Sonntag, August 13, 2017

Nebenwirkungen vom Leben anderswo

Manch einer probiert es, denn es scheint so verlockend: ein Leben anderswo, fern der Heimat, unter der Sonne des Südens, in der Weite der Pampa, inmitten der Berge, in einer fremden Kultur, in einem anderen Sprachraum. Oder sonst wo, einfach weg von daheim.

Und viele geben wieder auf, denn es ist nicht einfach. Seien wir ehrlich: es ist saumässig schwierig, insbesondere dann, wenn man noch nicht auf ein dickes Bankkonto oder eine regelmässige Rente zurückgreifen kann. Doch allein der Versuch ist es wert: es erweitert den persönlichen Horizont und macht die eigenen Grenzen erkennbar. Das fängt aber schon beim Entscheid an, ob Mann oder Frau überhaupt innerlich bereit ist, das angestammte Revier, die Sicherheit, den gewohnten Alltag, die Freunde und lieb gewordenes zurückzulassen.

Und manche bleiben und beissen sich durch. Mit Glück, Beziehungen oder Durchhaltewillen. Was sich dabei abspielt, versuche ich hier mal zu skizzieren.

Unter der Glasglocke
Jeder Mensch trägt seine persönlichen Erfahrungen mit sich herum, sie haben ihn zu dem gemacht, was er ist: Erziehung, Kultur, Bildung und Erlebnisse waren und sind die Zutaten. Ich komme aus einem Umfeld, wo Begriffe das sind, was sie auch bedeuten (Rechtsstaat, Demokratie, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Ethik, Anstand und noch vieles mehr); zumindest habe ich das so wahrgenommen. Mit dieser Vorstellung bin ich in das Drittweltland Ägypten gekommen, einer Diktatur, in welcher die Hälfte der Bevölkerung unter oder an der Armutsgrenze versucht zu überleben, wo Polizei an jeder Ecke steht und allein das Recht des Stärkeren gilt. Der Stärkere ist jener, der die besseren Beziehungen und mehr Geld zur Verfügung hat.

Das Klima hat mich entzückt, das Neue und Exotische haben mich fasziniert. Ich sass unter der Glasglocke und was ich da durch das Glas beobachtete, war wunderbar: Das Meer, die Palmen, die Wüste, die Sprache, die Sonnenaufgänge und die liegende Mondsichel am Nachthimmel.

Diese Phase dauert eine ganze Weile, je nach dem, mit wem man zu tun hat. Wunderschön ist es, herrlich, paradiesisch quasi. Inzwischen weiss ich, dass das Paradies anders aussieht.

Der Schock
Der kommt unweigerlich, sofern Mann oder Frau nicht schon vorher verduftet ist. Stromunterbrüche nerven. Kein fliessendes Wasser auch. Besonders im Hochsommer, wenn die Temperaturen gegen vierzig Grad Celsius klettern. Es nervt, wenn ein Arbeiter kommt, um etwas zu reparieren, gleichzeitig aber neuen Schaden anrichtet. Es nervt, wenn man einkaufen will und dafür mehrere Geschäfte abklappern muss und trotzdem nicht findet, was man sucht. Es nervt die Huperei, die Raserei und die blöde Anmache von Verkäufern, Taxifahrern und Aufreissern.


Wenn man feststellt, dass man niemandem trauen kann und alle versuchen, einen auszunützen oder übers Ohr zu hauen, gibt es Momente, in denen Tränen fliessen, Verzweiflung hoch kommt und man keine Antwort auf die Frage findet, weshalb man sich all das antut.

Irgendwann steht jeder einmal vor einem Beamten und muss sich anhören, dass Papiere fehlen, dass der Antrag unvollständig ist, dass man doch morgen oder in einer Woche wiederkommen möge und dass es auch dann noch keine Garantie gibt.

Viel tiefer geht jedoch der Blick in die Wirklichkeit eines Drittweltlandes. Himmelschreiende Ungerechtigkeit macht ohnmächtig. Bittere Armut sticht mitten ins Herz. Fehlende Hygiene macht krank und lässt sinnlos leiden; sie macht Pharmahersteller, Apotheken und Ärzte reich und die Armen noch ärmer. Fehlende Bildung bringt einen zur Verzweiflung. Da, wo der Staat seine Aufgaben nicht oder nur lausig wahrnimmt, springen Private ein und verdienen sich dumm und dämlich: private Krankenhäuser, Schulen, Städte und Dienste aller Art. Es gibt zwar viele Gesetze, um deren Einhaltung kümmert sich die Obrigkeit aber nicht. So herrscht eben die Freiheit der Anarchie auf der Strasse, im Geschäftsleben, im Grossen wie im Kleinen.

Das Paradies sieht anders aus.

Klarkommen oder Aufgeben
Die Frage lautet nun: Hingucken oder Weggucken?

Auch wenn ich weggucke… all das vorher Beschriebene ist trotzdem da, es verschwindet nicht. Und wenn ich zurück in meine Heimat fliegen würde… es würde in meinem Bewusstsein fortleben. Es ist zu spät, ich kann nicht mehr zurück unter meine Glasglocke: die ist nämlich zerschellt.

Wenn ich ständig hingucke, werde ich frustriert und depressiv. Ich kann helfen – aber ich kann nicht allen und überall helfen. Unmöglich. Ich kann auch nicht die täglichen Unzulänglichkeiten hier ändern.

