind entweder verlottert und verkommen oder gut und unerschwinglich. Anständige, bezahlbare Mittelklasse gibt es nicht.

*****
Einmal mehr schliesse ich meinen Blog mit: schade. Schade für dieses wunderschöne, vielfältige, kulturell und geschichtlich reiche Land.

Einige Bilder von mir:

Bald bricht es auseinander - aber die Bewohner haben
 Blick auf Kom El-Shoqafa und das Meer

in Manscheya
in Manscheya
Oper in der Fouad Strasse
Kathedrale St. Catherine
Schleiferei - der grauhaarige Mann im
Hintergrund ist der Besitzer



Kerne
Datteln und Nüsse
Haxen

Zwiebeln - mit so viel Liebe aufgestapelt!
Torschy
Hmmmmm
geräucherter Fisch
Kaktusfrüchte - gebildet, Mitte 20, arbeitslos
Kom El Shoqafa
Kom El Shoqafa
Kom El Shoqafa


Links für Interessierte:



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Danke für Ihren Kommentar. Ich freue mich über jede aktive Teilnahme an meinem Blog. Meinungsfreiheit gilt auch hier. Ich behalte mir jedoch vor, freche und beleidigende Kommentare zu löschen.