Bleibt nur die Möglichkeit, lernen damit umzugehen. Das braucht innere Bereitschaft. Zuhören und lesen, verstehen, Trost spenden und helfen, hier; abgrenzen, „Stopp“, „ist nicht mein Problem“ oder „morgen ist auch wieder ein Tag“ sagen, dort. Mit Freunden diskutieren und feststellen, dass da Gleichgesinnte sind.

Das innere Gleichgewicht finden und behalten ist für mich Sensibelchen eine überlebenswichtige Aufgabe, die an manchen Tagen recht anspruchsvoll sein kann. Erkennen, dass es Zeit ist, mir etwas Gutes zu tun… Musik zu hören, ins Meer hinauszusehen und dem Rauschen der Wellen zu lauschen, in der Wüste marschieren oder alle aufgestauten Emotionen beim Windsurfen hinauszubrüllen.

Leben in einem Land wie diesem hier hinterlässt tiefe Spuren und Narben in der Persönlichkeit. Man wird gezwungenermassen stark – oder wird wie eine Laus zerquetscht. Dabei gelassen zu bleiben ist die Kunst. In der Heimat mag die Familie, Freunde, der Sozial- und Rechtsstaat sowie das Vertraute stützen – in der Fremde kämpft man alleine. Das kann zutiefst erschüttern und auslaugen.

Während den letzten Monaten bin ich mir bewusst geworden, wie zuverlässig mein „Bauchgefühl“ immer war. Seit ich damit achtsamer umgehe, bergen Begegnungen mit anderen kaum mehr verschlüsselte Nachrichten. Das ist einerseits erschreckend für mich, andererseits ist es sehr beruhigend. Erschreckend, weil es kaum mehr Überraschungen gibt. Beruhigend eben deshalb.

Ich bin geduldiger geworden – aus der Erkenntnis heraus, dass ich keine andere Wahl habe! J Ich habe gelernt, dass abwarten oft mehr bringt, als meinen Kopf durchsetzen zu wollen. Eindruck macht mir auch die Erkenntnis, dass es sinnlos ist, mir über etwas Gedanken zu machen, das morgen geschieht. Vielleicht geschieht. Vielleicht eben auch nicht. Wenn es so weit ist, kann ich immer noch eine Lösung dazu finden… oder abwarten.

Dankbarkeit
Ein langer Entwicklungsprozess liegt hinter mir und ich bin noch mitten drin. Das hört ja nicht mehr auf, wenn es mal angefangen hat. Das passt mir so.

Daraus ist auch eine tiefe Dankbarkeit entstanden. Dankbar, dass ich auf der anderen Seite der Erdkugel geboren wurde. Dadurch habe ich Chancen, die Millionen von Menschen verwehrt bleiben. Ich bin gesund, kann meinen Verstand brauchen, kann mich wehren und für mich kämpfen. Ich kann mir Eskapaden wie Windsurfen und Espresso trinken leisten – während Millionen von Menschen sich abrackern, sich und ihrem Nachwuchs drei Mahlzeiten am Tag zu beschaffen. Ich bin dankbar, dass ich weder in religiösen, kulturellen noch traditionellen Einschränkungen gefangen bin, sondern recht frei denken und handeln kann.

Ich bin dankbar für die vielen, äusserst unterschiedlichen Begegnungen mit Menschen aus der ganzen Welt und für die Einblicke in ihre Welt. Ich bin dankbar, dass ich mich in mehreren Sprachen austauschen kann – während Millionen von Menschen weder lesen noch schreiben können.

Dankbar bin ich auch dafür, dass ich jederzeit hingehen kann, wovon mir träumt. Millionen von Menschen müssen da bleiben, wo sie sind: im Slum, im Elend, in Armut, ohne Aussicht, jemals davon wegzukommen.

Inneres Wachstum
Wäre ich in meinem kleinen Heimatland geblieben, dann hätte ich all dies nicht erlebt. Ich würde noch immer unter meiner Glasglocke sitzen und trotz innerer Unruhe meinen, dass das die Wirklichkeit ist. In Wahrheit ist das Paradies eine Momentaufnahme einer Illusion. Die Wirklichkeit findet woanders statt.

Meine Erfahrungen haben Spuren und Narben hinterlassen. Ich bin nicht mehr dieselbe, die damals mit einem Koffer, einer Reisetasche und einem Rennrad in Hurghada angekommen ist. Und das ist gut so, auch wenn der Preis dafür hoch war. Meine innere und äussere Welt ist unendlich gross und reich geworden.



1 Kommentar:

  1. Man kann mit ein wenig Geld auf dem Konto hier sehr gut von den Zinsen leben und seien es nur 20K Euro. Es empfiehlt sich mit wenigstens diesem Kleingeld hier zu landen, denn dann bekommt man bei zur Zeit etwa 10 Prozent Zinsen in etwa das Geld das man hier durchschnittlich braucht. Hat man mehr davon zurückgelegt wird es immer bequemer mit dem Leben im Süden. Freilich hilft unsere Bildung dabei sich auch ohne minimalen Background durchzuschlagen. Ich würde aber jedem empfehlen erst dieses Minimum anzusparen bevor man auswandert. Dann kann man hier den ganzen Tag Espresso trinken und surfen. In vielen Ländern der Welt sind die Lebenshaltungskosten viel niedriger als in der EU.

    AntwortenLöschen

Danke für Ihren Kommentar. Ich freue mich über jede aktive Teilnahme an meinem Blog. Meinungsfreiheit gilt auch hier. Ich behalte mir jedoch vor, freche und beleidigende Kommentare zu löschen.